Neue Kentler-Studie: Senatorin Scheeres und Universität Hildesheim stellen Abschlussbericht vor

Pressemitteilung vom 15.06.2020

Sandra Scheeres, Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, und das Wissenschaftsteam der Universität Hildesheim – Prof. Dr. Meike Baader, Prof. Dr. Wolfgang Schröer, Dr. Julia Schröder sowie Dr. Carolin Oppermann – haben heute den Abschlussbericht der Universität Hildesheim zum Wirken von Helmut Kentler in der Berliner öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe vorgestellt. Hintergrund sind Kentlers Initiativen zur Einrichtung von Pflegestellen bei pädophilen, auch wegen Sexualdelikten vorbestraften Männern ab Ende der 1960er bis zu Beginn der 2000er Jahre.

Bei der Studie handelt es sich nach dem Gutachten des Göttinger Instituts für Demokratieforschung von 2016 um das zweite Forschungsprojekt zum Fall Kentler, das von Senatorin Sandra Scheeres initiiert und von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie finanziell gefördert wurde. In der Hildesheimer Studie konnten erstmals auch Aussagen und Erfahrungen von insgesamt drei Betroffenen berücksichtigt werden, die als Kinder und Jugendliche Übergriffe und massive sexualisierte Gewalt durch Pflegeväter erleiden mussten.

Sandra Scheeres, Senatorin für Bildung, Jugend und Familie: „Der Kentler-Skandal reicht lange in die Vergangenheit zurück und ist für die Betroffenen doch nie vorbei. Was Kindern und Jugendlichen damals angetan wurde, ist zutiefst erschütternd. Mein besonderer Dank gilt den Betroffenen, die sich an der Aufarbeitung beteiligt haben. Der neue Ergebnisbericht liefert ein klareres und umfassenderes Bild von den Vorgängen. Er fördert neue Erkenntnisse zu Kentlers Rolle, zu den Strukturen und Verfahren der damaligen Zeit und zu den Verantwortlichkeiten zutage. Er entlarvt Kentlers Rede von einem Experiment der Erziehungs- und Bildungsreform als beschönigende Darstellung des sexuellen Missbrauchs von Pflegekindern.“

Senatorin Scheeres betont: „ Als Land Berlin übernehmen wir Verantwortung für das Leid, das Schutzbefohlenen in öffentlicher Verantwortung angetan wurde. Mit dem neuen Wissen haben wir den Betroffenen Gespräche über eine finanzielle Anerkennung ihres Leids angeboten. Das Land Berlin wird sich für die weitere Aufarbeitung einsetzen, insbesondere mit Blick auf die deutlichen Hinweise auf bundesweite Zusammenhänge. Darüber hinaus prüfen wir, welche Lehren für die heutige Pflegekinderhilfe in Berlin zu ziehen sind. Hierfür wurde bereits eine Studie zur aktuellen bezirklichen und gesamtstädtischen Struktur der Pflegekinderhilfe beauftragt.“

Das Forschungsprojekt der Universität Hildesheim wurde von März 2019 bis Mitte Juni 2020 durchgeführt. Grundlage war ein wissenschaftliches Aufarbeitungskonzept, das von dem Projektteam der Institute für Sozial- und Organisationspädagogik sowie Erziehungswissenschaft der Universität Hildesheim in 2018 erarbeitet wurde. Die unabhängige Studie stellt den zeitgeschichtlichen Kontext her, analysiert organisationale Strukturen und rechtliche Rahmenbedingungen. Das Projektteam hat Interviews mit Betroffenen und Zeitzeugen geführt, Aktenanalysen durchgeführt sowie Dokumente und Schriften aus rund vier Jahrzehnten Pflegekinderhilfe in Berlin systematisiert und ausgewertet.

Der Abschlussbericht zeigt, dass Kentler auf verschiedenen Ebenen – auf der Ebene der Senatsverwaltung wie auf der Ebene der Bezirksämter – agiert, eingegriffen und gesteuert hat. Kentler war von 1966 bis 1974 Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum Berlin, einer nachgeordneten Dienststelle der Senatsbildungsverwaltung, und später Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hannover. Er trat als Gutachter auf und genoss bis zu seinem Tod in 2008 eine hohe Reputation in Fachkreisen.

Das Wissenschaftsteam hat die Akte der Pflegestelle ausgewertet, in der zwei Betroffene vom Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre bis Anfang 2000 untergebracht waren und die insgesamt 30 Jahre lang bestand. Aus ihr geht hervor, dass Helmut Kentler maßgeblich Einfluss auf Entscheidungen des Jugendamts ausübte und dabei seine Reputation nutzte.

Kentler hat selbst über ein angeblich reformorientiertes Experiment geschrieben, das im gegenseitigen Interesse von Jugendlichen und Pflegevätern sei. Diese Darstellung ist offenbar bewusst irreführend. Wie der Bericht zeigt, sind Kentlers Initiativen nicht als reformorientierte Ansätze der 1970er Jahre für Straßenjugendliche zu sehen. Es handelt sich stattdessen um Kindesmissbrauch und Kindeswohlgefährdung in der öffentlichen Verantwortung der Jugendwohlfahrt respektive der Kinder- und Jugendhilfe, wie das Wissenschaftsteam betont.

Anders als heute wurden zu Kentlers Zeiten Pflegestellen auch in direkter Zuständigkeit des Landesjugendamts und damit der Senatsverwaltung geführt. Laut Bericht wurden ab den 1970er Jahren durch das Landesjugendamt und die Bezirksjugendämter Pflegestellen in Westdeutschland bei alleinstehenden Männern eingerichtet, die pädophile Positionen akzeptiert, gestützt oder auch praktiziert haben. Im Zuge der Aufarbeitung hat sich ein weiterer Betroffener bei der Universität Hildesheim gemeldet, der als Jugendlicher in einer dieser Pflegestellen untergebracht war und von Grenzverletzungen und Übergriffen berichtet.

Aufgrund der Schilderungen dieses Betroffenen, aus Zeitzeugengesprächen und aus den Akten geht das Wissenschaftsteam davon aus, dass es ein Netzwerk in den wissenschaftlichen pädagogischen Einrichtungen seit den späten 1960er Jahren in der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung und in einzelnen Berliner Bezirksjugendämtern gab, in dem pädophile Positionen akzeptiert und verteidigt wurden. Personen aus diesem Kreis nutzten ihren Einfluss, um Kinder bei pädophilen Männern in Pflegestellen, in Einrichtungen der Jugendhilfe oder in Internaten in Westdeutschland unterzubringen. Einige Akteure in diesem Netzwerk genossen wie Kentler aufgrund ihrer beruflichen Position hohes Ansehen. Aus Sicht der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie besteht im Zusammenhang mit diesem mutmaßlichen Netzwerk und den bundesweiten Bezügen ein weiterer Aufklärungs- und Forschungsbedarf.

Die Abschlussbericht der Studie ist veröffentlicht unter: www.dx.doi.org/10.18442/129/