Aus Galánta deportiert nach Auschwitz

Deportation der Bewohner des Ghettos Körmend (Ungarn) nach Auschwitz-Birkenau

Deportation der Bewohner des Ghettos Körmend (Ungarn) nach Auschwitz-Birkenau

von Ursula A. Kolbe

„Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand.“ – Worte von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Jerusalem beim World Holocaust Forum aus Anlass des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Und nannte Attacken auf Juden in Deutschland und den versuchten Terroranschlag auf eine Synagoge in Halle als jüngste Beispiele. Doch unsere Zeit sei nicht dieselbe Zeit, dieselben Worte, dieselben Täter, aber dasselbe Böse.

Frank-Walter Steinmeier bekannte in Yad Vashem, dass er wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt.“ Umso wichtiger ist heute – ein Dreivierteljahrhundert nach dem industriellen Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden – die Geschichte, die Erinnerung an den Holocaust für die Nachwelt wachzuhalten. Das sind Dokumente und Akten, viel wichtiger aber noch Quellen von Opfern, die über ihr Leben erzählen.

Sheindi Ehrenwalds bewegende Erinnerungen

Im Deutschen Historischen Museum Berlin ist jetzt in Kooperation mit BILD die Ausstellung „Deportiert nach Auschwitz – Sheindi Ehrenwalds Aufzeichnungen“ zu sehen, in der erstmals dieses sehr persönliche Zeugnis von Verfolgung, Deportation und Vernichtung der ungarischen Juden zu sehen ist. Die 54 Seiten ihres Tagebuches können sie retten. Es ist ein weltexklusives Dokument, das jetzt zum ersten Mal gezeigt wird.

Als deutsche Truppen am 19. März 1944 Ungarn besetzten, begann für die jüdische Bevölkerung der Holocaust. Die damals 14jährige Sheindi aus der Kleinstadt Galánta schrieb vom Tag der Besetzung an auf, wie sie Ausgrenzung, Entrechtung und Ghettoisierung erlebte, was sie dachte und fühlte. Sie schrieb noch während der Deportation im Güterwagen eines „Sonderzuges“, mit dem sie und ihre ganze Familie im Juni 1944 nach Auschwitz-Birkenau kam.

Dort ermordete die SS ihre Großeltern, Eltern und Geschwister. Sie und eine ihrer Schwestern blieben am Leben und wurden zur Zwangsarbeit in ein Werk des Rüstungskonzerns Karl Diehl verschleppt. Sheindi überlebte und konnte ihre Aufzeichnungen auf den Rückseiten von Karteikarten des Rüstungsbetriebs retten. Anschaulich beschreibt die Ausstellung anhand von Artefakten und Dokumenten, wie radikal und rapide diese massenhafte Deportation, Ausbeutung und Ermordung der ungarischen Jüdinnen und Juden bis zum Sommer 1944 geplant, organisiert und vollzogen wurde und benennt Täter, die daran mitwirkten. Das wichtigste Element aber ist Sheidis Schicksal, das in ihren Aufzeichnungen greifbar wird.

Aus den Tagebuch – Notizen

Sheindi Ehrenwald wurde 1928 in der Kleinstadt Galánta geboren, in der ein Drittel der 4.000 Einwohner jüdisch war. Als die Deutschen Ungarn im März 1944 besetzten, begann sie, ein Tagebuch zu schreiben. Die letzten Worte notierte Sheidi drei Monate später im Juni 1944 auf einem Zettel, den sie aus dem Tagebuch herausgerissen hatte und in ihrer Baracke in Auschwitz-Birkenau versteckte.

Bei einer Selektion zur Zwangsarbeit bestimmt, wurde sie in einen Rüstungsbetrieb nach Niederschlesien deportiert. Die Blätter – nur noch zerknüllte Papierklumpen – nahm sie mit sich. In dem Betrieb wurden Arbeiten auf Karteikarten dokumentiert. Sheindi schrieb darauf ab Dezember 1944 die stark zerstörten Seiten ihres Tagebuchs abends heimlich ab. Es gelang ihr, diese Aufzeichnungen bis zu ihrer Befreiung im Mai 1945 zu verstecken. Die 14jährige hatte sich auch Notizen über die Bedrohung durch die Wehrmacht in Ungarn gemacht, über antisemitische Kräfte in Machtpositionen ihres Landes, die auf die gewaltsame Vertreibung der Jüdinnen und Juden drängten und beschreibt deren bedrohliche Lage.

Auch dieses Wissen muss erhalten bleiben, dass innerhalb von drei Monaten im Frühsommer 1944 etwa 437.000 ungarische Jüdinnen und Juden nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Sheidi Ehrenwald gehörte zu den wenigen Menschen, die nicht sofort nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet wurden. Insgesamt starben hier rund eine Million Menschen aus ganz Europa.

Für die Tötung Hunderttausender Menschen arbeitete das NS-Regime mit privaten Firmen zusammen. Deren Sachkenntnis floss ein in die technische Umsetzung des Massenmords in Gaskammern und der daran anschließenden Verbrennung der Leichen.

Die deutsche Wirtschaft meldete 1943 einen Bedarf von über 2,5 Millionen neuen Arbeitskräften, erhielt aber kaum eine Million. Die Rüstungsindustrie als größter Wirtschaftszweig stand damit weiter unter sehr großem Druck und forderte beim SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt verstärkt Häftlinge für die Produktion an, auch aus Auschwitz-Birkenau.

Verstärkte Bombenangriffe der Alliierten zwangen viele Betriebe zur Verlagerung in den Osten Deutschlands. In Niederschlesien wurden große Produktionsstätten errichtet, und auch die Nürnberger Firma Karl Diehl stellte nun in der Kleinstadt Peterswaldau Rüstungsgüter her. Ab Sommer 1944 beschäftigte das Unternehmen hier jüdische Häftlinge. Eine von ihnen war Sheindi Ehrenwald.

Neues Leben

Für Millionen ehemaliger Häftlinge der Lager und Zuchthäuser begann am 8. Mai 1945 mit dem Ende des Zweiten Krieges in Europa ein neues Leben. Als „Displaced Persons“ versuchten sie, durch das Chaos des zerstörten Europas zurück in ihre Heimatländer zu gelangen. Rund 122.000 ungarische Jüdinnen und Juden überlebten den Holocaust. Die meisten, die in ihre Heimatorte zurückkehrten, erlebten dort jedoch erneut antisemitische Ablehnung.

Der im Mai 1948 gegründete Staat Israel wurde für Hunderttausende Jüdinnen und Juden eine neue Heimat. Bis 1551 reisten fast 700.000 Menschen in Israel ein. 1949 kam auch Sheidi Ehrenwald nach Jerusalem und gründete dort mit ihrem Mann Emil Müller eine Familie.

Erleben Sie diese Dauerausstellung im Deutschen Historischen Museum selbst. Wie sagte Frank-Walter Steinmeier in Yad Vashem: „Unsere Zeit ist nicht dieselbe Zeit. … Aber es ist dasselbe Böse. Und es bleibt die eine Antwort: Nie wieder.“ Es dürfe keinen Schlussstrich unter das Erinnern geben.

Öffnungszeiten: Täglich 10 bis 18 Uhr; Eintritt bis 18 Jahre frei, Tagesticket 8 Euro, ermäßigt 4 Euro