Max

Der Bauer mit seinem Zugpferd vor einem Wagen auf dem Kartoffelacker

von Rudolf Winterfeldt

Wir schrieben das Jahr 1960. August saß in der Küche seiner Tochter und hielt den Zaum von Max in seinen Händen. Seine Augen waren Feucht und es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis eine Träne kullern würde. Es war der Anblick eines traurigen und völlig gebrochenen Mannes, der dort auf dem Stuhl saß. Seine Tochter störte ihn nicht in seinen Gedanken und reichte ihm einen starken Kaffee.

60 Jahre war er nun alt und hätte nicht gedacht, dass er so einen Tag erleben würde. Schon in frühester Jugend war er als Knecht bei einem ostpreußischen Großbauern in Stellung gegangen. Da er sehr tierlieb war, konnte er am besten mit Pferden umgehen. Diese Tiere sind sehr stark auf den Menschen geprägt, sind anhänglich und meistens sehr friedlich. Tag für Tag hatte er die Zügel in den Händen, sowohl beim Ackern, als auch mit dem Fuhrwerk. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend war er mit ihnen zusammen. Füttern, tränken, striegeln und für die Arbeit einspannen, das waren die täglichen Handgriffe.

Als Deutschland 1939 den Zweiten Weltkrieg begann, wurde auch August Soldat. Seinem bisherigen Umgang mit Pferden war es zu verdanken, dass man ihn in eine Transporteinheit eingliederte und er mit einem Pferdefuhrwerk Munition, Verpflegung und andere Güter im Nachschub beförderte. Er hatte dabei etwas Glück, er war nicht unmittelbar im Fronteinsatz. Trotzdem war er immer voller Sorge um sein Leben und das seiner Tiere, die ihm anvertraut waren. Die Schrecken und Grausamkeiten des Krieges hatte er recht gut überstanden und auch die anschließende, relativ kurze Gefangenschaft.

Nach Kriegsende fand August in Mecklenburg eine neue Heimat. Ostpreußen gehörte jetzt Polen. Seine Familie wurde aus Ostpreußen von den Polen vertrieben und er wusste nicht, wo sie sich aufhielten. Bei den Bauern hier fand er keine Arbeit als Knecht. Sie wirtschafteten nur in Familie. Fremde Arbeitskräfte wollte jetzt keiner haben. So suchte er sich Arbeit in der 20 km entfernten Stadt Schwerin. Die Strecke bewältigte er jeden Morgen und Abend zu Fuß, was im Winter kein Zuckerlecken war. Seine Familie fand er über eine Verwandte in Berlin und holte sie zu sich nach Settin in Mecklenburg.

In einem ehemaligen Gutshaus fanden sie ein neues Heim. Frau und zwei Kinder waren nun zu ernähren und die Arbeit brachte nicht viel ein. War er doch sein Leben lang mit Pferden umgegangen, wie sollte jetzt ein Industriearbeiter aus ihm werden. Die Bodenreform gab ihm die Möglichkeit, wieder das zu machen, was er gut konnte. Sein Antrag auf Bodenreformland wurde genehmigt und so konnte er bald acht Hektar Land und ein Grundstück sein eigen nennen. Ein Wohnhaus und ein Stall wurden mit Hilfe eines staatlichen Kredites errichtet.

Im Stall standen bald drei Kühe und ein paar Schweine, und auf dem Hof lief etliches Federvieh herum. Es war schon etwas anderes, so für sich selbst zu arbeiten und die Früchte in die eigene Scheune zu fahren. Natürlich war auch das Abgabesoll eine Bürde, trotzdem blieb genug für die eigene Familie. Ein Pferd aber war nun unbedingt erforderlich. Immer wieder musste er sich ein Gespann ausleihen, um seinen Acker zu bearbeiten. Er konnte sich endlich einen Wallach kaufen und in den Stall stellen und er nannte ihn Max.

Max war ein außerordentliches Arbeitstier. Die Gerüche rossiger Stuten interessierten ihn nicht mehr. Ruhig und stark zog er jede zumutbare Last. Ein prächtiges Pferd für die Landwirtschaft. August und sein Max waren unzertrennlich, verbrachten sie ja auch gemeinsam jeden Tag bei der Arbeit. So vergingen die Jahre und beide wurden älter. Der Winter 1959 zu 1960 war recht streng und zum Frühjahr wurde das Futter knapp.

Im Dorf waren die meisten Neu- und Mittelbauern schon in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) vom Typ III eingetreten. Sie hatten kein Vieh mehr in ihren eigenen Ställen, sondern dieses in Gemeinschaftsställen untergebracht. So war auch ein Futterausleihen nicht mehr möglich oder doch sehr kompliziert. Es gab große Sorgen um das Vieh und auch viele Tränen bei seiner Frau. Es blieb nur der Ausweg, in die LPG einzutreten und damit das Vieh vor dem Verhungern zu retten. Aber der Schritt war nicht leicht. War er doch immer Knecht und Bauer gewesen und mit seinen Tieren eng verbunden. Wie sollte es denn in Zukunft werden?

Das Brüllen der Kühe vor Hunger tat ihm in der Seele weh und so wurde der Entschluss gefasst, wir werden LPG-Mitglied. Das bedeutete, dass alle Tiere und landwirtschaftliches Gerät sowie das Ackerland in die LPG eingebracht werden müssen. Der Acker aber blieb Eigentum des Einbringers und er erhielt dafür Geld in Form eines „Bodenanteils“. Federvieh und Schweine für den Eigenbedarf blieben in seinem Stall. Den Max aber konnte man in der LPG nicht gebrauchen. Jetzt wurde der Acker gemeinschaftlich mit Maschinen der Maschinen-Traktoren-Station (MTS) bearbeitet. Nur jüngere Pferde behielt man für anfallende Transporte.

Schwere Tage kamen auf August zu. Die Kühe hatte er selbst aus Kälbern groß gezogen. Jetzt trieb er sie in einen fremden Stall. Das Herz blutete ihm bei jedem Schritt. Aber dann dachte er wieder an das fehlende Futter und der Gang wurde etwas leichter. Nur der Max stand noch in seiner Box und wurde nun nicht mehr gebraucht. Wie so viele andere Pferde in dieser Zeit, blieb nur noch ein Weg, zum Pferdeschlachter. So zäumte er also den Max auf, nahm die Zügel und ging mit ihm zu Fuß den letzten Weg seines Pferdelebens.

Das war also das Ende des selbstständigen Bauern. Nun musste er bis zur Rente wieder zur Lohnarbeit gehen.
August saß noch immer bei seiner Tochter in der Küche. Er raffte sich auf, seine Tochter sprach ihm Trost zu. Er trank seinen Kaffee aus, brannte sich eine Zigarette an, nahm den Zaum und begab sich auf den Heimweg. Schwer waren seine Schritte und man konnte sehen, dass dieser Tag tief in seinem Gedächtnis eingegraben war.