Über den Glocken …

Die Wenzeslaikirche in Wurzen

von Wolfgang Prietsch

…im Turm der Stadtkirche St. Wenzeslai in der alten sächsischen Stadt Wurzen liegt in einer Höhe von 28,5 m bzw. 32 m die Türmerwohnung.
Über 150 Stufen musst du geh´n…

Am 11. Juli 2000 haben wir im Rahmen unserer mehrjährigen Recherche-Reisen zur Familiengeschichte auf – was den Abstieg betrifft – abenteuerliche Weise den 52m hohen Turm der Wenzeslai-Kirche bestiegen. Es war ein Tag in der Woche, eigentlich kein Turmbesichtigungstag. Wir baten den Pfarrer, mit uns gemeinsam zur immer noch erhaltenen Türmerwohnung hinauf zu steigen, was er auch tat.

Unten, im in Renovierung befindlichen Kirchenschiff, schaltete er den Elektro-Hauptschalter und während der Treppenbesteigung nacheinander die jeweilige Etagenbeleuchtung an. Zunächst ging es über die steinerne Wendeltreppe, dann auf einem Holzpodest über das Deckengewölbe, dann wieder auf Holztreppen unter niedrigen Balken hindurch an den drei Glocken vorbei (wehe, wenn sie beim Vorbeigehen zu läuten beginnen!), schließlich durch eine Luke in die Türmerstube.

Reichlich 150 Stufen lagen hinter uns. Hier lebte und arbeitete von 1843 bis zu seinem Tode 7.11.1867 der Türmer und Instrumentenmacher Friedrich August Meinel(* 2.4.1800) mit seiner Frau Friederike Therese(+ 6.9.1862), später mit der 2. Frau Johanna Friederike und 5 von insgesamt 10 Kindern. Warum fährt ein Berliner Ehepaar nach Wurzen und besteigt den Turm der Stadtkirche?

Diese Reise war eine RÜCKKEHR IN DIE FAMILIENVERGANGENHEIT, war doch jener Friedrich August Meinel der Autorin dieses Beitrages Ur-Ur-Ur-Großvater, also der (genealogisch korrekt)Alt-Großvater, von dem die Berliner Großmutter viel erzählt hatte.

Türmers wohnten in zwei ganz kleinen, übereinander liegenden Turmräumen in 28,5 m bzw. in 32 m Höhe. Zu den Pflichten gehörte das Besorgen des Morgen- und Abendläutens, das Flaggen nach Anordnung, das Anschlagen der vollen Stunden (früher sogar der halben und Viertelstunden) sowie der Ausblick nach Feuer alle Viertelstunden Tag und Nacht. Dazu musste die ganze Familie eingespannt werden, allerdings schliefen dann auch immer einige.

Über Friedrich August Meinel gibt es eine Fülle von Geschichten. So z. B. über die „verwegene Lina (3. Tochter, 4. Kind Maria Pauline, * 24.10.1832), die sich öfter im eigentlich zum Hochziehen von Kohlen verwendeten Korb außen am Turm befördern lies, wenn es höchste Zeit zum Schulgang war, bis Wurzens Bürgermeister einmal dazu kam und dies streng verbot.

Mit seinen Töchtern hatte Friedrich August manche „Hudelei“ (sächs. Ausdruck für Ärger/Sorgen) und wurde vom Rat der Stadt Wurzen, bei dem er angestellt war, wegen des „liederlichen Lebenswandels“ zweier seiner Töchter verwarnt (sie waren lediglich abends ohne männliche Begleitung unterwegs). Auch findet man im Findbuch der Stadt Wurzen und in den er Aktenbeständen Wurzen des Sächs.

Staatsarchivs Leipzig viele Originalien über deutlich von Neid geprägte Anschuldigungen wegen angeblicher Versäumnisse des Türmers bei der Feuerwache. Sehr aufschlussreich ist ein handgeschriebenes Gesuch des Meinels um Erhöhung der Besoldung vom 18.3.1850. Darin erläutert er dem geehrten Stadtverordnetenkollegio, dass er jährlich 150 Thaler, davon 147 Thaler aus der Stadtkasse, 3 Thaler aus der Kirchenkasse erhält und davon drei Personen stets dienstbereit halten muss, so dass er auf eine Besoldung von 12 Neugroschen täglich kommt.

Ohne nun die Kosten der Medizin und des Arztes zu berechnen, ebenso des Mehraufwandes an Kleidungsstücken, welche hier oben mehr gebraucht werden, wie an jedem anderen Ort, gleichzeitig des Mehrbedarfs an Essen und Trinken, denn während der Nachtwache wird dergleichen mehr gebraucht, ergibt sich nun für meine Familie ein jährliches Einkommen von 62 Reichsthalern.

Das dies nicht hinreichend ist, eine zahlreiche Familie wie die meine zu ernähren, ergibt sich von selbst, denn rechnet man obige 62 Reichsthaler auf mich und meine Familie, so ergibt sich für jedes Mitglied 2 ½ Silbergroschen täglich, während jeder Rathsarbeiter 5 Silbergroschen erhält und bloß täglich gewisse Stunden zu arbeiten hat.

Obwohl der Rathsmann Ulrich sich für seine Gehaltserhöhung eingesetzt hat, wurde der Antrag Meinels am 6.4.1850 abgelehnt. Friedrich Wilhelm Meinel kam zur Ableistung des Wehrdienstes aus seiner Heimat Klingenthal im Vogtland nach Wurzen, er stammte aus einer bekannten, über Generationen als Geigenbauer tätigen, bis 1565 zurück nachweisbare Familie.

Man kann sich vorstellen, dass er zu Fuß von Klingenthal nach Wurzen gelaufen ist (ca. 130 km), um sich dem königlich sächsischen Militärdienst zu stellen: Eisenbahn gab es um 1820 noch nicht, Postkutsche dürfte für ihn zu teuer gewesen sein. Er diente lt. noch im Sächs. Staatsarchiv vorhandenen Musterungsrollen in der 3ten Compagnie des Königl. Sächs. 3. Jägerbataillon, und brachte es bis zum Unteroffizier.

In der Taufbucheintragung vom 25.9.1827 für den ersten noch unehelichen Sohn wird er schon als verabschiedeter Unteroffizier benannt. Was er von 1827 bis zum 1843 gemacht hat (da war er schon als Türmer-Adjunkt tätig), ist nicht bekannt. Wohl aber, dass er als Geigenbauer Bedeutendes gekonnt hat. So wollte ein Wurzener Musiker 1936 eine von Meinel gefertigte Geige „nicht für 1000 Mark hergeben“. Vielleicht hat Meinel auch in der Türmerzeit noch Geigen gebaut (zur Aufbesserung seines kleinen Türmergehaltes), wofür einige Archivalien sprechen.

Der Turmabstieg
Nachdem wir die Türmerstübchen (noch heute möbliert, aber nicht mit den Original-Möbeln) ausführlich besichtigt und fotografiert hatten, begannen wir mit dem nun abenteuerlichen Abstieg: Der Pfarrer hatte wenig Zeit,, sagte, wir sollen uns in Ruhe alles ansehen, gab uns den Kirchenschlüssel (er hatte vorher die Kirche von innen abgeschlossen). Als wir alles einschließlich der wunderbaren Ausblicke aus den Turmfenstern in alle vier Richtungen absolviert hatten, stellten wir bei Abstiegsbeginn fest, dass das Licht im Turm nicht funktionierte.

Der Pfarrer hatte versehentlich und in Gewohnheit nach seinem Abstieg den Hauptschalter abgeschaltet. Unser Abstieg bei völliger Dunkelheit in ganz unbekannter Örtlichkeit, über unregelmäßige Stufen, über nur tastbare Holzemporen, über die Stirnseite des Kirchengewölbes, bei Angst, dass die Glocken zu läuten beginnen, bei Angst vor einem Unfall in der von außen verschlossenen Kirche: Ein Horrortrip! Wir waren schweißnass! Aber wir haben diesen Rückblick in die Familiengeschichte nicht bereut!