Louis Braille’s Blindenschrift lebt weiter und 6 Punkte verändern die Welt

Mit den Fingern wird die Blindenschrift ertastet

von Ursula A. Kolbe

Unter dem Stichwort Erfinder der Blindenschrift ist Louis Braille in die Geschichte eingegangen. Wer war er? Geboren 1809 in Coupvray, einem kleinen Dorf bei Paris, spielte gern in der Werkstatt seines Vaters, einem Sattler. Als der damals Dreijährige versuchte, mit einer Ahle ein Stückchen Leder auszustanzen, verletzte er sich aber mit dem spitzen Werkzeug am rechten Auge. Es entzündete sich, infizierte auch das linke. Im Alter von fünf Jahren erblindete er. Louis‘ Glück im Unglück war wohl, dass seine Eltern alles in Bewegung setzten, ihrem Sohn den Schulbesuch zu ermöglichen. Was im 18. Jahrhundert durchaus nicht üblich war. Doch der Vater wurde erfindungsreich. Er schlug Nägel in Form von Buchstaben in ein Brett und führte die Hand seines Sohnes über die Nägel.

In der Schule war er dann trotz seiner Blindheit Klassenbester und kam 1819 schließlich in Paris auf eine der weltweit ersten Blindenschulen, wo größtenteils gesprochene Lektionen vorherrschten. Schon mit 12 Jahren begann Louis, eine Blindenschrift zu entwickeln. Entscheidend war dabei die Bekanntschaft mit dem Hauptmann Charles Barbier. Dieser hatte für seine Soldaten eine Schrift erdacht, die auch nachts zu lesen war. Aber sie war sehr schwer zu entziffern. Der junge Tüftler ließ sich nicht entmutigen. Als 16jähriger hatte er dann eine Schrift entwickelt, die aus 6 Punkten besteht. Damit kann man das gesamte Alphabet mit seinen 26 Buchstaben darstellen. Die Muster werden in Papier gedrückt und können mit den Fingerspitzen ertastet und mit etwas Übung, flüssig gelesen werden.

Der Direktor des Blindeninstituts war begeistert, und so lernten auch Louis Mitschüler die von ihm entwickelte Blindenschrift. Obwohl sie leicht zu lernen und zu schreiben war, dauerte es jedoch noch viele Jahre, bis sie sich durchsetzte. Erst 1850 wurde die Brailleschrift offiziell an französischen Blindenschulen eingeführt.

Hier noch ein kurzer Einschub. Der französische Philosoph Denis Diderot (1713 – 1784) setzte sich in einer Zeit, in der in Europa noch die Auffassung dominierte, dass Blinde bildungsunfähig seien, mit der Erfindungswelt blinder Menschen auseinander. Daraus verfasste er 1749 die Schrift „Lettre sur les avenglesà ensage de coux qui voient“ (Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden).
Es mussten aber weitere fast 40 Jahre vergehen, bis sich die Pariser Königliche Akademie der Wissenschaften dazu durchringt, Schulunterricht für Blinde zu empfehlen. 1784 gründete der Sprachwissenschaftler und Dolmetscher Valentin Haüy in Paris die erste Blindenschule der Welt, die „Institution Royale des Jennes Avengles“. Kritiker bringt Hanüy mit öffentlichen Leistungsbeweisen seiner Schützlinge schnell zum Schweigen.

In Deutschland gab der Blindenlehrerkongress 1879 der hubbeligen Braille-Schrift seinen Segen. In den USA wird sie 1917 zugelassen. Neben der Blindenschrift erfand der junge Franzose auch eine auf 6 Punkte basierende Musik-Notenschrift. Sie setzte sich damals schneller durch und wird auch heute noch – inzwischen international standardisiert – von blinden Menschen genutzt.
Louis Braille erlebte den internationalen Siegeszug seiner Erfindung allerdings nicht mehr. Er starb 1852 in Paris an Tuberculose. Anlässlich seines 100. Geburtstages wurde der Körper exhumiert und ins Pariser Panthéon überführt. Die Überreste seiner Hände blieben jedoch in seinem Grab im Heimatort Coupvray, weil sie zu dessen Lebzeiten so bedeutend für die Erfindung der Blindenschrift waren.

Auch im Zeitalter der elektronischen Medien unverzichtbar

Martin Jung, ein Experte im Zentrum zur Unterstützung blinder und sehbehinderter Studierender in Gießen (BLiZ) formulierte einmal treffend: „Die gesprochene Sprache ist flüchtig, bei dem gefühlten Lesen bleibt mehr haften. Die Braillezeile bleibt auf Wunsch stehen, man kann innehalten und man kann mit ihr gezielter navigieren.“ Oberhalb der Zeichen sind nämlich Tasten angebracht, mit denen Blinde z. B. einen Link anklicken können.

Um das moderne Medium zuverlässig nutzen zu können, musste das von Braille erdachte System allerdings erweitert werden. Die 6 Punkte mit ihren 64 Kombinationsmöglichkeiten reichen nicht für alle am Computer verwendeten Zeichen aus. Daher ist eine vierte Zeile mit zwei weiteren Punkten hinzugekommen. Die Standardzeichen blieben weitgehend unverändert.

An Ideen, wie sich moderne Technik immer besser mit Braille kombinieren lässt, mangelt es nicht. So hat Samsung ein Handy entwickelt, bei dem man Kurznachrichten in Braille eintippen und auslesen kann. Und es gibt längst viel viel Neues. Aber das soll nicht Anliegen dieses Beitrages sein, sondern Fachschriften überlassen bleiben. Nur noch so viel: Eine blinde Erzieherin, die in einer Kita mit sehenden Kindern arbeitet, benutzt bis heute eine Blindenschriftmaschine, um sich für bestimmte Situationen Notizen zu machen. Und sagte einmal, aber „ohne Braille wäre ich nur ein halber Mensch“.

Das Deutsche Blindenmuseum in Berlin

1891 hat Karl Wulff, der Direktor der Königlich-Preußischen Blindenanstalt in Berlin-Steglitz, das Deutsche Blindenmuseum in Berlin, das die historische Entwicklung des Blindenwesenseindrucksvoll wiederspiegelt, eingeweiht. Es vermittelt blinden, aber auch sehenden Menschen vielleicht noch viel mehr Eindrücke, vor allem durch seine Exponate, die angefasst, also „begriffen“, werden können.
So z. B. das erste Lesebuch für Blinde von 1873, eine Schreibtafel für Schwarzschrift mit Zeilenlineal, eine Punktschrift-Schreibmaschine, die Oskar Picht um 1900 erfunden hat, auch eine „Harry-Potter-Ausgabe in Brailleschrift.

Gezeigt wird ein Taschenrechner in Braille von 1980, ein Laptop mit Braille-Zeile von 1997, ebenso ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel und …aber lesen Sie mehr dazu im Beitrag der „Magazin-Spätlese-Autorin“ Waltraud Käß unter dem Titel „Ein Besuch im Blindenmuseum in Berlin“ wie auch den Beitrag aus ihrer Feder „Der graue Fleck“ in der „Spätlese“- Ausgabe Juli/August 2012.