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Weiter Schreiben - Schreiben und Gelesenwerden gehört zusammen

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Auf dem Poduium (v.li): Annika Reich, Lina Atfah, Ahmed Katlesch, Ulla Lenze, Omar Al-Jaffal, Kristine Bilkau
Als Schriftstellerin oder Schriftsteller in der anderssprachigen Fremde zu publizieren, ist schwer. Sich dort eine Existenz aufzubauen, noch schwerer. So kann es passieren, dass sich ausgezeichnete und preisgekrönte Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach ihrer Flucht in einem deutschen Jobcenter wiederfinden, mit der Frage konfrontiert: „Was können Sie denn?“ Die Initiative weiterschreiben.jetzt zeigt Alternativen auf und vernetzt Autorinnen und Autoren aus Kriegs- und Krisengebieten mit deutschsprachigen Kolleginnen und Kollegen.

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Im Literarischen Colloquium Berlin wird Literatur über Sprachgrenzen hinweg vermittelt
Preisgekrönte Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus unterschiedlichen Kulturen
Sechs Schriftstellerinnen und Schriftsteller sitzen an diesem Abend auf dem Podium im Literarischen Colloquium Berlin-Wannsee. Neben Annika Reich (aktuelle Werke: „Die Nächte auf ihrer Seite“, „34 Meter über dem Meer“) zwei weitere namhafte deutsche Autorinnen: Kristine Bilkau („Die Glücklichen“, „Eine Liebe, in Gedanken“) und Ulla Lenze („Die endlose Stadt“, „Der kleine Rest des Todes“). Die anderen drei sind ebenfalls preisgekrönte Schriftsteller. Hierzulande jedoch relativ unbekannt, da sie bis zu ihrer Flucht in der arabischsprachigen Literaturwelt publizierten.

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Ahmend Katlesch im Gespräch, Annika Reich und Ines Kappert im Hintergrund
Seit einem Jahr gibt es das Projekt weiterschreiben.jetzt und Annika Reich ist der Stolz anzuhören, als sie dem Publikum die bisherigen Erfolge aufzählt. Die Autorinnen und Autoren im Projekt konnten inzwischen mehrere Buchverträge mit Verlagen abschließen, haben Stipendien erhalten; es gibt Veröffentlichungen aller Art und die Einladung zu einer Lesereise auf Einladung des Goethe-Instituts nach Kanada. Ihre Teamkollegin Ines Kappert betont: „Es ist wichtig, die Expertise der Angekommenen wahrzunehmen und ihnen nicht nur aus der Helferperspektive zu begegnen. Nicht über Menschen zu reden, sondern mit ihnen.“ Kappert leitet aktuell das Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie der Böll-Stiftung und früher das Meinungsressort der Tageszeitung „taz“, wo sie zur Expertin für Syrien und Vertreibung wurde.
Sie ist Mitbegründerin von „Wir machen das“, einem „Bündnis von Neuankommenden und Einheimischen“, gegründet von 100 Frauen aus Kunst, Wissenschaft und öffentlichem Leben und inzwischen um viele Menschen angewachsen. Ziel ist es, „der Herausforderung weltweiter Migration mit Menschlichkeit und Sachverstand zu begegnen.“ Dahinter steckt die Idee, „wegzukommen von Mitleid und Meinung, Hilfe und Abwehr hin zu einer Kultur des Teilens und der selbstbestimmten Gestaltung unserer Welt.“ Weiterschreiben.jetzt ist eines von unterschiedlichen Projekten in der Verantwortung von „Wir machen das“.

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Ahmed Katlesch und Ulla Lenze lauschen Lina Atfah
Arabische Poesie: Gedichte wie Lieder
In der arabischen Welt spielt Poesie als die musikalischste Variante von Text eine viel größere Rolle als hierzulande. Deshalb ist den Veranstalterinnen die Zweisprachigkeit des Abends so wichtig. Es geht nicht nur um das Verstehen der Inhalte. „Die arabische Lyrik erinnert an Liedtexte“, sagt Annika Reich. Die Vertonung der eigenen Lyrik sei das größte Ziel arabischsprachiger Dichterinnen und Dichter.
“Hinter allen diesen Welten, Augen, Lippen und Tränen,
hinter der Angst der Menschen voreinander,
weit weg von den Schwertern und den Steinigungen,
weit weg von allem, was die Vögel aus ihren Nestern fliehen lässt,
dort, wo das Wasser der Weiblichkeit das Universum zur Quelle führt,
dort, wo das Wasser der Weiblichkeit dem Universum seine Mündung zeigt,
von dort aus werde ich dir mehr und mehr erzählen.
Eine Rose nach der anderen
werde ich dir Gedichte schreiben.”
(Lina Atfah, „In meiner Hand erblühte“)
Lina Atfah verbreitet gute Laune. Obwohl auch ihre Texte die Tragik des Krieges beschreiben und insbesondere von den Rahmenbedingungen erzählen, die der Krieg für das Leben der Frauen setzt.

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Nach der Lesung begegnen sich Autorinnen und Autoren mit dem Publikum
Was passiert mit der Sprache im Krieg
Als Omar Al-Jaffal beginnt auf Arabisch zu lesen, macht der schnelle Rhythmus den aus den Fugen geratenen Alltag im Kriegsgebiet schon für das Publikum fühlbar, bevor die Übersetzerin spricht. Der Text ist eine „Anleitung zum Überleben im Krieg“ – die Alltäglichkeit der Worte kontrastiert die beschriebene Verzweiflung. Wie soll eine Sprache des Krieges auch klingen?
“Du hörst in den Nachrichten, dass mehrere Explosionen die Stadt erschüttert haben. Sieh an dir runter: Hast du überlebt? (…) Dein Vater klammert sich an sein Buch und versucht, die Nachrichten zu ignorieren, frisst alles noch tiefer in sich hinein. Ruf auch deine Geschwister an. Du musst wissen, wo deine Freunde wohnen und arbeiten. Das verringert die Sorge um sie. Sprich dann mit einem neugierigen Freund, der über alle Bescheid weiß. Das spart eine Menge Anrufe und du hast einen Überblick, wer noch lebt und wer tot ist. Bestimmt gibt es mal wieder einen Kandidaten mit ausgeschaltetem Handy, der in der Nähe einer Explosion wohnt. Ihm ist schon nichts passiert!”
(Omar Al-Jaffal: Anleitung zum Überleben im Krieg)

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Omar Al-Jaffal und Ramy Al-Asheq mit einem Besucher
Nur räumlich ist der Krieg weit weg
„Die Schriftsteller, mit denen wir arbeiten, waren fast alle Teil der Revolution. Die Texte handeln viel von Krieg und Tod“, erklärt Annika Reich.
Ramy al-Asheq lebte in Damaskus, war nach der Syrischen Revolution in Gefangenschaft, dann in Jordanien und kam 2014 mit einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung nach Deutschland. Drei Jahre lebte er in Köln, bevor er nach Berlin zog, wo er sich künstlerisch besser aufgehoben fühlt. „Trotzdem kann ich noch nicht sagen, dass ich angekommen bin“, sagt er. Ramy al-Asheq hat viele Revolutionslieder geschrieben.

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Ulla Lenze und Omar Al-Jaffal
Jedes Tandem kreiert seine eigene Zusammenarbeit
Auch Erfolgsautorin Ulla Lenze erzählt vom Austausch mit Rabab Haider, die noch in Damaskus lebt. Davon, wie ihre Tandempartnerin kurz nach ihrem Kennenlernen zufällig eine arabische Übersetzung des eigenen Romans im Regal in Damaskus entdeckt habe. „Sie hatte ihn nicht gelesen, aber irgendwie verkleinerte das Gefühl die große räumliche Entfernung zwischen uns.“
Ulla Lenzes Tandempartnerin fehlt an diesem Abend in Berlin-Wannsee. Rabab Haidar hat die notwendigen Ausreisepapiere nicht bis zum Neustart-Termin von weiterschreiben.jetzt erhalten.
Beauftragte für Integration und Migration
des Senats von Berlin