Die sieben Weltwunder vom Molkenmarkt in Berlin-Mitte

Mitte Rathausstraße Jüdenstraße Molkenmarkt

Blick vom Turm des Roten Rathauses auf das vom Alten Stadthaus beherrschte Umfeld des heutigen Molkenmarktes. Die grün eigefärbten Flächen entsprechen den geplanten Wohnquartieren. Der historische Molkenmarkt ist am rechten Bildrand im Asphalt hinter dem Nikolaiviertel zu verorten.

Bestimmt kennen Sie mindestens eines von sieben Weltwundern der Antike. Herodot, der griechische Historiker, listete sie im 5. Jahrhundert vor Christus erstmals auf. Die meisten dieser berühmten Bauwerke wie der Leuchtturm von Alexandria oder die hängenden Gärten der Semiramis zu Babylon sind zerfallen. Die ägyptischen Pyramiden von Gizeh ragen dagegen bis zum heutigen Tag auf. Ein Besuch dieser Sehenswürdigkeiten des Vorderen Orients galt einst als Muss. Derzeit ist eine Reise dorthin aber kaum möglich. Was also tun?

Angesichts der aktuellen Reisebeschränkungen lohnt sich ein Blick auf Monumente der Region, die man sogar zu Fuß erkunden kann. Sieben lokale Weltwunder in der historischen Altstadt von Berlin harren ihrer Entdeckung – und zwar rund um den Molkenmarkt! Sie stehen teilweise unauffällig auf öffentlichem Grund oder verbergen sich vollständig nur wenige Zentimeter unter dem Straßenpflaster. Gemeinsam ist allen, dass sie ihre Wiederentdeckung oder eine gesteigerte Wertschätzung verdient haben.

Das derzeit von weiten Räumen und Verkehrsmitteln geprägte Ausflugsziel reicht vom Mühlendamm bis zur Kirchenruine an der Klosterstraße. Die aktuellen Ausgrabungen des Landesdenkmalamtes Berlin leisten einen buchstäblich tiefschürfenden Beitrag dazu, das enorme touristische Potenzial dieser Kulturschätze ans Tageslicht und ins Bewusstsein zu holen.

1. Ein ganzes historisches Stadtquartier unter Asphalt

Dort, wo sich bis in die 1930er Jahre Altstadtquartiere der historischen Berliner Altstadt erhoben, erstreckt sich heute eine breite Magistrale: Mühlendamm, Grunerstraße und benachbartes Straßenland. Unter der vielspurigen Schneise liegen die Relikte von nahezu einem Fünftel der mittelalterlichen Altstadt Berlins verborgen. Zu ihren bekanntesten historischen Orten gehören unter anderem der Molkenmarkt, Stadthäuser von Patriziern und Adeligen, Bürgerhäuser, ein Elektrizitätswerk sowie das Franziskanerkloster. Die archäologischen Untersuchungen des Landesdenkmalamtes im Bereich der historischen Quartiere holen diesen 800 Jahre alten Ursprungsort Berlins ins Bewusstsein zurück und sichern bislang unbekannte, faszinierende Geschichtsspuren.

2. Eine wandernde Berliner Straße

Der Verlauf der heutigen Berliner Rathausstraße entlang der Front des Roten Rathauses und der Rathauspassagen ist ihrer Abwanderung zu verdanken! Die erste Berliner Rathausstraße lag nämlich an der Rückseite des in den 1860er Jahren errichteten Roten Rathauses. Der vor dem Verwaltungsbau gültige Straßenname „Naglergasse“ musste dafür weichen. 1889 wurde hier das dritte Berliner Elektrizitätswerk errichtet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wanderte die Rathausstraße in Folge der radikalen Umgestaltung der Berliner Mitte in der Nachkriegszeit an ihren heutigen Ort. Die ehemalige Rathausstraße wurde nach Gustav-Böß benannt, dem ersten Oberbürgermeister Groß-Berlins. In Kürze verschwindet übrigens auch die Gustav-Böß-Straße. An ihrer Stelle wird künftig die im Bau befindliche neue Grunerstraße verlaufen. Nicht nur an dieser Stelle, sondern auch am Molkenmarkt haben wandernde Orte in Berlin Tradition (siehe das 4. Wunder).

3. Ein Bettelorden mit dem erlesensten Kirchenbau Berlins

In der Mitte des 13. Jahrhunderts siedelte sich der Bettelorden der Franziskaner in der nach seinem Konvent benannten Klosterstraße an. Von der Kleidung der Mönche leitet sich die Bezeichnung „Graues Kloster“ ab. Der aus mehreren Teilen bestehende, prächtige Baukomplex an der mittelalterlichen Berliner Stadtmauer wurde bis zur Auflösung des Klosters im 16. Jahrhundert sukzessive erweitert. Nach der Reformation zog dort das „Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster“ ein. Ein Prunkstück mittelalterlicher Sakralarchitektur bildet die im Zweiten Weltkrieg stark beschädigte Klosterkirche. Sie steht als einziger Bau des Grauen Klosters bis heute aufrecht. Auch in ruinösem Zustand ist der eigentümliche Gegensatz der edlen Gestaltung dieses Gotteshauses zum Gelübde der mittelalterlichen Mönche zu erkennen, in Armut zu leben.

Ausschnitt des Stadtplans von Berlin um 1910. Der historische Molkenmarkt liegt links am Bildrand. Nahezu alle historischen Gebäude dieser Zeit sind heute verschwunden. Überdauert haben das Rote Rathaus (links oben), das Alte Stadthaus (Bildmitte) und die Kirchenruine der Franziskaner (oberer Bildrand, Mitte).

4. Die Mobilität des Molkenmarktes

Der Molkenmarkt gilt als ältester Markt Berlins. Er lag sehr verkehrsgünstig an der historischen Kreuzung des Mühlendamms und der jeweils zu einem Berliner Stadttor führenden Spandauer- und Stralauer Straßen. Der Mühlendamm war die wichtigste Verbindung der mittelalterlichen Schwesterstädte Berlin und Cölln. Auf der Suche nach dem Molkenmarkt wird man heute an der Platzfläche vor dem Alten Stadthaus fündig, wo gerade die Ausgrabungen des Landesdenkmalamtes in die Tiefe gehen. Der historische Molkenmarkt liegt allerdings ganz woanders: dort, wo ein großer Baum die Eiergasse des Nikolaiviertels beschattet. Die enorme Verbreiterung und Begradigung der genannten Straßen in den 1960er Jahren überlagerte den alten Molkenmarkt. Daraufhin wurden Straßenschild und Molkenmarkt kurzerhand mobilisiert und versetzt, so wie auch die Berliner Rathausstraße (siehe das 2. Wunder).

5. Pillen, Gold, Wein und Bouletten: alles in einem Haus

Die historische Adresse „Am Molkenmarkt 4“ liegt heute unter dem Asphalt der Stralauer Straße. Bis in das 18. Jahrhundert war in dem mit alten Gewölbekellern ausgestatteten Haus die berühmte „Zorn´sche Apotheke“ untergebracht. In ihr hatte der Erfinder des Porzellans, Johann Friedrich Böttcher (1682-1719) seine Lehre absolviert und als Gesellenstück die alchimistische Umwandlung von drei Silbermünzen zu Gold inszeniert. Bis 1930 dienten die historischen Gewölbe als Weinkeller. Im Volksmund kursierte für diese Räumlichkeiten der wesentlich bissfestere Begriff „Boulettenkeller“. Der Stadtführer „Schönes altes Berlin“ verkündete 1930 Folgendes zu den stimmungsvollen Räumlichkeiten: „Verklungene Zeiten, verklungene Romantik! Das neue Berlin braucht neue Räume. Aber eine solche historische Gaststätte sollte niemals das Opfer der Spitzhacke werden. Man sollte den alten Keller in das neue Haus einbauen und auf diese Weise der Nachwelt erhalten“. Die Spitzhacke fand 1936 ihr Opfer; die kommenden Ausgrabungen werden die Gewölbe vielleicht aber doch noch einmal ans Tageslicht bringen…

6. Die standhafte Robinie vom Großen Jüdenhof

Der Große Jüdenhof war ein reizvolles, Anfang des 18. Jahrhunderts angelegtes Ensemble von pittoresken Häusern um einen Innenhof, zu dem man von der Jüdenstraße aus gelangte. Ein Teil des Großen Jüdenhofs fiel bei der Errichtung des „Neuen Stadthauses“ 1937, die übrigen Bauten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg abgerissen. Allen Zerstörungen zum Trotz hat sich ein Bezugspunkt des Großen Jüdenhofs erhalten: die sich immer wieder erneuernde Robinie. Sie steht dort, wo einst auch die älteste Robinie Berlins gestanden haben soll. Nun sprießt hier unverdrossen, vom Asphalt des weiten Parkplatzes eingerahmt, ihre genetische Nachfolgerin!

7. Der Molkenmarkt ist tot, es lebe der Molkenmarkt!

Der historische Molkenmarkt hat einem städtebaulichen Großvorhaben der Berliner Senatsverwaltungen seinen Namen verliehen. Zwischen Mühlendamm und Klosterkirche werden neue Wohnquartiere entstehen, die sich an den Grenzen und Maßstäben der historischen Bebauung orientieren. Die Reparatur des Stadtgefüges unter Berücksichtigung und Würdigung Jahrhunderte alter und gleichwohl attraktiver Strukturen erscheint angesichts der heutigen Prägung des Ortes durch Asphalt und Autos wie ein Wunder.

Die planungsvorbereitenden archäologischen Ausgrabungen und der Straßenbau zur Verlegung und Reduktion der Grunerstraße haben schon begonnen. Mit den neuen Quartieren am Molkenmarkt soll an diesem Ort wieder einziehen, was sich über den längsten Zeitraum der achthundertjährigen Geschichte Berlins bewährt hat: Die ausgewogene Mischung von Quartieren und Straßen am Molkenmarkt, in denen Menschen wohnen, arbeiten und feiern. Das ist einerseits normal, aber bei aller Bescheidenheit auch ein Wunder!