Hartz IV am Sozialgericht Berlin
10 Jahre – 5 Zahlen
215.827 Hartz IV-Verfahren zwischen 2005 und 2014
78 neue Richterstellen seit 2005
82 neue Stellen für Servicekräfte, Wachtmeister, Kostenbeamte
2,8 Kilometer erledigte Hartz IV-Akten im Archiv
4.316.540 mal „Klack“ – jeder Posteingang erhielt einen Stempel
IV.
Sechs Jahre lang ging es nur bergauf. Seit 2011 sinken die SGB II-Zahlen wieder. Doch noch immer erreichen uns im Monatsdurchschnitt fast 2000 neue Hartz IV-Verfahren (exakt 1.966). Das ist die Größenordnung, auf die wir uns auch in Zukunft einstellen müssen.
Die Grundidee von Hartz IV, die Schaffung einer einheitlichen Sozialleistung für alle erwerbsfähigen hilfebedürftigen Menschen, halte ich nach wie vor für richtig. Umso mehr stellt sich die Frage, was die Gründe für eine derartige Klagewelle sind. Meinem Eindruck nach kann man die Ursachen auf drei Ebenen festmachen. Die Gründe liegen in gesellschaftlichen Entwicklungen, in der Umsetzung des Regelwerks und schließlich im Gesetz selbst.
Hartz IV betrifft eine große Zahl von Bürgern. Hartz IV berührt Fragen von existentieller Bedeutung. Hartz IV hat die Diskussion um das Existenzminimum in die Mitte der Gesellschaft katapultiert. Einerseits ist die Gesetzesreform so zur Projektionsfläche für die Angst vor dem sozialen Abstieg geworden, für die Furcht vor der Entwertung der Lebensleistung. Andererseits hat die breite öffentliche Diskussion um Hartz IV vielen Hilfebedürftigen Mut gemacht, ihre Rechte selbstbewusst einzufordern. Unterstützung erfahren sie dabei durch ein engmaschiges, auch per Internet zugängliches Beratungsnetz.
Meine Damen und Herren, die Hartz IV-Reform war eine Mammutaufgabe für alle Beteiligten, ob Gesetzgeber, Gerichte oder Jobcenter. Als völlig neu geschaffene Behörden hatten die Jobcenter in der Anfangsphase mit erheblichen Problemen zu kämpfen. Besonders deutlich zeigte sich dies in der Verletzung gesetzlicher Bearbeitungsfristen. Probleme mit unzureichender Software kamen hinzu. Schließlich bereitete die Einarbeitung in das höchst komplizierte Verwaltungsverfahrensrecht manche Schwierigkeit. Auch diese Umstände trugen zur Klageflut bei: Jedes Gesetz ist nur so gut wie seine Umsetzung in der Praxis.
Viele Probleme resultieren jedoch aus dem Gesetz selbst. Im Vergleich zur alten Rechtslage hat das SGB II die Zahl der zu erteilenden Bescheide in die Höhe schnellen lassen. Naturgemäß wächst die Gefahr von Fehlern mit der Zahl der Verwaltungsakte. Oft lässt das Gesetz auch grundlegende Fragen offen: Viele unbestimmte Rechtsbegriffe müssen immer wieder neu ausgelegt werden: Welche Unterkunftskosten sind angemessen? Welcher Sonderbedarf ist wirklich unabweisbar? Manche Vorschriften sind nur schwer handhabbar, zum Beispiel bei der Einkommensanrechnung. Schließlich ist die Rechtslage in zentralen Punkten immer noch umstritten. Ich erinnere nur an die Frage, ob arbeitsuchende EU-Bürger einen Anspruch auf Hartz IV-Leistungen haben. Hier warten wir immer noch auf eine abschließende Klärung durch den Europäischen Gerichtshof. Und nicht zuletzt: Über 70 Änderungsgesetze führen auch erfahrene Rechtsanwender an die Grenzen.
V.
Meine Damen und Herren, verantwortlich für die sinkenden Hartz IV-Zahlen in den letzten drei Jahren ist meiner Einschätzung nach vor allem das erfolgreiche Bemühen der Jobcenter, die gesetzlich vorgegebenen Bearbeitungsfristen einzuhalten. Zahlreiche sogenannte Untätigkeitsklagen konnten vermieden werden. Klagen, die einzig zum Ziel hatten, die Jobcenter überhaupt zu einer Entscheidung zu bewegen. Klagen, bei denen das Sozialgericht die Rolle eines bloßen Mahnbüros einnahm. Mit der Zahl der Untätigkeitsklagen ist auch die Erfolgsquote zurückgegangen. 49 % der Verfahren endeten 2014 zumindest mit einem Teilerfolg für die Rechtsuchenden. Im Vorjahr waren es 54 %.
Gleichbleibend hoch ist jedoch seit Jahren die Zahl der Eilverfahren. Hier bleibt die Lage angespannt. Wenn eine Stromsperre droht, die Wohnung fristlos gekündigt wurde, das Geld für Lebensmittel fehlt, dauert es bis zu einem endgültigen Urteil zu lang. Auch 2014 beantragten wieder 6.732 Bürgerinnen und Bürger vorläufigen Rechtsschutz. Eilanträge machen damit deutlich mehr als ein Viertel aller Hartz IV-Verfahren aus.
Geblieben sind auch die Klageverfahren, in denen nicht nur um Bearbeitungsfristen, sondern um Inhalte gestritten wird. Wie in den vergangenen Jahren geht es in einem Großteil der Fälle
- um die Rückforderung zuviel gezahlter Leistungen
- um die Leistungskürzung bei Sanktionen
- um die Anrechnung von Einkommen
- um Streitigkeiten rund um die Kosten der Unterkunft.
Manche Punkte sind hier in Bewegung geraten. Bescheide der Jobcenter sind inzwischen oft klarer und bestimmter formuliert als in den Anfangsjahren. Auch manche Gesetzesänderung, die zurzeit in der Diskussion ist, könnte ein Beitrag zur weiteren Klagereduzierung sein. Ich nenne als Beispiel die Vereinfachung der Sanktionsvorschriften oder die Einführung einer Bagatellgrenze bei Überzahlungen.
Nach wie vor mit großem Arbeitsaufwand verbunden sind indes die vielen Verfahren, in denen es um die Anrechnung von Erwerbseinkommen geht. Umfangreiche Ermittlungen und schwierige Abwägungen sind erforderlich. Bilanzen müssen ausgewertet, Belege geprüft werden. Schnell dreht sich der Fall um Detailfragen, so wie in einem Verfahren der 37. Kammer, wo es um eine Selbständige im Bereich Büroorganisation ging. Im Streit waren Kosten für einen Bürostuhl und eine Fahrradreparatur. Musste die Klägerin wirklich nachweisen, dass sie unter Rückenschmerzen litt, um die Ausgaben für den neuen Drehstuhl geltend machen zu können? Nutzte sie ihr Fahrrad tatsächlich oft genug für Dienstfahrten, um die Kosten für zwei neue Bremsklötze abzusetzen? Solche Fragen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. (Urteil vom 28. November 2014 – S 37 AS 11431/14).
Nicht absehbar ist im Übrigen, in welchem Maße zukünftig in Berlin um die Angemessenheit der Mietkosten gestritten werden wird. Die im Mai 2012 vom Senat erlassene Verordnung zu den Wohnaufwendungen (WAV) schien hier für alle Anwender Klarheit geschaffen zu haben. Doch die Ruhe hielt nicht lange vor. Am 4. Juni vergangenen Jahres hat das Bundessozialgericht die Verordnung für unwirksam erklärt (B 14 AS 53/13 R). Ich hoffe, dass hier bald eine für alle Seiten akzeptable Neuregelung gefunden wird. Klare Vorschriften zu den Mietzuschüssen entlasten nicht nur das Sozialgericht. Sie sind ein wesentlicher Beitrag für den sozialen Frieden in unserer Stadt.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Den Jobcentern gelingt es inzwischen, Fehler aus der Anfangsphase zu vermeiden. Manch ein Rechtsproblem der ersten Stunde ist heute dank des Bundessozialgerichts geklärt. Grundlegende Fragen zur Organisationsstruktur der Jobcenter und dem Regelsatz hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Doch sind auch neue Fragen aufgetaucht. Und immer öfter wird nicht mehr um die Auslegung des Gesetzes, sondern um dessen Anwendung im Einzelfall gestritten. Die Fälle werden immer komplexer. Die erste Herausforderung bei der Bearbeitung einer Akte, ist oft die Masse an Papier, die sich in 10 Jahren angesammelt hat. Nichts veranschaulicht das besser als ein Vergleich unserer ersten Hartz IV-Akte mit einem aktuellen Verfahren.
VI.
Es stimmt: die Klageflut geht zurück. Doch aus den Wellen ragt der Aktenberg. Ende 2014 waren 41.834 Verfahren aus allen Rechtsgebieten noch nicht erledigt. Fast 42.000 Bürger warten auf eine Entscheidung: Rentner, Schwerbehinderte, Kranke, Hilfebedürftige, die um existenzsichernde Leistungen streiten. Das ist Arbeit für mehr als ein Jahr, selbst wenn ab morgen keine einzige neue Klage mehr einginge. Angesichts dieser Herausforderung kann ich nur sagen: Es war höchste Zeit für eine Trendwende: Jede Klage weniger verschafft uns Luft, um abzutragen, was sich in 10 Jahren Hartz IV aufgetürmt hat.
Meine Damen und Herren, wir werden diese Aufgabe mit dem gewohnten Einsatz anpacken. Ein jetzt vorliegender bundesweiter Vergleich für 2013 zeigt: Nirgends in Deutschland erledigen Sozialrichter mehr Verfahren als am Sozialgericht Berlin. Doch inzwischen steigt die Verfahrensdauer. Ein Klageverfahren ist im Durchschnitt nach 13,8 Monaten erledigt. So ist bei allen Anstrengungen eines absehbar: Der Aktenberg wird uns auf Jahre beschäftigen.