III.
Für viel Streit sorgt seit jeher die Frage, welche Mietkosten die Jobcenter übernehmen müssen. Hier hat sich die Lage etwas entspannt. Die Verordnung zu den Wohnaufwendungen (WAV), die 2012 auch auf mein Drängen hin eingeführt worden ist, hat sich positiv ausgewirkt. Im Vergleich zur Vorgängerregelung enthält sie großzügigere Mietobergrenzen. Natürlich wird dadurch manch ein Streit vermieden.
Besonders auffällig ist jedoch der Rückgang der sogenannten Untätigkeitsklagen. Offensichtlich gelingt es den Jobcentern in der letzten Zeit besser als in der Vergangenheit, die gesetzlichen Bearbeitungsfristen einzuhalten. Das ist ein erster Erfolg der Initiative zur Reduzierung der Jobcenterklagen, die der Senator für Justiz und Verbraucherschutz 2012 angestoßen hatte.
Diese Entwicklung ist erfreulich. Doch umso stärker treten die anderen Fragen in den Vordergrund, die nach wie vor für Streit sorgen. In einem Großteil der Fälle geht es
p(. – um die Rückforderung zuviel gezahlter Leistungen
p(. – um die Leistungskürzung bei Sanktionen
p(. – um die Anrechnung von Einkommen.
Gerade die Anrechnung von Einkommen aus selbständiger Tätigkeit auf den Hartz IV – Anspruch führt alle Beteiligten rasch an ihre Grenzen. Bis 2007 waren die Angaben im Steuerbescheid des Finanzamtes ausschlaggebend. Dann beschloss der Gesetzgeber, die bekannten Steuerschlupflöcher wenigstens im Hartz IV – Bereich zu stopfen. Seitdem müssen sich Jobcenter und Sozialgerichte selbst mit Bilanzen herumschlagen. Ist das Praktikum einer Yogalehrerin in Fernost als Dienstreise absetzbar? Braucht eine Harfenspielerin ein Dienstmotorrad? Hält die Buchführung der Pommesbude am Alexanderplatz auch dem zweiten Blick stand? Umfangreiche Ermittlungen, schwierige Abwägungen sind erforderlich. Ich frage mich, ob hier wirklich ein Einspareffekt erzielt wurde.
Meine Damen und Herren, die Wanderungsbewegung innerhalb der Europäischen Union hat auch das Sozialgericht Berlin erreicht. Eine nüchterne Analyse der Situation am Sozialgericht ergibt: Es gibt keine EU-Klagewelle. Allerdings nimmt vor allem die Zahl der Eilanträge von in Berlin lebenden EU-Bürgern seit rund zwei Jahren zu – sie machen grob geschätzt 15 % der Eilverfahren aus. Eine differenzierte Betrachtung der Streitfälle zeigt dabei: Das Bild ist bunt. So bunt wie Europa. Die Antragsteller kommen aus allen europäischen Staaten. Manche leben seit Jahren in Deutschland. Berlin ist ihr Zuhause. Andere sind erst vor einigen Monaten in die Stadt gekommen in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen. Manche kommen allein, manche mit Familie. Manche haben Arbeit, manche suchen noch. Ob sie einen Anspruch auf Hartz IV haben, hängt vom Einzelfall ab.
Klar ist: Wer in Deutschland arbeitet, aber für sich und seine Familie nicht genug verdient, hat als Aufstocker Anspruch auf Hartz IV. Das gilt für EU-Bürger genauso wie für Deutsche. Das ist keine Leistungserschleichung, sondern geltendes Recht. Allerdings benötigten Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien bis Ende letzten Jahres eine Arbeitserlaubnis. Nur als Selbständige durften sie tätig sein. Eine Fallgruppe unter vielen bildete vor diesem Hintergrund die Frage, ob die angebliche Selbständigkeit, z. B. als Bauhelfer, als Reinigungskraft nicht nur vorgeschoben war. Auch hier verbietet sich jede Pauschalierung. Jeder Einzelfall muss kritisch geprüft werden.
Meine Damen und Herren, manchmal drängt sich in diesem Zusammenhang der Eindruck auf, dass Arbeitgeber ganz bewusst die Unerfahrenheit und die Notlage von Einwanderern ausnutzen. Klarstellen möchte ich: Auch am Sozialgericht kennt man das Strafgesetzbuch. Wer den Staat betrügt, wird strafrechtlich verfolgt. Das gilt selbstverständlich unabhängig vom Herkunftsland. Und es gilt eben nicht nur für Hartz IV – Empfänger, die über ihre Situation täuschen, die Einkommen oder Vermögen verschweigen, sondern auch für solche Arbeitgeber, die durch Förderung scheinselbständiger Tätigkeiten zu Lasten der gesetzlichen Versicherungen Beiträge unterschlagen.
Nicht abschließend geklärt ist die Rechtslage für EU-Bürger, die noch keine Arbeit haben, aber auf Arbeitsuche sind. Nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers sollen sie generell von Leistungen ausgeschlossen sein. Ob dieser pauschale Leistungsausschluss mit europäischem Recht vereinbar ist, ist heftig umstritten. Diese Frage ist deswegen entscheidend, weil europäisches Recht gegenüber dem deutschen vorrangig ist. Überall in Deutschland kommen Richter zu unterschiedlichen Ergebnissen, auch hier am Sozialgericht Berlin. Mehrfach hat auch das Bundessozialgericht bezweifelt, ob das deutsche Gesetz in dieser Frage den Anforderungen des Europarechts genügt. Im Dezember hat es deshalb den Fall einer in Berlin-Neukölln wohnenden schwedischen Familie dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt (Beschluss vom 12. Dezember 2013 – B 4 AS 9/13 R). Dessen Entscheidung gilt es abzuwarten. Meine Damen und Herren, unerträglich ist es vor diesem Hintergrund, Richtern, die nach
sorgfältiger Abwägung Leistungen zusprechen, leichtfertige Verschwendung von Steuermitteln vorzuwerfen. Freizügigkeit und Gleichbehandlung sind Grundpfeiler der Europäischen Gemeinschaft. Die Festlegung ihrer Grundlagen und Grenzen hat eine sorgfältige Prüfung verdient.
IV.
Meine Damen und Herren, trotz des Klagerückgangs sind wir weit entfernt von einem zufriedenstellenden Zustand. Welche Anstrengungen noch erforderlich sind, zeigt eindrucksvoll die Erfolgsquote: In rund 54 % der Fälle erzielen die Kläger gegenüber den Jobcentern zumindest einen Teilerfolg. Seit Jahren.
In anderen Sparten ist die Quote deutlich niedriger. Das ist nicht normal. Das ist ein Signal. Ein Warnzeichen dafür, dass weitere Anstrengungen erforderlich sind. Die Reduzierung der Untätigkeitsklagen war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Nun ist entscheidend, dass die Jobcenter ihre Arbeitsqualität nachhaltig verbessern. Und ganz wichtig: Die Bemühungen um Klagevermeidung dürfen nicht dazu führen, dass die Betreuung der bereits anhängigen Verfahren vernachlässigt wird. Allzu oft beobachten Richter, dass Jobcenter auch auf die dritte Erinnerung noch keine Antwort geben.
Ein wichtiger Baustein zur Vermeidung von Klageverfahren ist die persönliche Kommunikation. Unsere Erfahrung ist: Viele Verfahren ließen sich vermeiden, wenn sich die Beteiligten vor Anrufung des Gerichts an einen Tisch setzen würden. In vier von fünf Hartz IV-Fällen wird am Sozialgericht Berlin eine einvernehmliche Lösung gefunden. Wie gut es tun kann, miteinander ins Gespräch zu kommen, wird nirgends so deutlich wie bei der Mediation. Am Sozialgericht Berlin bieten sechs Richterinnen und Richter dieses Güterichterverfahren an. Ihr Ziel: Neue Wege aufzuzeigen in Verfahren, die in einer Sackgasse stecken. Der Erfolg gibt ihnen recht. Ich nenne beispielhaft einen Streit, in dem es vordergründig um Sanktionen des Jobcenters ging. Dem Richter gelang es, die verhärteten Fronten aufzulösen und eine Einigung zu erzielen. Sieben Verfahren konnten auf einmal erledigt werden. Sieben auf einen Streich – hier war es kein Märchen, sondern das Ergebnis moderner
Verhandlungsführung. Ich werbe darum, dieses Angebot zur umfassenden Streitbeilegung verstärkt zu nutzen.
V.
Das Sozialgericht Berlin ist nicht nur Hartz IV-Gericht. Persönliche Schicksale und politische Entscheidungen, geschichtliche Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen prägen die Arbeit des Sozialgerichts in vielen Bereichen. Auch die klassischen Sozialrechtsgebiete wie die Arbeitslosenversicherung, das Renten- und Schwerbehindertenrecht, die Krankenversicherung bestimmen die Belastungssituation unseres Hauses. Kleinere, aber umso arbeitsintensivere Sparten sind zum Teil stark gewachsen.
Meine Damen und Herren, rechtlich gesehen geht es vor Gericht in der Regel um Geld. Den Klägern aber geht es häufig um viel mehr: Um Wahrnehmung, um Wiedergutmachung, um Würde. Nicht immer ist es möglich, diesen Erwartungen im Rahmen eines Gerichtsprozesses gerecht zu werden. Die folgenden Fälle stehen beispielhaft für viele.
Erfolgreich war die Entschädigungsklage einer Kanusportlerin aus der DDR. Mit 16 Jahren verabreichte ihr der Trainer blaue Pillen – angeblich Vitamine. Mit 32 Jahren erkrankte sie an Brustkrebs. Anders als das Landesamt für Gesundheit und Soziales erkannte das Gericht einen Zusammenhang zwischen Doping und Erkrankung und sprach ihr eine Rente zu. Für Fachleute und Betroffenenvertreter war dies ein Urteil von sporthistorischer Bedeutung. Der Prozess gab dem Opfer eine Stimme. Zugleich gewährte er Einblick in einen staatlich gelenkten Sportbetrieb, der sich Naivität und Ehrgeiz jugendlicher Athleten zu Nutze gemacht hatte (S 181 VG 167/07 – vgl. die Pressemitteilung vom 27. September 2013)
Mit schweren Folgen kämpfen auch all die Frauen, denen mangelhafte Brustimplantate des französischen Herstellers PIP eingesetzt worden sind. Das Sozialgericht Berlin hatte am 10. Dezember über eine Klage zu entscheiden, mit der eine Berlinerin von ihrer Krankenkasse vollständigen Kostenersatz für den Austausch der Implantate verlangte. Deutlich spürbar war ihre Verbitterung, Opfer eines skrupellosen Geschäftemachers geworden zu sein. Doch letztendlich konnte sie mit ihrem Begehren aus Rechtsgründen nicht durchdringen. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass Fälle dieser Art immer wieder höchste Anforderungen an die Verhandlungsführung der zuständigen Richter stellen (S 182 KR 1747/12 – vgl. die Pressemitteilung vom 10. Dezember 2013)
Nicht uninteressant sind übrigens auch die Verfahren, die das Gericht nicht erreicht haben. Seit August 2013 ist die Sozialgerichtsbarkeit auch für Verfahren rund um das Betreuungsgeld zuständig. Bisher blieb der Ansturm aus: In Berlin sind ganze drei Klagen eingetroffen. Mit Spannung beobachte ich, wie sich dieser Bereich entwickeln wird.
VI.
Meine Damen und Herren, trotz Eingangszahlen in schwindelerregender Höhe gerät das Sozialgericht Berlin nicht ins Trudeln. Ein jetzt vorliegender bundesweiter Vergleich für 2012 zeigt: Nirgends in Deutschland erledigen Sozialrichter mehr Verfahren als am Sozialgericht Berlin. Auch was die Verfahrensdauer angeht, liegen sie auf Spitzenplätzen. Im Durchschnitt dauert ein Klageverfahren rund zwölfeinhalb Monate. Das sprichwörtliche Berliner Tempo beweisen die Sozialrichter, wenn es um dringende Notlagen geht. Eilverfahren dauern nicht einmal einen Monat – auch das ist bundesweit Spitze.
Die Energie, die der Rückgang bei den Klagezahlen freisetzte, wurde genutzt, um den Aktenberg in Angriff zu nehmen. Doch auch 2013 wuchs der Aktenberg. Zwar stieg er nur um 200 und nicht mehr um 2.000 Verfahren, wie noch zwischen 2012 und 2013. Doch ist festzuhalten: Inzwischen warten am Sozialgericht Berlin 42.683 Verfahren auf ihre Erledigung. Das ist das Jahrespensum aller Richter. Meine Damen und Herren, 2014 müssten alle Tage 48 Stunden haben, um diesen Berg abzutragen.