Ebenso wie der Umstand der Klageschwemme sind auch deren Gründe über die Jahre gleich geblieben. Kein Kläger bläst zum Sturm auf unser Sozialsystem. Kaum einer prozessiert aus Prinzip. Es sind auch nicht die Themen der Politiker, die die Hartz IV Kläger umtreiben. So gibt es bisher – ohne dass ich die Ursachen hierfür benennen könnte – kaum Streit um das Anfang 2011 eingeführte Bildungspaket. Es sind auch nur wenige Klagen, die mit der angeblichen Verfassungswidrigkeit des Leistungsbetrags begründet werden. Nein, die Menschen, die das Sozialgericht anrufen, haben konkrete Anliegen aus ihrem Alltag. Wie in den Jahren zuvor streiten sie vor allem um
- die Kosten der Unterkunft
- die Anrechnung von Einkommen auf Leistungen
- die Leistungskürzung aufgrund von Sanktionen
- die Verletzung gesetzlicher Bearbeitungsfristen durch die Jobcenter
Dass es seit Jahren dieselben Probleme sind, die das Berliner Sozialgericht in Atem halten, hat vor allem einen Grund: Verbesserungsvorschläge aus der Praxis versanden in der Politik.
Ein wesentlicher Schlüssel zur Entlastung der Sozialgerichte liegt bei den Jobcentern. Im Vergleich zur alten Rechtslage hat die Hartz IV – Gesetzgebung die Zahl der zu erteilenden Bescheide nach oben schnellen lassen. Umso wichtiger ist es, dass falsche Bescheide bereits vor Einschaltung des Gerichts korrigiert werden. Gelegenheit hierzu bieten die Widerspruchsverfahren, die jedem Gerichtsprozess zwingend vorgeschaltet sind. Sie haben eine wesentliche Filterfunktion. Effektive Vorverfahren verhindern Gerichtsverfahren. Viele Klagen wären vermeidbar, wenn Betroffene und Behörden bereits während des Widerspruchsverfahrens ein klärendes Gespräch führen würden. Doch viel zu oft setzt man sich erst im Gerichtssaal an einen Tisch.
Meine Damen und Herren, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter erleben wir als engagiert und kompetent. Das Problem ist jedoch: Sie kommen mit der Arbeit nicht hinterher. Gerichtsverfahren werden verzögert, weil das Jobcenter auch Monate nach Klageerhebung noch keine Stellungnahme abgeben kann. Allzu oft bekomme ich von Jobcentern die Antwort: „Aufgrund von Personalmangel kommt es derzeit zu Verzögerungen.“ Monat für Monat erreichen das Gericht Dutzende Untätigkeitsklagen. Bürger, oftmals vertreten durch Rechtsanwälte, wenden sich an das Gericht, weil die Jobcenter zwingende Bearbeitungsfristen nicht beachten. Statt Rechtsfragen zu lösen, wird das Gericht zum Mahnbüro. Die Überforderung der Jobcenter führt zur Überlastung der Gerichte. Die Zeche zahlt der Steuerbürger. Das ärgert mich.
Vor einem Jahr habe ich angeregt, die im Jahr 2006 durch Bundesgesetz abgeschafften Gerichtsgebühren für Jobcenter wieder einzuführen. Gäbe es diese Gebührenpflicht noch, hätten die Jobcenter im vergangenen Jahr 2,4 Millionen Euro zahlen müssen – sicherlich ein starkes Argument für die Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung. Doch noch immer muss sich gerade die Behörde mit den höchsten Klagezahlen nicht an den Kosten beteiligen.
Ein weiteres Beispiel für politischen Reformbedarf ist der Streit um die Angemessenheit der Unterkunftskosten von Leistungsberechtigten. Ein Dauerbrenner – nach wie vor betreffen die meisten Gerichtsverfahren diesen Themenkomplex. Das ist nicht verwunderlich: Seit Einführung von Hartz IV entscheiden die Berliner Jobcenter über Unterkunftskosten anhand einer Tabelle (Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz des Landes Berlin vom 7. Juni 2005, Amtsblatt für Berlin 2005, 3743, in der Fassung der Ausführungsvorschriften zur Gewährung von Leistungen gemäß § 22 SGB II und §§ 29 und 34 SGB XII -AV Wohnen- vom 10. Februar 2009, Amtsblatt 2009, 502), die das Bundessozialgericht bereits vor über einem Jahr für rechtswidrig erklärt hat
“(BSG, Urteil vom 19. Okt. 2010 – B 14 AS 50/10 R): Von der gesetzlichen Möglichkeit, Richtwerte für die Unterkunftskosten per Verordnung festzulegen, hat die Berliner Politik bisher keinen Gebrauch gemacht. Meine Bitte an den neuen Senat: Schaffen Sie endlich transparente, sozial ausgewogene und praxistaugliche Mietgrenzwerte! Es ist höchste Zeit! Übrigens gibt es schon ein Berechnungsmodell, das die Anforderungen erfüllt (vgl. BSG a. a. O.). Entwickelt worden ist es von Richterinnen und Richtern des Sozialgerichts Berlin.
Schließlich könnte auch der Bundesgesetzgeber nachbessern. Ein Beispiel: Bis 2007 orientierte sich das Jobcenter bei der Anrechnung von Einkommen aus selbständiger Tätigkeit am jeweiligen Steuerbescheid. Eine pragmatische Lösung. Seit Anfang 2008 müssen sich Finanzamt und Jobcenter getrennt durch Bilanzen und Bücher kämpfen, um zu ermitteln wie viel ein Selbständiger verdient hat. Das bindet Kräfte, ist fehleranfällig und verursacht Streit.
Angesichts dieser Umstände ist die seit Jahren hohe Erfolgsquote der Hartz IV Verfahren wenig überraschend. 2011 waren über die Hälfte der Hartz IV Klagen, nämlich 54 %, zumindest teilweise berechtigt. In anderen Rechtsgebieten beträgt die Erfolgsquote nur ein gutes Drittel.
IV.
Nicht nur Eingänge auf Rekordniveau machen uns zu schaffen. Auch das Anwachsen der Bestände erfüllt mich mit Sorge. Erstmals seit Bestehen des Sozialgerichts gab es 2011 über 40.000 offene Verfahren. 40.000 Aktenordner, die von den Geschäftsstellen eingeräumt, vorgelegt, weggeräumt werden müssen. 40.000 Fälle, in denen Menschen auf eine Entscheidung warten. Berge in Berlin sind in der Regel harmlose Hügel. Der Humboldthain, der Kreuzberg: Erholungsgebiete und Spielwiesen. Der Aktenberg am Sozialgericht Berlin – das ist der Harzer Brocken. Ein gewaltiges Felsmassiv. Eine Herausforderung. Meine Damen und Herren, die Belegschaft des Sozialgerichts Berlin ist schwindelfrei. Doch der Berg unerledigter Klagen bringt uns an die Grenze der Belastbarkeit. 40.000 offene Verfahren sind das Jahrespensum von über 100 Richtern. Das Gericht müsste ein Jahr schließen, um diesen Berg abzuarbeiten.