Drucksache - 2163/V  

 
 
Betreff: Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit von Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende
Status:öffentlich  
 Ursprungaktuell
Initiator:Fraktion der SPDBezirksamt Mitte von Berlin
Verfasser:Schug, Hauptenbuchner 
Drucksache-Art:AntragVorlage zur Kenntnisnahme
   Beteiligt:Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
   Fraktion DIE LINKE
Beratungsfolge:
BVV Mitte von Berlin Entscheidung
21.11.2019 
32. öffentliche Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Mitte von Berlin - mit LIVESTREAM vertagt   
19.12.2019 
33. Öffentliche Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Mitte von Berlin (mit LIVESTREAM und INTEGRATIONSPREISVERLEIHUNG) ohne Änderungen in der BVV beschlossen   
BVV Mitte von Berlin Entscheidung
28.05.2020 
38. öffentliche Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Mitte von Berlin zur Kenntnis genommen (Beratungsfolge beendet)   

Sachverhalt
Anlagen:
1. Antrag SPD, Grüne, LINKE vom 12.11.2019
3. Beschluss vom 19.12.2019
3. VzK SB vom 14.05.2020
4. Anlage

Wir bitten zur Kenntnis zu nehmen:

 

(Text siehe Rückseite=


Bezirksamt Mitte von Berlin Datum: …05.2020

Ordnung, Personal und Finanzen Tel.: 32200

Amt/SE/OE

Bezirksverordnetenversammlung Drucksache Nr.: 2163/ V 

Mitte von Berlin


Vorlage -zur Kenntnisnahme- über Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit von Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende

Wir bitten zur Kenntnis zu nehmen:

Die Bezirksverordnetenversammlung hat in ihrer Sitzung am 19.12.2019 folgende Anregung an das Bezirksamt beschlossen (Drucksache Nr. 2163/ V).

 

„Das Bezirksamt wird ersucht, sich mit allem Nachdruck beim Jobcenter Berlin Mitte dafür einzu-

setzen, dass dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 bis zur etwaigen

daraus folgenden Neuregelung durch den Bundesgesetzgeber vollumfänglich Rechnung getragen

wird. Bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber ist der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts

im Sinne und Interesse der Leistungsberechtigten weit auszulegen. Dementsprechend ist ab sof-

ort auf mehrfache Sanktionen aufgrund von Pflichtverletzungen (ohne Meldeversäumnisse) zu

verzichten, insbesondere sog. Totalsanktionen bzw. Kürzungen der Kosten der Unterkunft auf-

grund von Pflichtverletzungen sind damit nicht mehr zulässig. Dies gilt insbesondere auch für un-

ter 25-jährige - selbst wenn das Urteil selbst die Sanktionen von unter 25 Jährigen nicht zum Ge-

genstand hatte, ist die bisherige Sanktionierungsregelung für diese Gruppe nach dem Urteil so

nicht mehr haltbar.

Neben der unmittelbar sich aus dem Urteil ergebenden Folgen (Nr. 1), wird das Bezirksamt ferner ersucht, sich mit dem Jobcenter bezüglich der mittelbaren Folgen (Nr. 2) zu beraten und geeignete Maßnahmen zu ergreifen.

 

  1. Unmittelbar aufgrund des Urteils bedeutet dies im Einzelnen:

a) Verzicht auf Sanktionen für erwerbsfähige Leistungsberechtigte jenseits der 30% Minderung (Nichtanwendung von § 31a (1) Sätze 2-6 SGB II), sowie ggf. Begrenzung von Leistungsminderungen auf 30%.

b)  Verzicht auf Sondersanktionen für erwerbsfähige Leistungsberechtigte unter 25 Jahren (Nichtanwendung von §31a (2) SGB II).

c)  Die Übertragung der Nichtanwendung aus a) und b) auf nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte (vgl. §31a (4) SGB II).

d)  Jede Sanktion nach § 31a SGB II ist künftig ab Beginn des folgenden Monats aufzuheben, nachdem die sanktionierte Person nachgewiesen hat, dass sie die Pflichtverletzung geheilt hat. Die bisherige starre Dauer von drei Monaten ist insofern nicht mehr anzuwenden.

e)  Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II, sind, soweit sie über eine Minderung in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen, aufzuheben. Diese Aufhebung ist unverzüglich umzusetzen und die Betroffenen ebenso unverzüglich zu informieren.

f)   Das Jobcenter hat zu definieren, welche die „entsprechenden Anhaltspunkte“ sind, nach denen Gelegenheit gegeben werden müsse, die persönliche Situation auch im Rahmen einer mündlichen Anhörung vor Festsetzung einer Leistungsminderung vortragen zu können. Insbesondere sollen dabei bereits bekannte persönliche Umstände wie psychosoziale oder körperliche Erkrankungen, Verschuldung, Obdachlosigkeit, sowie weitere besondere Umstände der familiären Situation berücksichtigt werden. Nach Festlegung dieser Anhaltspunkte ist für diesen Personenkreis bei einer schriftlichen Anhörung klar erkennbar, die Möglichkeit zur mündlichen Anhörung anzubieten. Eine Möglichkeit zur Hinzuziehung von Dritten, insbesondere auch der Ombudsperson des Jobcenters Mitte ist ebenfalls vorzusehen und dies aktiv anzubieten. Bis zur Festlegung o.g. Anhaltspunkte ist die mündliche Anhörung grundsätzlich allen anzubieten. 

 

  1. In weiterer Konsequenz aus dem Urteil sind des Weiteren folgende Maßnahmen vorzusehen bzw. vorzubereiten:

a)  Bei Sanktionierungen von unter 25-jährigen ist grundsätzlich mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten und den betroffenen Personen ein individuelles Angebot der Jugendhilfe zu unterbreiten.

b)  Für Sanktionierungen - aber auch darüber hinaus - ist die Einrichtung eines Widerspruchsausschusses zu prüfen. Dafür sollen Vertreter der wenigen bereits bestehenden (freiwilligen) Widerspruchsausschüsse von Jobcentern eingeladen werden, um zu erfahren, welche Erfahrungen mit diesen Ausschüssen gemacht wurden und wie dadurch die Klageanfälligkeit reduziert werden konnte. Es sollte außerdem geprüft werden, inwieweit eine parallele Ausgestaltung wie (oder möglicherweise auch Zusammenlegung mit) dem Beirat für Sozialhilfeangelegenheiten erfolgen kann.“

 

Das Bezirksamt hat am 12.05.2020 beschlossen, der Bezirksverordnetenversammlung dazu Nachfolgendes als Zwischenbericht zur Kenntnis zu bringen und nach der Bewältigung der Pandemiefolgen erneut zu berichten:

 

Das Bezirksamt hatte am 27.01.2020 im Ausschuss Wirtschaft, Arbeit, Ordnungsamt, Gleichstellung und Europa gemeinsam mit dem Geschäftsführer des Jobcenters Berlin Mitte einen ersten Bericht zur Umsetzung des Urteils des BVerfG vom 05.11.2019 gegeben. Die Präsentation (s. Anlage, S. 18) erhielten die Ausschussmitglieder am 03.02.2020 zur Kenntnis.

Im Kontext des Urteils hatte das Jobcenter Berlin Mitte insgesamt 3.913 Sanktionen zu überprüfen. Diese 3.913 Sanktionen wurden in zwei Gruppen gegliedert:

Gruppe1 = Prio1 à Minderungsbescheide, die eine Leistungsminderung von mehr als 30 Prozent zum Inhalt haben sowie

Gruppe2 = Prio2 à Minderungsbescheide, die eine Leistungsminderung von weniger/ gleich 30 Prozent zum Inhalt haben.

Unter Prio1 fallen auch jene Minderungsbescheide, die für sich allein betrachtet eine Leistungsminderung von weniger/ gleich 30 Prozent beinhalten, aber mindestens einen Monat lang aufgrund von Überschneidung mit einem anderen Minderungsbescheid tatsächlich eine Leistungsminderung von über 30 Prozent für die Kund*innen bedeuten.

Von den 617 Prio1-Sanktionen wurden 576 Fälle abschließend überprüft. Bei den restlichen 41 Fällen ist die Überprüfung noch nicht abgeschlossen.

Von den 3.197 Prio2-Sanktionen wurden 2.117 Fälle abschließend überprüft. Bei den restlichen 1.080 Fälle ist die Überprüfung noch nicht abgeschlossen (Stand 16.03.2020). Die 1.121 noch nicht abgeschlossenen Überprüfungen werden gegenwärtig durchgeführt.

Durch die Zentrale der Bundesagentur für Arbeit wurde zugesagt, die neuen Sanktionsbescheid- und Sanktionsbescheidänderungsformulare Anfang Februar2020 den gemeinsamen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Dies ist bisher nicht geschehen. Daher hatte sich das Jobcenter Berlin Mitte entschieden, eigene Sanktionsbescheid- und Sanktionsbescheidänderungsformulare zu erstellen und den Mitarbeiter*innen der Leistungsbereiche zur Verfügung zu stellen. Die zu den 2.693 abschließend überprüften Sanktionen gehörenden, angepassten Sanktionsverfügungen werden seit dem 11.03.2020 umgesetzt.

 

Zu den weiteren, sich unmittelbar aus dem Urteil ergebenden Folgen berichtet das Bezirksamt wie folgt.

  1. a) Das Jobcenter Berlin Mitte verzichtet seit dem 05.11.2019 und bis auf Weiteres auf Sanktionen jenseits der 30% Minderung.

b) Das Jobcenter Berlin Mitte wendet § 31 (2) SGB II seit dem 05.11.2019 und bis auf Weiteres nicht mehr an.

c) Das Jobcenter Berlin Mitte wendet § 31a (4) SGB II seit dem 05.11.2019 und bis auf Weiteres nicht mehr an.

d) Das Jobcenter Berlin Mitte hebt die Sanktion bereits ab Beginn des Monats, in dem die Pflichtverletzung geheilt wurde, auf.

e) Diese nicht-bestandskräftigen Bescheide wurden aufgehoben und alle betroffenen Kund*innen informiert (s.o.).

f) Die Integrationsfachkräfte des Jobcenters Berlin Mitte entscheiden eine Leistungsminderung im eigenen Ermessen und im konkreten Einzelfall entsprechend ihrer Kenntnisse über die persönliche Situation der betroffenen Kund*innen. Aus diesem Grund erfolgt keine Definition von Anhaltspunkten durch das Jobcenter Berlin Mitte.

Jede schriftlich versandte Anhörung enthält einen klar erkennbaren Hinweis für die betroffenen Kund*innen darauf, dass auch die Möglichkeit zur mündlichen Rückmeldung/ Stellungnahme besteht. Die Hinzuziehung von Dritten insbesondere der Ombudsperson des Jobcenters Berlin Mitte wird nicht pauschal angeboten, da gesetzliche Fristen eingehalten werden müssen. Die vorhandenen Ressourcen der Ombudsperson lassen ihre regelmäßige Einbeziehung nicht zu.

 

Zu den weiteren, sich mittelbar aus dem Urteil ergebenden Folgen berichtet das Bezirksamt wie folgt.

  1. a) Im Rahmen der Kooperationsvereinbarung des Bezirksamtes mit dem Jobcenter Berlin Mitte besteht bereits die generelle Vereinbarung mit allen relevanten bezirklichen Fachämtern, eng mit dem Jobcenter Berlin Mitte zusammen zu arbeiten und nach Information durch das Jobcenter Berlin Mitte zu geplanten Sanktionen (Wegfall/ Absenkung gem. § 31 SGB II) sozialpädagogische Stellungnahmen zu fertigen. Insbesondere bei Sanktionen ab 30% war schon immer das Jugendamt zu informieren. Diese Regelung wird in der aktuellen Kooperationsvereinbarung modifiziert, zumal Sanktionen ab 30% nicht mehr umgesetzt werden.

Unabhängig davon, wird das Jobcenter Berlin Mitte in der Jugendberufsagentur das Jugendamt als weiterer, enger Partner in der Jugendberufsagentur immer im Einzelfall informieren, damit der Bedarf an und die Beratung zu anderen Unterstützungsmöglichkeiten junger Menschen geprüft werden. 

b) In den gemeinsamen Einrichtungen gibt es berlinweit keine Widerspruchsausschüsse. Ein Widerspruchsausschuss ist nach Auffassung sowohl des Bezirksamtes, der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales als auch des Jobcenters Berlin Mitte auch nicht erforderlich, da die verantwortlichen Führungskräfte des Jobcenters Berlin Mitte die Widersprüche gewissenhaft und im Rahmen der gesetzlichen Erfordernisse und aktueller Rechtsprechungen stets genau prüfen. 

Eine Zusammenarbeit mit dem Beirat für Sozialhilfeangelegenheiten ist ebenfalls schon aufgrund unterschiedlicher gesetzlicher Grundlagen nicht zielführend.

 

A)    Rechtsgrundlage:

§ 13 i. V. m. § 36 Bezirksverwaltungsgesetz

B)    Auswirkungen auf den Haushaltsplan und die Finanzplanung

  1. Auswirkungen auf Einnahmen und Ausgaben: keine
  2. Personalwirtschaftliche Auswirkungen: keine

Berlin, den 12.05.2020

Bezirksbürgermeister von Dassel 

 
 

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