Was gerade in Nicaragua passiert, hielten Beobachter vor wenigen Monaten noch für unvorstellbar. Es gab zwar Berichte darüber, dass Daniel Ortega es als Präsident nicht so genau nehme mit der Demokratie. Andererseits aber liefen manche Dinge im Land der Sandinisten in den letzten Jahren besser als in anderen gebeutelten Staaten Mittelamerikas. Die Vereinten Nationen bescheinigten Ortega Fortschritte im Bildungs- und im Gesundheitssystem, und die Kriminalitätsstatistik und die Mordrate sah um ein Vielfaches besser aus als in einigen Nachbarländern.
Jetzt aber wird das Land auf absehbare Zeit nicht mehr als Positivbeispiel herhalten können, wenn von einer niedrigen Mordrate die Rede ist. Nicaragua steht am Rande eines Bürgerkriegs. Immer wieder gehen hunderttausende Menschen auf die Straßen. Demonstranten errichten Straßenblockaden und riegeln ganze Stadtviertel ab, an manchen Orten werden die Lebensmittel knapp. In San Rafael del Sur, der Partnergemeinde des Bezirks, ist es derzeit relativ ruhig, doch aufgrund der unsicheren Situation mussten auch die dortigen Weltwärts-Freiwilligen ihren Aufenthalt abbrechen und ausreisen.
Um über die aktuellen Entwicklungen in Nicaragua aufzuklären, lud die NGO ActionAid-Dänemark drei Studentinnen, die in der neu entstandenen Studierendenbewegung in Nicaragua aktiv sind, nach Europa ein.
Die Tour in Deutschland startete mit einem Besuch bei der Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann. Madelaine Caracas (20), die am ersten Tag des Nationalen Dialogs in Nicaragua teilgenommen hatte, schilderte die Geschehnisse aus ihrer Sicht:
Das, was inzwischen eine Massenbewegung ist, begann mit einem kleinen Protest gegen einen Großbrand im Bioreservat Indio Maiz, verursacht durch Brandrodung durch die sogenannten „Colonos“. Die Regierung kümmerte sich tagelang nicht darum, das Feuer zu löschen, mehrere tausend Quadratkilometer des unter Naturschutz stehenden Areals wurden zerstört, den Schaden hatten die dort lebenden Indigenen.
Schon Anfang April schickte die Regierung Polizisten und Schlägertrupps, um gegen die protestierenden Studenten vorzugehen. Das empörte viele Nicaraguaner. Als die Regierung dann auch noch bekannt gab, die Rentenbeiträge erhöhen zu wollen und gleichzeitig die Auszahlungen zu kürzen, schwoll der Protest immer weiter an. Zwar rückte die Regierung Ortega rasch von ihren Plänen ab, doch das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten verfestigte die Proteste. Die repressiven Maßnahmen nahmen weiter zu und forderten bis zum 19. Juni 2018 mindestens 212 Todesopfer, 1337 Verletzte, und mehrere hunderte Verhaftete (CIDH). Die Protestierenden fordern den Stopp der Repression, Gerechtigkeit für die Opfer und eine Demokratisierung des Landes durch den Rücktritt der Regierung Ortega Murillo, die Erneuerung des Wahlsystems und vorgezogene Neuwahlen auf allen Ebenen.
Auch die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann verurteilt die Missachtung fundamentaler Menschenrechte durch die Regierung und unterstützt die Protestbewegung. Der Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Kreuzberg – San Rafael del Sur e.V. betrachtet die jüngsten Entwicklungen im Land mit größter Sorge: „Wir wissen um die Kraft der nicaraguanischen Bevölkerung und erkennen die Erfolge an, welche in den vergangenen 40 Jahren erreicht wurden. Das aktuelle Vorgehen der Regierung ist jedoch mit den sandinistischen Idealen nicht vereinbar“, so Annika Hedderich, Vorsitzende des Vereins.
Madelaine Caracas hat bereits einige Bekannte bei den Demonstrationen verloren, manche verschwanden, von anderen fand man die Leichen. Wiederum andere tauchten nach Tagen wieder auf und berichteten, sie seien in “El Chipote” gefoltert worden, einem Gefängnis in der Hauptstadt Managua.
Auf die Frage, wie sich Madelaine ihre Rückkehr nach Nicaragua vorstelle, antwortet sie „Espero seguir viva“ – „ich hoffe, weiterzuleben!“. Auch vor der Reise habe sie bereits nicht mehr zu Hause, sondern in sicheren Häusern geschlafen, von denen sie hofft, dass die Polizei sie nicht findet.
In Berlin haben bereits viele Nicaraguaner*innen am Brandenburger Tor demonstriert, um ihre Solidarität mit den Studierenden zu bekunden, die von der staatlichen Repression betroffen sind und um auf die aktuelle Protestbewegung in Nicaragua aufmerksam zu machen. Die neu gegründete Initiative SOSNicaragua – Alemania informiert weiterhin über die aktuellen Geschehnisse und organisiert Veranstaltungen, die unter anderem vom Bezirksamt unterstützt werden.
Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg und der Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Kreuzberg – San Rafael del Sur e.V. hoffen, dass die Wiederaufnahme des Nationaldialogs, an dem auch internationale Institutionen wie die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH), der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, das Generalsekretariat der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die Europäische Union teilnehmen sollen, eine Grundlage für die Lösung des Konflikts bieten kann.