Das hat schon ein „Geschmäck`le…“

Das Brandenburger Tor in Berlin

von Waltraud Käß

3. April 2017 nachmittags – die Eilmeldungen überschlagen sich, Sondersendungen werden angekündigt. Was ist passiert? Ich glaube nicht, was ich da lese und höre: Terroranschlag in Sankt Petersburg – es gibt Tote und Verletzte in der Metro. Nach Paris, Brüssel, London, Istanbul, Nizza, Orlando, Jerusalem in der jüngeren Vergangenheit und schließlich vor Weihnachten 2016 in Berlin nun schon wieder ein menschenverachtender, heimtückischer Anschlag.

Allen Opfern in diesen Städten galt das internationale Mitgefühl nicht betroffener Staaten, und auch die Bundesrepublik Deutschland bzw. die Hauptstadt Berlin wurden von einer Welle der Trauer und Solidarität getragen.

In Berlin hatte man eine besondere Idee entwickelt. Nach den Anschlägen in Paris wurde damit begonnen, das Brandenburger Tor in den Nationalfarben betroffener Staaten anzustrahlen. Zugegeben, ich betrachtete dieses Ritual zunächst sehr skeptisch. Das Brandenburger Tor, das Wahrzeichen der Hauptstadt Berlin, in den Nationalfarben eines Staates anzustrahlen, der gerade einen Terroranschlag erlebte, erschien mir für die Opfer nicht angemessen. Das war mir einfach zu viel Show. Und ich fragte mich nach den folgenden Anschlägen, ob die Initiatoren dieser Aktion bis zu Ende gedacht haben.

Das Brandenburger Tor müsste dann nämlich permanent in den unterschiedlichsten Nationalfarben erstrahlen, wenn ich nur an den Terror in Irak, Syrien, Pakistan, Sudan, Ägypten und anderen Ländern der Erde denke. Denn auch Krieg beinhaltet Terror und Verbrechen. Bis dahin hatte man natürlich nicht gedacht.

Andererseits erkannte ich aber, dass manche Menschen solche Symbole, solche Orte brauchen, um ihrer Trauer und Solidarität mit den Opfern Ausdruck zu verleihen. Ich habe meine Meinung geändert, ich sah es mit der Zeit als Zeichen der Mitmenschlichkeit. Mir war nicht bekannt, und anderen Menschen wahrscheinlich auch nicht, dass die Bestrahlung des Tores eine Begründung braucht: Es muss eine Partnerstadt sein, die angegriffen wird – und davon werde man nur in Ausnahmefällen abweichen. Die es inzwischen schon gab.

Während in Dresden der Kulturpalast am 4. April in den Farben Russlands erstrahlte und in Madrid die russische Flagge gehisst wurde, blieb das Brandenburger Tor dunkel. Ich dachte noch an ein Missverständnis. Aber nein. Die Senatssprecherin lieferte die wenig überzeugende Begründung. Viele Fragen schossen mir durch den Kopf.

War es wirklich ausreichend, vor der russischen Botschaft Blumen niederzulegen?
Warum gab es gerade für Sankt Petersburg keine Ausnahmeregelung?
Wollte der Senat nicht gegen den Strom der allgemeinen Russenphobie schwimmen?
Gibt es unterschiedliche Wertigkeiten für Terror und Menschenopfer?
Wo bleibt das politische Gespür?

Merkwürdig: Der Stadtbezirk Mitte, in dem sich das Brandenburger Tor befindet, pflegt eine Städtepartnerschaft mit Sankt Petersburg- Petrogradskij Rajon.
Warum hat der Stadtbezirk Mitte hier nicht sein Recht eingefordert?
Eine Ausnahmeregelung wäre leicht zu finden gewesen. Z.B. leben in Berlin, sehr konzentriert im Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf, ehemalige Staatsbürger der Sowjetunion, also auch Russlands. Sie fühlen sich ihrem ehemaligen Vaterland noch immer sehr verbunden, das zeigt die Pflege der russischen Sprache und ihrer eigenen Traditionen. Wäre es nicht auch diesen Menschen gegenüber eine große Geste des Mitgefühls gewesen, das Brandenburger Tor anzustrahlen?

Und es gibt weitere Ausnahmen:
Petrograd, Leningrad, Sankt Petersburg ist eine Ausnahmestadt. Die deutsche Wehrmacht hat diese Stadt von September 1941 – Januar 1944 über 900 Tage lang erfolglos belagert. Unzählig waren die Opfer während dieser Blockade. Der Massentod der Menschen, über eine Million starben, wurde bewusst durch die deutsche Regierung unter Führung Hitlers herbeigeführt. Das war auch Terror und ein beispielloses Kriegsverbrechen. Und Hitler hatte seinen Sitz in Berlin.
Wollte man nicht an diesen Schandfleck deutscher Geschichte erinnert werden? Wäre nicht gerade jetzt ein Moment gewesen, den Toten der Gegenwart und der Vergangenheit die Ehre zu erweisen, ohne dass politisches Kalkül im Spiele ist?

Und ein weiteres Merkmal gibt dieser Stadt den Ausnahmestatus. Vor 100 Jahren, im November 1917, kam aus Petrograd das Signal für die Oktoberrevolution in Russland, die in ihren Auswirkungen auch in Deutschland und natürlich in Berlin, spürbar war. Wer sich in der Geschichte auskennt, weiß, wie die weitere Entwicklung verlaufen ist. Und daran will man ganz bestimmt nicht erinnert werden.
Der Kultursenator von Berlin hatte den Vorschlag eingebracht, letztmalig das Brandenburger Tor in den russischen Nationalfarben anzustrahlen und dann diese Aktion zu beenden, um weitere Irritationen auszuschließen. Dem könnte ich mich anschließen. Doch leider blieb dieser Vorschlag ergebnislos.

Berlin hatte eine Chance – und hat sie vertan!

Noch während ich an diesem Beitrag arbeite, es ist der 7.April 2017, läuft eine Eilmeldung über den Bildschirm. Die schwedische Stadt Stockholm hat Opfer eines Terroranschlags zu beklagen. Hat sie eine Städtepartnerschaft mit Berlin? Nein? Gewährt man ihr eine Ausnahmeregelung? Dann hat sie Glück – denn dann wird das Brandenburger Tor angestrahlt. Und das hätte dann wirklich ein „Geschmäck`le“.