Das Waldviertel – der „hohe Norden“ Niederösterreichs

Blick auf den historischen Rathausplatz und das Schloss von Weitra

Blick auf den historischen Rathausplatz und das Schloss von Weitra

von Hans-Jürgen Kolbe

In Zeiten der Corona-Krise sitze ich auf meinem Balkon und denke an eine Reise zurück, die mich bereits einige Monate vor dem Ausbruch der Pandemie ins niederösterreichische Waldviertel führte.

Hier oben im „hohen Norden“ des Waldviertels ist wirklich Vieles ein bisschen wie Schweden. Die Natur ist der Hauptdarsteller im Waldviertel, unverbraucht und unverfälscht. Denn alles ist hier oben entstanden, gewachsen und geworden. Mehr braucht es nicht im vielleicht spannendsten Ausflugsland Österreichs.

Weitra – Perle des Waldviertels

Wenn man aus Richtung Tschechien ins Waldviertel einreist, trifft man nach nur wenigen Kilometern auf Weitra. Die mittelalterliche Stadt ist Tor zum und Herzstück des Waldviertels gleichermaßen. Vor dem historischen Rathaus bin ich mit dem Nachtwächter zu Weitra, Ernest Zederbauer, verabredet. Mit ihm tauche ich ein in die über 800jährige Geschichte der 2.700 Einwohner zählenden Stadt. Romantiker und Historiker, Naturfreunde, Spaziergänger, und Altstadtbummler kommen hier garantiert auf ihre Kosten.

Die beeindruckende Kulisse der Bürgerhäuser – das Sgraffitohaus stammt aus dem 16. Jahrhundert – erzählt von der bedeutenden Vergangenheit der ehemaligen Handelsstadt. Bereits 1321 verlieh Friedrich der Schöne den Bewohnern der Stadt das Braurecht. Damit machte er Weitra zur ältesten Braustadt Österreichs. Die Bürger der Stadt nutzten das Privileg und es gab zur Blütezeit (1645) 33 bürgerliche Brauhäuser, dazu ein städtisches und ein herrschaftliches Brauhaus.

Heute befinden sich noch zwei Brauereien in Weitra. Die Bierwerkstatt Weitra und eine der kleinsten Hausbrauereien im Brauhotel Weitra. Auf dem „Weitraer Bierpfad“ durch die historische Altstadt kann man den Spuren der Biertradition bis zum Renaissanceschloss folgen, wo in den Kellergewölben ein Braumuseum untergebracht ist. Bier ist das älteste Kulturgetränk der Menschheit. Überall, wo Menschen sesshaft geworden sind, gutes Wasser und Getreide vorgefunden haben, haben sie das Brauen entdeckt.

Diese Voraussetzungen waren im Waldviertel immer hervorragend und sind es offensichtlich heute noch, denn darüber konnte ich mich bei einer Einkehr mit Nachtwächter Zederbauer im Brauhotel bei einem zünftigen Biobier aus der hauseigenen Brauerei überzeugen. Ich könnte hier noch viel Interessantes über Weitra berichten, aber ich empfehle ihnen, diese schöne mittelalterliche Stadtgemeinde selbst in Augenschein zu nehmen, wenn sie in dieser Gegend unterwegs sind. Anhalten lohnt sich!

Die Haderlumpen des Waldviertels — Waldviertler Bütten

Ich mache mich alternativ entlang der Lainsitz, die durch Weitra fließt, auf den Weg zur nächsten Rarität im Waldviertel. Die Lainsitz, in Tschechien Lužnice genannt, ist ein Nebenfluss der Moldau. Die Gesamtlänge des Flüsschens beträgt rund 200 Kilometer, davon fließt sie 43 Kilometer in Österreich. An ihrem Ufer suche ich die älteste Papiermühle Europas, die ich schließlich im Wald versteckt, am Rande der Kurgemeinde Bad Großpertholz, erreiche. Die voll funktionstüchtige Papiermühle Mörzinger stammt aus dem Jahre 1789 und ist quasi ein lebendiges Museum mit Einblicken in die Technologie des 18. und 19. Jahrhunderts. In der letzten „Hadern“-Papiermühle Europas wird bestes Büttenpapier von Hand hergestellt.

„Was “Hadern” ist?“, frage ich den Eigentümer Siegfried Mörzinger. „Nun die Frage ist einfach zu beantworten: Fetzen, Lumpen, etc. aus Leinen oder Baumwolle. Diese werden zerkleinert, eingeweicht, aufgelöst, gerührt, mit Kleber (Leim) versehen und zu Papier verarbeitet“, stellt er lapidar fest. Rund um das Gebäude der Papiermühle befinden sich ein kleiner Ballspielplatz und eine Wiese mit einem Grillplatz.

Der Besitzer, Siegfried Mörzinger, gibt sein Wissen über die Papierherstellung gerne bei Exkursionen, Besuchen von Schulklassen oder in Tagesseminaren weiter. Bei den Führungen, die 1,5 bis 2 Stunden dauern, wird der Herstellungsprozess genau erklärt und vorgeführt: die Besucher können zusehen, wie die Baumwolle zerkleinert, mit Wasser versetzt, im „Holländer“ gemahlen wird, bis das eigentliche „Papierzeug“ entsteht. Kinder und Erwachsene sind dazu eingeladen, selbst Papier zu schöpfen.

Und das Papierschöpfen und Pressen hat auch mir Spaß gemacht. Ich bin natürlich stolz auf mein eigenes Stück Weinvierter Bütten-Papier, das ich zur Erinnerung mit nach Hause nehmen konnte. Doch ehe es so weit war…

Mit „Waldtraud“ ins Bett

Was es mit diesem Zwischentitel auf sich hat, werde ich in den nächsten Zeilen aufklären. In der Kleinstadt Gföhl bin auf der Suche nach der Vollholztischlerei Lechner. Wald und Tischlerei bilden schließlich die Symbiose aus Natur und Handwerk, denke ich. Und ein Passant, den ich nach der Adresse fragte, bestätigte diesen Gedankengang so: „ Der Lechner machts “natürlich” und das konsequent seit 1985!“ Der Diplomingenieur für Holztechnik und Designer, Roman Lechner, schaut seine Ideen der Natur ab.

Für deren Realisierung verarbeitet er ausschließlich Massivholz und natürliche Materialien. „Giftige Spanplatten, Dekore oder Mdfs schaffen es nicht über unsere Türschwelle“, erklärt der Unternehmer. Und er betont nachdrücklich : „Wir sind dabei nicht nur ein bisschen, sondern ganz und gar “bio”, und das seit 30 Jahren und in zweiter Generation“. Der Traditionsbetrieb ist auf die Herstellung hochwertiger Vollholzmöbel spezialisiert und darum bemüht, das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Menschen durch ökologisch wertvolle Möbel, Räume und Häuser zu steigern.

Dabei spielt das Zirbenholz eine besondere Rolle. In freiluftgetrockneter Form wird es für hochwertige Zirbenholzbetten und Zirbenholzzimmer eingesetzt. Neben der Zirbe werden einheimische Hölzer zu individuellen Möbeln in höchster Qualität verarbeitet.

Doch zurück zur Zirbe: Ein Mittel, das gegen Schlafstörungen helfen soll, ist Zirbenholz. Die ätherischen Öle reduzieren die Arbeit des Herzens um 3.500 Schläge pro Nacht, was der Leistung einer ganzen Stunde entspricht. „Die Folge ist mehr Ruhe für Körper und Geist“, sagt Roman Lechner und drückt mir eine seiner Zirbelholz-Schlafrollen Namens „Waldtraud“ in die Hand. Seither gehe ich mit ihr ins Bett.

Die „Glasschleiferdynastie der Weber’s“ in Hirschenwies

Seit über 300 Jahren schon betreibt die Familie Weber das Glaskunsthandwerk. Auch Erwin Weber, Jahrgang 1966, Nachkomme in siebter Generation, hat den Beruf des Glasgraveurs erlernt und vor 15 Jahren die Firma vom Vater übernommen. Mit seinen zehn Mitarbeitern hält er hier im Waldviertel eines der ältesten und letzten Gewerke seiner Art in Österreich in Ehren.

Eine Tradition, die auf einer 3.500 Jahre alten Rezeptur zur Glaserzeugung beruht, um solche Kunstwerke ihrer Art herstellen zu können. Man nehme 60 Teile Sand, 180 Teile Asche, fünf Teile Salpeter, drei Teile Kreide und mache sich an die Arbeit. Und dazu braucht man auch Wald. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass bis ins 19. Jahrhundert die Glas-Manufakturen ihr Domizil in einfachen Hütten in Waldnähe hatten. Alle 50 bis 60 Jahre wurden sie aufgelassen, und die Glasbläser zogen neuen Waldbeständen entgegen.

Sie brauchten sie zum Befeuern ihrer Schmelzöfen und zur Gewinnung der nötigen Asche, bis schließlich neue Methoden feste Standorte erlaubten. Die Webers selbst sind seit 1900 an ihrem Standort in Hirschenwies, zum Moorbad Harbach gehörend. Mit heute weiteren Filialen in Weitra und Zwettl. Im Kristallstudio in Hirschenwies offerieren die Webers den Besuchern auf 500 Quadratmetern moderner Verkaufsfläche eine Vielfalt der selbsthergestellten Produkte.

Wo man dann die berühmte Qual der Wahl hat. Neben klassischen und traditionellen Stücken wie das immer wieder begehrte Kristallglas finden die Interessenten auch moderne und designorientierte Glasobjekte. Ebenso eine breite Auswahl an Edelsteinschmuck, wie z. B. aus echtem roten Granit. Man könnte schwach werden. Besonders ansprechend sind sicher individuelle und Fotogravuren sowie Geschenkartikel für jeden Anlass, Trophäen und Sportpokale.

Alles Garten oder was?

Für Schiltern – das Gartendorf schlechthin – sei diese Art von Werbung erlaubt. Denn für jeden Gartenfreund, der im Waldviertel unterwegs ist, ist der Besuch der Kittenberger Erlebnisgärten und der Arche Noah Schaugärten gewissermaßen ein Muss. Und was alles Gärtnern sein kann, davon konnte ich mir in Schiltern ein Bild machen.

Bei meinem Rundgang durch die Kittenberger Erlebnisgärten begleitet mich Schaugartenleiter Johannes Kubelka. Über 40 Schaugärten – auf einer Fläche von 40.000 m² – stellt er mir vor.
Ein Ausflugsziel, so erfahre ich, das zu jeder Jahreszeit einen Besuch wert ist und sowohl großen als auch kleinen Besuchern einen wunderschönen Tag ermöglicht.

Im Frühjahr erstrahlen tausende Frühlingsblüher und laden ein, die Natur beim Erwachen zu entdecken. Auf die Rosenblüte im Frühsommer folgt das Blütenmeer der Dahlien, das bis in den Herbst das Auge des Betrachters erfreut. Beim schönsten Adventzauber Österreichs erstrahlen die Gärten im Schein von 100.000 Lichtern und die Vorweihnachtszeit wird zum unvergesslichen Erlebnis.

Im Labyrinth von Toskanagarten, Gesundheitswassergarten, Schwimmteich, Asia.Garten, der „Schöner Wohnen Welt“ im Gartenpavillon und der größten Kräuterspirale der Welt ist für jeden Gartengeschmack etwas dabei. So jedenfalls mein Resümee, als ich im Gartenrestaurant Glas.Haus eine kleine Stärkung zu mir nehme und mich auf den Weg zu den nur vier Kilometer entfernten Arche Noah Schaugärten mache.

Die Arche Noah ist ein Verein, der sich seit über 25 Jahren für den Erhalt alter Kulturpflanzen einsetzt. Generationen von Gärtnerinnen und Gärtnern, von Bäuerinnen und Bauern pflegten über Jahrhunderte mit Sorgfalt und Liebe ihre Gemüse-, Obst- und auch Zierpflanzen-Sorten. Heute sind wir dabei, diese Wurzeln zu verlieren: Weltweit ging bereits bis zu 75 % der landwirtschaftlichen Vielfalt verloren! „Wir sehen unsere Arbeit als Antwort auf die restriktive globale Saatgutpolitik. Die Vielfalt an Kulturpflanzen ist Lebensgrundlage für Generationen“, sagt die gelernte Gartenmeisterin Elisabeth Veen, „deswegen kultivieren und erhalten wir verschiedenste Gemüse-, Kräuter- und Obst-Sorten.“

„In 40 Themenbeeten werden von uns seltene Pflanzensorten aus dem Sortenarchiv angebaut, vermehrt und stilvoll präsentiert“, so Elisabeth Veen. So wachsen mehr als 500 Sorten an Gemüse, Kräutern und Obstgehölzen jedes Jahr umgeben von historischem Ambiente. Sie erzählen von unbekannten Köstlichkeiten, veranschaulichen den Weg von der Wild- zur Gartenpflanze und machen die Vielfalt der Nahrungspflanzen erlebbar. In der Gartenbibliothek im barocken Pavillon kann man schmökern und entspannen, während die Kinder in der Sandkiste oder beim Baumhaus den Garten erforschen.

Nach einer interessanten Führung findet man Bio-Samen, Bio-Jungpflanzen, Gartenhilfsmittel und -accessoires sowie Bücher im gut sortierten Shop. Ein Angebot, von dem auch ich als Hobbygärtner gerne Gebrauch gemacht habe.

Ein Fazit:

Das Waldviertel ist wirklich echt und unverfälscht. Und meine Erinnerungen sind es auch. So sitze ich bei einem Weitraer Bier, das ich aus einem Glas vom Kristallstudio Weber genieße und gehe mit „Waldtraud“ ins Bett, um davon zu träumen, wie die Pflanzen aus den Gärten in Schiltern in meinem Garten gedeihen. Ich empfehle diesen Selbstversuch – sobald er wieder möglich ist!