Ein Jahr Rentner

Ein Rentnerporträt

von Edelgard Richter

24. Mai
Es ist geschafft. Mein letzter Arbeitstag. Ich bin endlich Rentner. Jetzt geht mein Leben richtig los. Ich will einfach das machen, woran mich diese verdammte Arbeit immer gehindert hat.

25. Mai
Ich stehe früh auf und weiß gar nicht, was ich zuerst tun soll:
Der Rasen muss gemäht werden, ich will die Dachrinne reparieren, ich muß die Wasserhähne entkalken, ich will ein Vogelhäuschen bauen und endlich mal „Krieg und Frieden“ lesen. Treffe vor dem Haus meinen Nachbarn. Er ist auch Rentner. Er läuft unrasiert im Jogginganzug herum, sieht aus wie Jörg Kachelmann nach 30 Tequila. Er schaut den ganzen Tag Nachmittagstalkshows oder löst Kreuzworträtsel. Das wäre nichts für mich. Ich mähe erst einmal den Rasen, reinige die Dachrinne und fange mit dem Vogelhäuschen an. Das Leben ist wunderbar!

2. Juni
Der Rasen ist gemäht, die Dachrinne gereinigt und das Vogelhäuschen ist fertig. Die Piepmätze kommen an und tirilieren fröhlich. Ich fahre zu OBI, besorge Entkalker für die Wasserhähne. OBI ist voll mit Rentnern. Jeden Morgen trifft sich da das Krampfadergeschwader am Holzzuschnitt. Trübe Tassen! Fahre nach Hause und entkalke die Wasserhähne.

7. Juni
Etwas länger geschlafen. Dann frühstücke ich und kontrolliere, ob die Wasserhähne nicht neuen Kalk angesetzt haben. Danach Rasenmähen und Fahrt zu OBI. Lasse mir Holz für ein weiteres Vogelhäuschen zuschneiden. Dann hab ich zwei. Eins für die Vogelmännchen und eins für die Vogelweibchen.

22. Juni
Bis mittags geschlafen. Dann noch ein Vogelhäuschen für Behinderte gebaut. Dann Rasen gedüngt, damit er schneller wächst und häufiger gemäht werden muss. Danach Tee mit meiner Frau. Ich gebe ihr Tipps für den Haushalt. Aber manchmal habe ich den Verdacht, ich nerve sie. Zum Beispiel, wenn wir im Garten zusammen Darts spielen. Nicht, dass wir uns streiten – aber warum klebt sie vor dem Werfen immer mein Foto auf die Dartsscheibe?

30. Juni
Will mal wieder mit einem anderen Menschen reden und gehe zum Arzt. Viele Rentner gehen zum Arzt um mal zu quatschen; ich habe mir Prostatabeschwerden ausgedacht. Aber er schickt mich nach Hause – Prostata würde bei Kassenpatienten in meinem Alter nicht mehr behandelt; Rentner hätten genügend Zeit zum Pinkeln.

13. Juli
Schlafen bis zwei. Danach Rasen mähen und ein Vogelhäuschen bauen. Im Garten stehen jetzt 28 Stück. Als ich es aufstellen will, entdecke ich auf dem Rasen einen Brief. Die Vögel haben ihn geschrieben: „Alter hör auf mit dem Scheiß, Vogelhäuschen zu bauen. Wir haben es satt und es ist uns vor den anderen Tieren peinlich“. Mein Nachbar bietet mir ein Kreuzworträtselheft an. Ich schau mal rein: Russischer Fluss mit 7 Buchstaben. Die bekanntesten sind; Bjelaja, Dnestr, Irtysch, Utschur und Wolchow. Am Abend Krise mit meiner Frau. Unser erotisches Leben ist eingeschlafen. Passiert vielen Rentnern. Meine Frau schlägt als Lösung vor, wir sollten mal Sex an ungewöhnlichen Orten probieren.

4. September
Wir haben die Seiten im Bett getauscht. Hilft auch nicht.
Habe gelesen, 50 % der Männer über 65 nehmen Viagra. 70 % davon können sich allerdings nicht mehr daran erinnern, warum . . . .

30. September
„Krieg und Frieden“ lese ich nicht mehr. Schaue jetzt mehr Nachmittagstalkshows.
Heute ist das Thema: „Ich mach dich kalt, du blöde Summse“. Na ja, ein bisschen lehnt sich das ja auch an „Krieg und Frieden“ an.

26. Oktober
Meine Frau meint, wir sollten etwas für unsere Körper tun. . . . Wellness . . . .
Sobald man Rentner ist, soll alles nur noch Wellness sein. Man soll die Seele baumeln lassen . . . . Warum? Wenn man älter wird, baumelt am Körper sowieso schon so viel. Da muss die Seele nicht auch noch mit baumeln.
Meine Frau schleppt mich zum Rentner-Yoga, zur Rentner-Sauna, zum Pilates. Pilates! Das war für mich bislang der Typ, der Jesus gekreuzigt hat!

12. November
Beim Rentner-Yoga soll ich die Figur machen: „Das Gnu liegt in der Morgensonne“.
Ich mache die Figur „Der Arbeitnehmer betätigt die Stechuhr“. Werde aus dem Kurs geworfen!

3. Januar
Habe mit dem Sport aufgehört. Nur den Jogginganzug trage ich noch ganz gern. Rasieren tu ich mich auch nicht mehr. Wenn ich auf die Straße gehe, fragen mich manchmal die Obdachlosen, ob ich einen Euro brauche.
Meine Frau will mich aktivieren und schafft einen Dackel an. Das ist das Ende.
Wenn der beste Freund des Mannes eine Wurst mit Beinen ist, die Purzel heißt, ist es Zeit für ihn abzutreten. Dackel wurden Anfang des 20. Jahrhunderts in England gezüchtet. Ziel der Züchtung war es, eine Nackenrolle zu haben, die selbständig in die Waschmaschine gehen kann. Ich schäme mich. Aber ich geh mit ihm spazieren. Sitze dann im Wald auf einer Bank, mein Blick fällt auf die Ameisen am Boden. Tja, die arbeiten und arbeiten, von denen sagt keine „Ich bin in Rente und mach jetzt Pilates“.

12. Februar
Bin nachts nicht müde. Wovon auch? Stehe deshalb auf, setze mich ins Auto und fahre durch die nächtliche Stadt. Ich lande bei meiner alten Firma, steige aus, streichle das Gebäude. Auf der Rückfahrt sehe ich, wie an einer Landstraße Türken auf dem illegalen Arbeitsstrich herumstehen und warten, dass sie zur Schwarzarbeit abgeholt werden. Traurig so was!

3. März
Habe mich dunkel geschminkt, mir einen Schnäuzer angeklebt und reihe mich unter die Türken an der Straße ein. Serhat, Mehmet, Übür und Öczan.
Im Auto stellt sich raus, die heißen eigentlich Franz, Theo, Günter und Willi. Und sind auch Rentner mit angeklebten Schnäuzern. Am Nachmittag – Arbeit auf einer Baustelle. Ich war lange nicht so glücklich!

12. April
Fahre jeden Morgen mit den anderen Rentnern auf die Baustelle. Nachmittags sitzen wir zusammen und überlegen, was wir noch machen könnten. Wir wollen eine Firma gründen, einen Konzern erschaffen, wir sollen ackern und malochen.
Auch mit 65 kann man noch viel bewegen! Eine Geschäftsidee für unseren Konzern haben wir auch schon: Vogelhäuschen.