Außer im Plenum fand die parlamentarische Arbeit in 16 Ausschüssen statt, deren Zahl im Laufe der Wahlperiode durch die Einsetzung weiterer Untersuchungsausschüsse zeitweise auf 20 erhöht wurde und deren Tätigkeitsbereiche den Problemen jener Zeit entsprechen. So gab es z.B. einen Ernährungsausschuss, einen Arbeitsausschuss, einen Ausschuss für Brachlandzuteilung und Gemüseanbau sowie einen Notausschuss. Die Ausschüsse waren mit je sechs Bezirksverordneten und drei Bürgerdeputierten besetzt, wobei die Bürgerdeputierten kein Stimmrecht hatten.
Wenn man die Protokolle der Plenumssitzungen der folgenden beiden Jahre liest – auf dünnem Durchschlagpapier beidseitig beschrieben – kommen die Erinnerungen wieder an eine Zeit der Not, des Hungers und der Kälte, die wir längst vergessen zu haben glaubten. Die Probleme, die es zu bewältigen galt, waren ganz anderer Art als die heutigen. Da ging es nicht um große Summen, sondern um die Zuteilung der notwendigsten Lebensmittel, um Wohnung und Bekleidung. Im Vergleich zu heute wurden relativ wenige Anträge und Anfragen gestellt – in zwei Jahren nur 200 Anträge und 81 Anfragen. Aber über alle Themen wurde ausführlich diskutiert. Und in den folgenden Sitzungen wurden die Anträge mündlich beantwortet. Am Jahresende gaben die Bezirksräte und die Ausschüsse mündliche Berichte über die geleistete Arbeit ab. Ebenfalls am Jahresende wurden diejenigen Bezirksverordneten genannt, die in Plenumssitzungen gefehlt hatten.
Anträge und Anfragen spiegeln die große Not wider, unter der die Bevölkerung zu leiden hatte. In der Zeit vom Dezember 1946 bis Dezember 1948 wurden mehrere Untersuchungsausschüsse gebildet, in denen es hauptsächlich um die Veruntreuung von Lebensmitteln, Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen ging. Diese Ausschüsse konnten Zeugen vernehmen und die Entlassung oder Versetzung unehrlicher Rathausangestellter veranlassen. Ein Bezirksrat wurde von seiner eigenen Fraktion abgesetzt, nachdem ein Untersuchungsausschuss festgestellt hatte, dass er einige Süßigkeiten aus Spenden entnommen hatte. Weiterhin ging es in diesem Untersuchungsausschuss – 15 mehrstündige Sitzungen mit 39 Zeugenvernehmungen – um 11 Pfund Fett, 5 Büchsen Milch, 20 kg Erbswurst und 2 kg Zwiebeln, deren Verbleib nicht restlos aufgeklärt werden konnte.
Weitere in der BVV behandelten Themen geben einen Einblick in die Probleme, mit denen die Bevölkerung zu kämpfen hatte. Ich möchte hier einige herausgreifen, die für die damalige Zeit typisch waren:
- Am 11. Juni 1947 wurde über die katastrophale Ernährungslage berichtet: Mehl und Zucker waren für sechs Tage, Nährmittel für vier Tage, Fleisch und Fisch für fünf Tage, Fett und Kartoffeln gar nicht mehr vorhanden.
- Es wurde nachgefragt, wie es dazu kam, dass Bürgermeister Dr. Friedensburg in der Schlachterei Kuß ein Schwein schlachten lassen konnte. Es stellte sich jedoch heraus, dass er als Mitglied eines Kleintierzüchtervereins hierzu befugt war. Das Schwein war für 20 Mitglieder des Vereins bestimmt.
- Die Reinigungsfrauen in öffentlichen Gebäuden mussten eigene Geräte mitbringen. Sie erhielten 0,60 RM/Stunde.
- Im Ernährungsausschuss wurden vier Hausfrauen als ständige Sachverständige eingesetzt.
- Zu einem Fest der Fleischerinnung gab es eine Nachfrage, woher die Erbsen stammten, die dort angeboten wurden. Die Herkunft konnte nicht geklärt werden.
- Zehlendorf konnte als erster Bezirk aus Trümmerresten Dachziegel herstellen.
- Ein starker Mangel an Arbeitskräften im Garten- und Baubetrieb führte dazu, dass Frauen für die Dauer von vier Wochen zwangsweise für diese Arbeiten eingesetzt werden mussten.
- Auf einem bezirkseigenen Gelände wurde der Müll der Amerikaner ausgewertet.
- Es wurde festgestellt , dass der Gesundheitszustand der Bevölkerung so tief gesunken war wie seit Jahrhunderten nicht. Die Säuglingssterblichkeit lag bei 11 %.
- Ein Antrag bei der Alliierten Kommandantur auf Zusatznahrung für Unterernährte wurde von dieser abgelehnt.
- Es war kein ausreichender Schulraum vorhanden. Zwei Drittel der Lehrer hatten ein Durchschnittsalter von über 50 Jahren, fast ein Drittel von über 60 Jahren.
- Eine Ehe- und Frauenberatungsstelle wurde eingerichtet.
- Am 1. Mai 1947 wurde die sogenannte “Lumpenaktion – Tausch von Alttextilien gegen Neutextilien – ins Leben gerufen.
- Das Fleisch war von so geringer Qualität und hatte einen so hohen Knochenanteil, dass die Fleischer nicht wussten, wie sie die 25-prozentige Knochenbeigabe in Einklang mit der Zuteilung bringen sollten.
- Es wurde beanstandet, dass das Bergungsamt zweifelhafte Lokale mit Möbeln ausgestattet hatte.
- Es wurden Unregelmäßigkeiten im Verteilungsamt und in der Kohlenstelle festgestellt. Drei Angestellte wurden entlassen und der zuständige Bezirksrat von seinem Posten entbunden.
- Man versuchte, in den Wärmehallen des Bezirks 20.000 bis 40.000 Zehlendorfer mit warmem Essen zu versorgen.
- Eine Ratten- und Mückenvertilgungsaktion wurde durchgeführt.
- Ein Untersuchungsausschuss sollte klären, mit welcher Berechtigung vom zuständigen Bezirksrat eine Holzaktion für Angestellte des Bezirksamtes angeordnet wurde.
Meine Damen und Herren, dieser kurze Rückblick auf die Jahre 1946 bis 1948, in die auch die Währungsreform und die Berliner Blockade fielen, sollte Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, mit welchen Problemen die Bevölkerung damals zu kämpfen hatte. Seitdem ist ein halbes Jahrhundert vergangen, und die damaligen Unterernährten kämpfen heute gegen ihr Übergewicht an.
Wenn wir uns auch infolge der Finanzmisere jetzt wieder etwas einschränken müssen, so sollten wir nicht klagen – uns geht es immer noch gut. Und in diesem Sinne möchte ich anschließend mit Ihnen auf die nächsten 50 Jahre anstoßen.