Auszug - Situation der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Spandau Gäste: SenBJW, Leitung Flüchtlingsunterkunft Spandau, Mitarbeiter der BAG Mädchenpolitik e.V.  

 
 
Öffentliche Sitzung des Jugendhilfeausschusses
TOP: Ö 3
Gremium: Jugendhilfeausschuss Beschlussart: erledigt
Datum: Di, 26.01.2016 Status: öffentlich
Zeit: 16:02 - 19:15 Anlass: ordentlichen
Raum: Sitzungszimmer 202
Ort: Rathaus Spandau, 2. Etage
 
Wortprotokoll

 

Frau Herpich-Behrens leitet in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft das Referat Soziale Dienste, Aus- und Fortbildung. Dazu gehört neben operativen Teilen des Jugendamtes wie z. B. u. a. Anerkennung von Sozialberufen und Adoptionsvermittlung auch die Erstaufnahme für unbegleitete Flüchtlinge.

 

Frau Herpich-Behrens berichtet über die Situation in Berlin. Für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge gibt es im Land Berlin die Arbeitsteilung, dass die zuständige Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft für die Erstaufnahme und das Clearing zuständig ist. Nach dem Bestellen eines Vormundes bzw. dem Ablauf von 3 Monaten gehen die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in die Obhut bzw. Fürsorge der Berliner Jugendämter über. Das wird seit vielen Jahren so gemacht und ist ein bewährtes System. Dafür gibt es eine Erstanlauf- und Clearingstelle an 7 Tagen in der Woche für 24 Stunden täglich und funktionierte bis Mitte letzten Jahres. Im Jahr 2014 kamen 1085 unbegleitete Jugendliche in der Einrichtung an und diese hat das System gut verkraftet.

 

Im vergangenen Jahr waren es im Februar noch 96 minderjährige Flüchtlinge, im gesamten Jahr dann 4252, also eine vierfache Anzahl derer aus dem Vorjahr. Seit August 2015 gab es den großen Sprung nach oben und das bisherige Jugendhilfesystem war völlig überfordert.

 

Zusätzlich gab es in der Erstaufnahmeeinrichtung im vergangenen Jahr einen Brandschaden, konnte nicht genutzt werden und es gibt einen Ausnahmezustand seit Ende April 2015.

 

Sie erläutert, wie die Plätze von manchmal über 100 täglich eintreffenden min¬derjährigen Jugendlichen akquiriert wurden. Man hat angefangen, ein Parallel¬system für die erste Unterbringung aufzubauen, und es ist ein Netzwerk mit erfahrenen Jugendhilfeträgern entstanden, die parallel sozialpädagogische Grundversorgung anbieten. Sie erläutert die Nutzung der Einrichtungen. Aktuell werden 1700 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in diesen temporären Ein¬richtungen zusätzlich zu den Jugendhilfeplätzen, die es in der Stadt gibt, unter-gebracht. In den temporären Einrichtungen werden keine kleineren Kinder untergebracht und es werden nach Möglichkeit auch keine weiblichen Jugend¬lichen dort unterbracht.

 

Zwischenzeitlich wird auch ein System bezüglich der Entgelte entwickelt, z. B ob es sich um eine Unterbringung mit Verpflegung oder ohne Verpflegung han¬delt, ob dort selbst gekocht wird, ob es sich um eine Einrichtung mit oder Wachdienst handelt. Nachdem der Aufenthalt in den temporären Einrichtungen jetzt auch länger wurde als ursprünglich gedacht, weil niemand einschätzen konnte, wie sich die Dinge entwickeln, wurden bestimmte Bestandteile, die eigentlich im normalen Clearing-Verfahren gemacht werden müssen, in den Einrichtungen organisiert. Der Schwerpunkt liegt bei den Erstuntersuchungen, die Voraussetzung für den Schulbesuch ist. Von den 1700 Minderjährigen, die derzeit untergebracht sind, sind 50 Prozent erstuntersucht.

 

Es wird mit Hochdruck an Standortsicherung gearbeitet, um reguläre Plätze zu haben.

 

In Spandau gibt es fünf Standorte mit Unterkünften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die verschieden groß sind mit einer Kapazität von insgesamt 225 Plätzen. Aktuell gibt es 148 Unterbringungen an verschiedenen Standorten. In Kladow wird demnächst eine Einrichtung eröffnet, in der ausschließlich Kinder untergebracht werden sollen. Im November gab es dazu bereits eine Anwohnerversammlung. Wenn man neue und langfristige Standorte eröffnet, dann werden Anwohnerinformationsveranstaltungen durchgeführt.

 

Mit Zustimmung des Ausschusses erhält Bezv. Kessling das Rederecht für diesen Tagesordnungspunkt.

 

Frau Herpich-Behrens beantwortet die Fragen des Bezv. Paolini, Bgd. Kroggel und von Frau Goldschmidt-Ahlgrimm nach Einzelheiten, u. a. zu Vormundschaften/Pflegschaften, die von der Senatsverwaltung beantragt werden mit anschließender Abgabe an die Bezirke, Familiennachzug,  Organisation von Übergängen bei Erreichen der Volljährigkeit.

 

Bezv. Kessling berichtet den Mitgliedern des Ausschusses über einen Einzelfall und übt Kritik an der Abwicklung der Aufnahme, die dringend überarbeitet werden muss, denn das Aufnahmeverfahren entscheidet über die Zukunft der einzelnen Flüchtlinge, denn gegen eine Clearing-Entscheidung vorzugehen ist unmöglich. Die Wupperstraße muss gestärkt bzw. eine zweite Stelle eingerichtet werden. Außerdem sollte der Betreuungszeitraum der Jugendlichen in den Einrichtungen über die Volljährigkeit hinaus erweitert werden.

 

Frau Herpich-Behrens beantwortet die Fragen der Bezv. Schneider und Apel-Sielemann nach Einzelheiten und erklärt, dass bei der Altersgrenze von 18 Jahren mit der Volljährigkeit der Jugendliche aus der Inobhutname entlassen werden muss. Dieser Vorgang wird bescheinigt, übersetzt und der jeweiligen Person die Bedeutung erklärt. Das Alter wird, wenn keine Papiere vorliegen und Zweifel bestehen, durch ein forensisches Gutachten in der Charité festgestellt. Von den in Auftrag gegebenen Gutachten bestätigen 96 % die Volljährigkeit. Es gibt auch umgekehrte Fällen, in denen behauptet wird, volljährig zu sein, jedoch daran ein Zweifel besteht.

 

Zur Erstanlaufstelle in der Wupperstraße ist zu sagen, dass es räumlich und personell Schwierigkeiten gibt. Es wird geprüft, wie die Erstaufnahmekapazitäten erhöht werden können, einen zweiten Standort gibt es daher nicht. Für Regelungen bei minderjährigen Flüchtlingsmädchen, die nach den Gesetzen in ihrer Heimat rechtmäßig verheiratet sind, werden derzeit Gespräche geführt.

 

Frau Musewski ist Einrichtungsleiterin von der Johanniter Unfallhilfe. Die Johanniter Unfallhilfe hat drei Einrichtungen, eine davon in Spandau. In der Einrichtung in Spandau gibt es eine Kapazität von 89 Betten. Sie ist damit eine von den großen Einrichtungen und fast immer voll belegt mit männlichen Jugendlichen. Die Verweildauer liegt bei 3 - 4 Monaten, es handelt sich in der Einrichtung um Jugendliche mit Original-Pässen und fast ausschließlich Syrern im Alter von 14 - 17 Jahren, die meisten sind jedoch 16 bis 17 ½ Jahre. Eine Besonderheit der Einrichtung ist, dass sie eine ambulante Clearingstelle sind. Die Träger, die schon langjährige Erfahrung mit dem Clearing haben, kommen ambulant in die Einrichtung und verabreden sich mit den Jugendlichen, für die sie Clearing-Betreuer sind. Es stehen damit mehr Clearing-Plätze zur Verfügung und das Verfahren wird um 2 Schritte verkürzt.

 

Nach anfänglichen interkulturellen Konflikten ist es in der Einrichtung jetzt besser geworden. Die Konflikte bei den Jugendlichen wachsen in erster Linie durch den Frust, der durch das Warten entsteht.

 

In einer Diskussion, an der sich BzStR Hanke, Herr Segina, die Bezv. Mross, Schneider, Müller und Bgd. Baron beteiligen, werden u. a. folgende Punkte angesprochen:

 

- Die Spandauer Einrichtung profitiert von einer Psychologin im Haus. Es gibt pädagogische Fachkräfte vor Ort, die arabisch, kurdisch und türkisch sprechen. Es sind 3-7 Mitarbeiter vor Ort, nachmittags 5-7 Mitarbeiter und davon 1-2 pädagogische Kräfte. Die Einrichtung hat eine 24-Stunden-Betreuung und es ist immer Security vor Ort. Die Security wird so eingeteilt, dass meist auch hier noch sprachliche Unterstützung vorhanden ist.

 

- Die Versorgung erfolgt durch einen Caterer vor Ort im Haus.

 

- Vormittags gibt es im Hause Deutschunterricht in Kooperation mit der Volkshochschule für die Jugendlichen, die noch nicht die Schule besuchen dürfen. Nachmittags gibt es verschiedene Angebote und Kooperation mit offenen Sportangeboten, und zwar regelmäßige Angebote. Einzelangebote sind koordinativ ein immenser Aufwand und das kann nicht geleistet werden.

 

- Frau Musewski erfährt großartige Kooperation in Spandau wie z. B. mit dem Medienkompetenzzentrum, "bewegt e. V.", verschiedenen Jugendclubs, der Jugendtheaterwerkstatt sowie den Sportvereinen. Die Angebote werden sehr gut angenommen.

 

- Die Mitarbeiter sind angeregt, weder Glauben einzuschränken noch zu bestärken. Einige Jugendliche haben inzwischen eigene Gebetsteppiche und es gibt Gebetsteppiche, die ausgeliehen werden können. Verschiedene Räume, die nicht regelmäßig in Benutzung sind, werden zum Beten aufgeschlossen oder die Jugendlichen ziehen sich in ihre eigenen Zimmer zurück. Es gibt leider keine Kapazität, einen eigenen Raum zum Beten einzurichten.

 

- Die Situation des ambulanten Clearings ist aufgrund der akuten Lage eine gute Einrichtung, langfristig muss jedoch wieder über die Abschaffung nachgedacht werden, da es mehr Arbeit in der Einrichtung macht bezüglich der Zusammenarbeit mit den Clearingbetreuern und den Berichten.

 

Herr Kammer, Jugend- und Diversionsbeauftragter im Stabsbereich 42 in Ruhleben ansässig, erläutert den Mitgliedern des Jugendhilfeausschusses, dass die polizeilichen Probleme in Spandau nicht in Verbindung mit minderjährigen Flüchtlingen zu sehen sind. Es gibt keinen erhöhten Bedarf an Sachbearbeitung oder im Bereich der Prävention Stellen zu kompensieren. Die jungen Menschen, die aus Sicht der Polizei in den Einrichtungen hervorragend betreut werden, haben andere Probleme als straffällig zu werden.

 

Die Polizei befasst sich mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in erster Linie im Bereich der Prävention und Repression. Die größte Baustelle gibt es tatsächlich dann in der Strafverfolgung bei Einzelfällen beim Umgang mit ihnen im Straf- und Ermittlungsverfahren. Hier gibt es Probleme, die die Vormundschaft begründen. Es gibt keinen Erziehungsberechtigten bzw. Vormund als Ansprechpartner, der wichtig wäre. Ferner gibt es das Problem der teilweise kurzen Verweildauer, die die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in den Einrichtungen haben und die Polizei reist ihnen mit ihrer örtlichen Zuständigkeit oft hinterhert. Es ist sehr schwierig, dann in der polizeilichen Sachbearbeitung die Jugendlichen noch zu erreichen. Es gibt Probleme bei der Sprachvermittlung und es schwierig, Dolmetscher zu finden, die vereidigt sind.

 

Seit Ende letzten Jahres hat die Polizei den ersten unbegleiteten Flüchtling auch als Intensivtäter eingestuft, aber auch das ist noch ein werdender Prozess. Es gibt viele Baustellen in der Bearbeitung und im Umgang, es gibt jedoch tatsächlich keine Fallzahl im Bereich Spandau, die belastend ist.

 

Die Kooperation und Zusammenarbeit ist sehr gut. Die Polizei arbeitet u. a. eng mit dem Arbeitsgebiet der interkulturellen Kompetenz zusammen. Hier gibt es Mitarbeiter, die zum großen Teil auch mehrsprachig aufgestellt sind und als Ansprechpartner fungieren.

 

Im Bereich der Prävention ist es schwierig, auch hier wegen der kurzen Aufenthaltsdauer in einer Einrichtung und den Sprachschwierigkeiten.

 

Die Vorsitzende stellt fest, dass die Ausführungen ihren Eindruck bestätigen. In der Fülle, in der Spandau mit Flüchtlingen umgehen musste und muss, geht es bis auf ein paar Ausnahmen sehr freundlich und ruhig zu. Sie spricht der Bevölkerung und Betroffenen Personen Hochachtung aus.

 

BzStR Hanke erläutert abschließend die große Willkommenskultur in Spandau mit viel Unterstützung auf allen Seiten.

 

Die Vorsitzende bittet alle Fragen, die die Mitglieder jetzt noch haben bzw. aufkommen, schriftlich zu verfassen, ihr zukommen zu lassen und sie wird diese dann entsprechend ´zur Beantwortung weiterleiten.


 
 

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