SFZ Schwerpunkt Literacy

Inhalt

Heike Schimkus: Aufs Lesen vorbereiten

Dagmar Buchwald: Lesen in der Grundschule

Aufs Lesen vorbereiten

Literacy in der Kita - Titelblatt

Immer wieder treffen wir auf verunsicherte Erzieherinnen, von denen Eltern, aber auch Lehrerinnen erwarten, dass sie den Kindern in Vorbereitung auf die Schule schon mal das Lesen und Schreiben von Buchstaben beibringen sollen.
Ja, entsprechend dem Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege sollen Kitaerzieherinnen die Kinder auf den Umgang mit der Schriftsprache vorbereiten. Es gehört aber nicht zu ihren Aufgaben, den Kindern gezielt Buchstabenkenntnisse oder Lesestrategien zu vermitteln.

Was ist eigentlich Literacy?

Recherchiert man in der Fachliteratur, was in der Kita bezügliche der Schriftsprachkompetenzen zu tun ist, stolpert man unweigerlich über den Begriff „Literacy“. Der Begriff stammt aus dem angloamerikanischen Raum und über die genaue Definition wird noch heftig diskutiert.
Im online-Handbuch der Kindergartenpädagogik findet sich folgende Version: „Mit dem Begriff “Literacy” werden nicht nur die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens bezeichnet, sondern auch Text- und Sinnverständnis, Erfahrungen mit der Lese- und Erzählkultur der jeweiligen Gesellschaft, Vertrautheit mit Literatur und anderen schriftbezogenen Medien (inklusive Internet) sowie Kompetenzen im Umgang mit der Schriftsprache.“ (siehe M. Textor: „Literacy-Erziehung im Kindergarten)
So gesehen gibt es in unserem alltäglichen Leben keine Situation, in der wir nicht von Literacy umgeben wären. Die Beherrschung der literalen Basisqualifikationen ist für das erfolgreiche Meistern unseres Alltags eine grundlegende Voraussetzung und ihre Förderung sollte bereits weit vor dem Schuleintritt beginnen.

Wie sollen die Erzieherinnen die Kinder auf den Erwerb von Schriftsprache vorbereiten?

Die Antwort ist aus unserer Sicht relativ einfach: In den Kitas soll den Kindern, und hier besonders denen aus eher bildungsfernen Elternhäusern, Lust auf das Lesen und Schreiben gemacht werden.
Die Erzieherinnen sollten vor allem auf ihre Vorbildfunktion achten, bei den Kindern eine emotional positive Beziehung zur Schrift herstellen und die Vorteile von Schriftkenntnissen aufzeigen.
Dazu gehört eine angenehme Atmosphäre in Vorlesesituationen genauso dazu wie das simple verschriftlichen von Kinderäußerungen, um den Kindern zu zeigen, dass man mit Schrift mündliche Äußerungen festhalten kann, die sonst verloren gingen.

Reicht es aus, aus Bilderbüchern vorzulesen?

Eine der wichtigsten Aktivitäten im Zusammenhang mit Literacy ist das Betrachten von Bilderbüchern. Zahlreiche Studien der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass Kinder, die vor der Einschulung nicht an den Umgang mit Büchern herangeführt wurden, Schwierigkeiten haben, sich die Schriftsprache anzueignen. Es wird dabei jedoch leicht übersehen, dass das Vorlesen schon einen recht vertrauten Umgang mit sprachlichen Texten voraussetzt.
Kinder, die diesen Umgang von zu Hause her kennen, hören beim Vorlesen mit Begeisterung zu. Kinder, die diese Voraussetzungen nicht mitbringen, werden dagegen unruhig oder wenden sich andern Tätigkeiten zu. Diese Kinder müssen also auch erst einmal auf Bilderbuchbetrachtungen vorbereitet werden.

Hier hat sich eine Kombination aus dem Erzählen einer kurzen Geschichte, dialogischem Vorlesen und Nachspielen der Geschichten als praktikabel und sinnvoll herausgestellt. Dabei sollte der Gebrauch von langen, verschachtelten Sätzen, wie sie Bilderbücher, aber auch Märchen oft beinhalten, anfangs möglichst vermieden werden und erst nach und nach eingeführt werden. Eine ausführliche Darstellung dieser Vorgehensweise würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen.

Wie kann Literacy noch gefördert werden?

Weiterhin gibt es aber noch ein ganzes Bündel von sogenannten Vorläuferfähigkeiten, die notwendig sind, um Kinder in die Lage zu versetzen, sich mit Schriftsprache auseinanderzusetzten:
visuelle Differenzierung, Figur-Hintergrund-Wahrnehmung, auditive Wahrnehmung und –differenzierung, Schulung des Arbeitsgedächtnis, Raumlage-Beziehungen, Serialität, Auge-Hand-Koordination.
Das klingt kompliziert, ist es aber nicht. Diese Fähigkeiten können in simplen Tätigkeiten wie malen, basteln, singen, bewegen und spielen gefördert werden.
In der folgenden Grafik sind weitere Möglichkeiten der Literacyförderung benannt.

Wie kann Literacy gefördert werden

Darf man Kindern in der Kita also keine Buchstaben beibringen?

Natürlich darf man Kindern in der Kita schon das Lesen und Schreiben von Buchstaben beibringen, wenn sie sich dafür interessieren. Allerdings sollte dabei beachtet werden, dass der jeweilige Laut und nicht der Name des Buchstaben benannt wird also z.B. /m/ und nicht „em“. Auch können den Kindern sowohl die großen als auch die kleinen Buchstaben gezeigt werden.
Auf Schreibübungen sollte allerdings verzichtet werden, lassen Sie die Kinder die Buchstaben „malen“, aber nicht schreiben. Oft prägen sich die Kinder falsche Schreibrichtungen ein, die in der Schule nur schwer zu korrigieren sind.

Literaturverzeichnis:

  • Textor, M.R.: Literacy-Erziehung im Kindergarten; Stand Juni 2015
    online verfügbar
  • SenBJW Berlin: Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege, Verlag das Netz, Berlin 2014
  • Tenta, H.: Literacy in der Kita; Don Bosco Verlag, München 2009
  • Mehr Zeit für Kinder (Hrsg.): Sprich mit mir; Proost NV Belgien 2004
  • Ehlich K.; Bredel, U.; Reich, H.: Referenzrahmen zur altersspezifischen Sprachaneignung; BMBF, Berlin 2009

Heike Schimkus
© Regionales Sprachberaterteam für vorschulische Sprachförderung im SFZ
August 2015

Dagmar Buchwald: Lesen in der Grundschule

Der Schriftspracherwerb und die Entwicklung der Lesekompetenz verlaufen bei Grundschulkindern in einem ganz unterschiedlichen Tempo. Wie kommt das? Wie kann die Lesefähigkeit eines Kindes richtig eingeschätzt werden und welche Verfahren der Leseförderung unterstützen die einzelnen Komponenten der Lesekompetenz?

Familie beim Geschichten vorlesen

Wichtige Vorerfahrungen vor Eintritt in die Schule

Kinder bringen ganz unterschiedliche Erfahrungen, Fähigkeiten und Kompetenzen mit in die Schule. Zentrale Voraussetzungen für die erfolgreiche Entwicklung (schrift-)sprachlicher Kompetenzen sind unter anderem die auditive Merkfähigkeit und die phonologische Bewusstheit, also die Fähigkeit, die lautliche Struktur der gesprochenen Sprache zu analysieren und zu verändern. Fehlende kognitive Prozesse können den Kindern das Lesen schwer machen.
Von großer Bedeutung ist ein großer aktiver und passiver Wortschatz. So kann ein Satz schwer zu lesen sein, weil der Sinn eines oder mehrerer Wörter nicht verstanden wird. Weiterhin sind Einsichten in syntaktische Strukturen wichtig, um Texte verstehen zu können (grammatische Entwicklung).
Der Schriftspracherwerb beginnt in der Regel in der Schule. Verschiedene literarische Vorerfahrungen werden jedoch schon vor dem Eintritt in die Schule gemacht. Viele Kinder kennen sehr wohl die Bedeutung von Schrift, sind durch das Vorlesen mit Geschichten vertraut und haben eine Vorstellung über den Aufbau von Geschichten erworben. Viele Kinder erkennen schon einzelne Buchstaben und können ihren Namen schreiben.
Verfügen Kinder in einem oder mehreren Bereichen nicht über genügend ausgeprägte Fähigkeiten, müssen sie in diesen Bereichen besonders unterstützt und gefördert werden. Das setzt eine präzise Diagnose (oder die Bestimmung der Lernausgangslage) und Dokumentation der Lernentwicklung voraus. Möglichkeiten bieten dazu die neu entwickelte LauBe oder auch Ilea.

kleines Mädchen über einem Brief

Erwerb von Lesekompetenz in der Grundschule

In der Schulanfangsphase werden die basalen Lesefähigkeiten vermittelt, die von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung von Lesekompetenz sind. In verschiedenen Stufenmodellen wird dargelegt, wie die Entwicklung des Lesens (und Schreibens), also der Schriftspracherwerb, erfolgt. Scheerer-Neumann beschreibt in ihrem Stufenmodell die Entwicklung des Wortlesens und zeigt auch Angebote zur Weiterentwicklung auf. Unterschieden werden:

Logografische Strategie: Wörter werden ohne Einsicht in die Lautstruktur an charakteristischen Details von Wörtern erkannt (Wortbilder, z.B. Logos oder der eigene Name). Für die Weiterentwicklung und der Erreichung der nächsten Stufe sind Übungen zur Phonologischen Bewusstheit, Übungen zur Phonem-Graphem-Zuordnung und Syntheseübungen mit kleinen Einheiten geeignet.

Alphabetische Strategie: Grapheme werden Lauten zugeordnet und Wörter, auch unbekannte, werden synthetisierend erlesen. Dieser Strategie muss besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden und sie muss vielfältig geübt werden. Geeignet zur Förderung und Weiterentwicklung sind weitere Phonem-Graphem-Übungen, Übungen im Segmentieren und Übungen von Wörtern mit schwieriger Konsonantenhäufigkeit.

Orthografische Strategie: Größere funktionale Einheiten (Silben, Morpheme und häufige Wörter werden gelesen. Das Kind nutzt orthografische Strukturen und erkennt spezifische Wörter automatisch. Das Kind verfügt über einen Sichtwortschatz (eine Auswahl von Wörtern, die ohne vollständiges Erlesen wiedererkannt werden). Auf dieser Stufe eignen sich weitere Übungen im Segmentieren und vielfältige Leseübungen mit im Schwierigkeitsniveau angepassten Texten.

Das SFZ bietet zu den Themen des Schriftspracherwerbs Beratungen und Fortbildungsveranstaltungen an, in den empfohlenen Handreichungen (siehe Literaturliste) findet man eine Vielzahl entsprechender Übungen und Fördermöglichkeiten.

aufgeschlagenes Buch, aus dem Gegenstände rausfliegen

Nach dem Erstleselehrgang in der Schuleingangsphase setzt schnell die Automatisierung der Worterkennung ein. Der Aufbau eines Sichtwortschatzes von circa 300 Wörtern benötigt jedoch einige Zeit. Anhand vielfältiger kurzer und einfach zu lesender Texte kann der Sichtwortschatz aufgebaut werden, leider bleibt der Inhalt dieser Texte oft hinter den Ansprüchen und Erwartungen der Kinder zurück. Deshalb ist es wichtig, weiterhin die Motivation und Neugier aufrechtzuerhalten, durch vielfältige Verfahren zum Lesen zu animieren und auch weiter spannende, lustige und interessante Texte vorzulesen.

Ab etwa dem neunten Lebensjahr sind bei einem großen Teil der Kinder die Automatisierung der Worterkennung und das flüssige Lesen fortgeschritten. So können diese Kinder dann endlich auch die Lektüre lesen, die ihren Bedürfnissen entspricht und eine Viellesephase setzt ein. Kinderbücher und längere Texte können jetzt gelesen werden, doch sollte noch auf eine einfache Sprache in Büchern geachtet werden. Am Ende der Kindheit, also vor Eintritt in die Pubertät ist es diesen Kindern möglich, auch anspruchsvollere Texte zu lesen. Die Automatisierung ist so stark, dass Kindern genügend Ressourcen zum Textverstehen, zur denkenden Verarbeitung und Reflexion des gelesenen Textes zur Verfügung stehen. Wichtig in dieser Phase ist auch die Entwicklung von Engagement beim Lesen, besonders dann, wenn das eine oder andere Kind noch Probleme beim Entziffern hat. Haben Kinder in dieser Phase keine positiven Lesevorbilder, fehlen ihnen Erfolge und der Spaß am Lesen, kann es zu einem Rückgang des Leseinteresses kommen.

Erfahrungsgemäß kommt es bei vielen Jugendlichen in der Pubertätsphase zu einem „Leseknick“. Das Lesen von Kinder- und Jugendbüchern scheint Jugendlichen in dieser Altersgruppe langweilig und nicht unbedingt spannend. Jungen sind mehr davon betroffen als Mädchen. Wurde allerdings in den lesefreudigeren Lebensphasen das Lesen mit Genuss in Verbindung gebracht, können Heranwachsende von einschneidender Leseunlust während des „Leseknicks“ zumindest weniger stark betroffen sein.

Jungen und Mädchen entwickeln nach Müller-Walde unterschiedliche Leseinteressen. Die Auswahl des Lesestoffes ist durchaus unterschiedlich, Mädchen haben durchschnittlich eine positivere Einstellung zum Lesen als Jungen. Jungen lesen mit einem Ziel, ziehen Sachbücher vor und wenn fiktionale Texte gelesen werden, dann eher Krimis, Science-Fiction oder Fantasieromane. Mädchen bevorzugen Literatur, die sie emotional oder psychisch anregt.
In der PISA-Studie heißt es: „Während bei Erzählungen, Argumentationen sowie Darlegungen recht große Geschlechterunterschiede zu Gunsten der Mädchen zu verzeichnen sind, ist die Differenz bei Tabellen und Diagrammen erheblich kleiner.“ Auch erreichen Mädchen eine höhere Lesegeschwindigkeit als Jungen. Allgemein kann man sagen „je anspruchsvoller die Aufgaben, desto größer der Abstand zwischen Mädchen und Jungen, desto besser schneiden die Mädchen ab.“

Mädchen liegt auf einer Wiese und liest ein Buch

Was bedeutet Lesekompetenz?

Lesen bezeichnet eine äußerst komplexe Tätigkeit und ist durch ein Bündel an Fähigkeiten gekennzeichnet.
PISA definiert Lesekompetenz („reading literacy“) als:

„…Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“

Danach bedeutet Lesekompetenz vielmehr als ‘einfach nur zu lesen‘, sondern umfasst sowohl die kognitiven Grundfähigkeiten, das Arbeitsgedächtnis, die Dekodierfähigkeit, das Lernstrategiewissen als auch das Leseinteresse sowie die Fähigkeit über Gelesenes zu reflektieren und das Gelesene zu bewerten. Lesen findet also vielschichtig auf mehreren Ebenen statt.

Mehrebenenmodell des Lesens nach Rosebrock und Nix

Modell des Lesens nach Rosebrock

Erläuterung des Modells:

Die Prozessebene stellt die mentalen Prozessleistungen dar, die während des Lesens begleitend erbracht werden (kognitive Prozesse). Man unterscheidet dabei hierarchieniedrige Leistungen, wie das Dekodieren einzelner Buchstaben, das Erkennen von Wörtern, die Leseflüssigkeit, die Satzidentifikation (entspricht ungefähr der Kompetenzstufe 1 Vera) und die Herstellung eines sinnvollen Zusammenhangs zwischen zwei oder höchstens drei Sätzen, also lokale Kohärenz (entspricht der Kompetenzstufe 2 Vera). Wenn diese hierarchieniedrigen Leistungen bei einem Leser, wie es bei Leseanfängern der Fall ist, nicht automatisiert sind, braucht der Leser den größten Teil seiner kognitiven Fähigkeiten, um Sätze zu entziffern. Für das Textverständnis fehlt dann die Kapazität.
Zu den hierarchiehohen Leistungen gehört die Herstellung der globalen Kohärenz eines Textes. Der Zusammenhang des gesamten Textes wird verstanden. (entspricht Kompetenzstufe 3 Vera: verstreute Informationen miteinander verknüpfen und den Textzusammenhang erkennen).
Um Kohärenz herzustellen, greift der Leser auf sein Vorwissen über Texte als auch auf Weltwissen zurück. Der Leser muss Superstrukturen im Text erkennen können. Mit Superstrukturen meint man das Erkennen der Organisationsform eines Textes, der Textstruktur (hauptsächlich der Gliederung) und die Textsortenkenntnis (Kompetenzstufe 4 Vera: Verknüpfen von z.B. Grafik und Text).
Die höchsten kognitiven Anforderungen werden an den Leser gestellt, wenn er Darstellungsstrategien identifiziert. Darstellungsstrategien sind indirekte Formen des Ausdrucks und der Darstellung, wie z. B das Spiel mit Erzählkonventionen in einer Märchenparodie. Wenn der Leser sie nicht erkennt, stiftet der Text Verwirrung, statt zu erheitern. Textsortenwissen spielt hier ebenfalls eine große Rolle.

In die Subjektebene fließen das Vorwissen des Lesers aber auch die Motivation und die Reflexion über das Gelesene mit ein. Leser benötigen während des Lesens Engagement. Wenn das Engagement vorhanden ist, hat der Leser ein positives Selbstkonzept. Positive oder auch negative Selbstkonzepte (vertrauen in die eigenen Fähigkeiten) beruhen auf einer langen Lerngeschichte und sind abhängig vom Milieu, von Vorbildern und Erfahrungen in der Schule, der Familie und mit Freunden (hier klicken). Positive Überzeugungen wie „Ich bin ein guter Leser.“ (Das dicke Buch schaffe ich.) oder aber negative Überzeugungen wie „Ich bin ein schlechter Leser.“ (Der Text ist viel zu lang, das schaffe ich doch nie!) sind sehr verfestigt.

Literarische Erfahrungen und natürlich das Lesenlernen sind von Anfang an sozial eingebettet. Die soziale Ebene ist bedeutsam für die Entwicklung von Lesekompetenz. Lesen ist an Interaktion gebunden. Der Austausch über das Gelesene geschieht mit anderen, z.B. im Unterricht, in der Familie, im Freundeskreis, und ist ein Antrieb für die Weiterentwicklung von literalen Kompetenzen. Kinder, die gern lesen, haben meist einen familiären Hintergrund, der sie direkt oder indirekt zum Lesen motiviert. Auch das, was gelesen wird, ist oft abhängig von anderen. Was wir lesen und wie wir lesen ist von der jeweiligen Situation abhängig, sei es in der Schule beim Bewältigen von Leseaufgaben, beim Lesen von Bauanleitungen oder Kochrezepten oder ganz einfach beim Lesen einer SMS oder einer Gratulationskarte.

Lehrerin liest den Kindern ein Buch vor

Fördermöglichkeiten

Aus der Beschreibung des Kompetenzmodells wird klar, dass es nicht reicht, Leseförderung nur auf eine Komponente des Lesens zu richten. Leseförderung muss alle Dimensionen des Lesens im Auge haben. Es reicht nicht aus, nur zum Lesen zu animieren oder einzelne Strategien einzuführen. Viele Kinder haben Probleme bei den ganz basalen Leseprozessen. Dazu gehören, wie oben beschrieben, die Automatisierung der Dekodierfertigkeit und die Leseflüssigkeit. Man muss bei diesen Kindern also viel niedriger ansetzen.

Vor jeder Planung von Lesefördermaßnahmen sind Überlegungen wichtig wie:
  1. Können die Kinder einfache Texte flüssig lesen?
  2. Verstehen die Kinder den Sinn des Gelesenen?
  3. Können die Kinder einen Text einordnen?
  4. Haben die Kinder Spaß am Lesen? Halten sie sich für gute Leser?
  5. Können die Kinder am kulturellen Lesen teilnehmen?
  6. Vor welchen Hürden stehen z.B. mehrsprachige Kinder möglicherweise mit Blick auf den Lerngegenstand?

Daraus können Schlüsse für das Ergreifen geeigneter Fördermaßnahmen gezogen werden wie:

  • Übungen im Dekodieren
  • Leseflüssigkeitstraining durch geeignete Lautleseverfahren
  • Vielleseverfahren
  • Begleitende Aufgaben zum Textverstehen
  • Einführung und Training von Lesestrategien
  • Leseanimation und Lesemotivation

Im Folgenden werden einige Lesefördermaßnahmen vorgestellt.

Zwei_Kinder_lesen_ein_Buch

Training der Leseflüssigkeit

Leseflüssigkeit muss als eine Brücke verstanden werden. Sie verbindet das Dekodieren mit dem Leseverstehen, das heißt, Leseflüssigkeit an sich schafft noch kein Leseverständnis. Sie entlastet aber das Arbeitsgedächtnis und erst dadurch kann der Leser die Aufmerksamkeit auf die für das Verständnis von Texten notwendigen Prozesse lenken wie zum Beispiel Schlüsse ziehen, Zusammenhänge erkennen und Vorhersagen treffen.

Leseflüssigkeit umfasst das Dekodieren von Wörtern und die Automatisierung der Dekodierprozesse. Schwache Leser dekodieren Wörter öfter nicht richtig und korrigieren sich auch seltener. Man kann davon ausgehen, dass ein Text erst bei 95% fehlerlos kodierter Wörter verstanden wird, die Automatisierung schafft, wie schon beschrieben, Kapazitäten für die weiteren Prozesse. Aus dem Grad der Automatisierung und des genauen Dekodierens ergibt sich die Lesegeschwindigkeit. Lesegeschwindigkeit ist aber auch abhängig vom Schwierigkeitsgrad des Textes. Reicht die Lesegeschwindigkeit nicht aus, kann sich der Leser nicht daran erinnern, was er gerade gelesen hat.

Wie können nun die Wort- und Satzerkennung und die Leseflüssigkeit gefördert werden? Eine einfache Antwort: Durch Üben. Es muss sichergestellt werden, dass diese Kinder auch wirklich lesen und sie müssen ständig dazu ermuntert werden. Gute Erfolge lassen sich auch durch Lautleseverfahren nachweisen. Zu den Lautleseverfahren gehören Übungsverfahren wie:
  • Wiederholtes Lautlesen (nicht zu verwechseln mit dem ineffektiven Reihum-Lesen)
  • Üben in Lautlesetandems
  • Training mit Hörbüchern
  • Lesetheater

Vielleseverfahren

Vielleseverfahren zielen auf die Steigerung der Leseleistungen auf allen Prozessebenen und auf die Steigerung der Motivation ab. Sie trainieren die Selbststeuerung und betreffen das Selbstkonzept. Vielleseverfahren verlangen Engagement und Ausdauer und beziehen sich auf die Lesemenge. Gerade Kinder, die in einem wenig anregenden Umfeld aufwachsen, können durch ein lesekulturelles Klima an der Schule angeregt und unterstützt werden. Mit ein wenig Nachdruck, was die Lesemenge angeht, und positiven Vorbildern kann eine gute Lesesozialisation gelingen.

Lesestrategien und Hilfen zum Textverstehen

Lesestrategien zielen auf das Verstehen von Texten und Textsequenzen. Sie trainieren die metakognitive Steuerung und das Überprüfen von Leseprozessen. Man unterscheidet allgemein Hilfen und Strategien vor dem Lesen, während des Lesens und nach dem Lesen. Beim Trainieren von Strategien werden Kindern Wege der Textbegegnung bewusst gemacht und ‚Werkzeuge‘ an die Hand gegeben, die beim Herstellen von Zusammenhängen innerhalb des Textes und dem eigenen Vorwissen genutzt werden können. Wichtige Strategien sind die Aktivierung des Vorwissens, das Formulieren von Fragen an den Text, das Klären von Unklarheiten, das Vorhersagen des weiteren Textinhalts sowie das Zusammenfassen von Textabschnitten bzw. des gesamten Textes.

Im SFZ finden Fortbildungsreihen statt z.B. zu den Themen:

Basale Fähigkeiten trainieren, Diagnose, Training von Leseflüssigkeit, Didaktisieren von Texten, Lesestrategien und Hilfen, Entwicklung individueller Leseprozesse, Wortschatzarbeit, Anbahnen erster grammatischer Erfahrungen durch literarische Texte,…

Diese Fortbildungsreihen richten sich an alle pädagogischen Fachkräfte einer Grundschule und Lesepaten, aber auch an weitere Interessierte.

Literaturliste

  • Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.), Materialien zum Sprachlernen in Kitas und Grundschulen, 2005 (Der grüne Ordner)
  • Eder, Katja: „Es fährt ein Bus durchs ABC“ Kitakinder und Grundschulkinder begegnen gemeinsam der Schriftsprache; Hrsg. Landesinstitut für Schule und Medien Berlin Brandenburg, Ludwigsfelde 2014
  • Hoppe, Irene; Schwenke, Jutta: Auf den Anfang kommt es an, Basale Lesefähigkeiten sicher erwerben; Hrsg.: Landesinstitut für Schule und Medien Berlin Brandenburg, 2013
  • Hoppe, Irene: In Lesewelten hineinwachsen, Leseförderung in der flexiblen Schulanfangsphase; Hrsg.: Landesinstitut für Schule und Medien Berlin Brandenburg, 2012
  • Deutsches Pisa-Consortium 2001, S.23; OECD, 2009a, S. 23; Übersetzung: BIFIE
  • Rosebrock, Cornelia; Nix, Daniel: Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2008. S.16-29
  • Rosebrock, Cornelia; Nix, Daniel: Leseflüssigkeit fördern: Lautleseverfahren für die Primar- und Sekundarschule, Klett/Kallmeyer
  • Bertschi-Kaufmann, Hagendorf, Kruse u.a.: Lesen. Das Training, Lesefertigkeit – Lesegeläufigkeit – Lesestrategie, Lernbuchverlag vpm

Dagmar Buchwald
© LLW Sprachbildung im SprachFörderZentrum Berlin Mitte
August 2015