Rede des Bezirksbürgermeisters von Berlin Mitte, Stephan von Dassel, zum Gedenken an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlichen Dank, dass Sie heute zur Gedenkstätte gekommen sind, um den Opfern des 17. Juni 1953 zu gedenken. Der Gedenktag zum 17. Juni hat eine lange und wechselvolle Geschichte. 1954 wurde er in West-Deutschland das erste Mal begangen. Als Tag der Deutschen Einheit war er Erinnerung an den Volksaufstand und dessen Niederschlagung in der DDR. Gleichzeitig sollte er als nationaler Gedenktag das Ziel der Wiedervereinigung wachhalten, gleichzeitig aber auch die Verhältnisse und die mangelnde Freiheit in der DDR anprangern. Bis zur Wiedervereinigung wurde er von vielen zunehmend nur noch als Ritual verstanden, dessen Inhalt der friedlichen Co-Existenz mit der DDR mehr schadete als nutzte. Mit der Deutschen Einheit war der Gegenstand des Gedenkens plötzlich Realität. Die friedliche Wende von 1989 schien der logische Schlusspunkt aller 46 Jahre zuvor noch brutal beendeten Bemühungen um Freiheit, Gerechtigkeit und der – erst im späteren Verlauf des Volksaufstandes erhobenen Forderungen nach nationaler Einheit zu sein. Fortan befand sich das Gedenken ein bisschen im luftleeren Raum zwischen historischem Bewusstsein und tagesaktuellem „Einheitsgeschäft“. Jüngere Menschen faszinierte weniger der Mut und die Entschlossenheit der damals Protestierenden als die Möglichkeit, sich ganz ohne Handy und soziale Medien zu vernetzen und binnen weniger Stunden zu einer sehr kritischen Masse anzuschwellen. Einen neuen Blick auf den 17. Juni habe ich erst im Zusammenhang mit dem sog. arabischen Frühling wahrgenommen, den vielfältigen Protesten gegen die verkrusteten Machtverhältnisse, die immer gleichermaßen Freiheitsrechte und eine gerechte wirtschaftliche Entwicklung einforderte und das Gebaren der Mächtigen kritisierte. Vor diesem Hintergrund wirkte der 17. Juni plötzlich als Blaupause vieler späterer Volksproteste und Volksaufstände. Im öffentlichen Bewusstsein stieg seine „Reputation“ als ziviler Protest gegen Staatsversagen und Machtmissbrauch.

Mit dem heutigen Tag erfährt der 17. Juni eine erneute Neuinterpretation. Rechte Splittergruppen wie die sog. identitäre Bewegung wollen sich ihm als Symbol bemächtigen. Ihr Protest gegen den demokratisch legitimierten Staat soll mit Bezug zu den damaligen Protesten als Widerstand gegen Staatsgewalt und Unterdrückung veredelt werden. So wirr und anmaßend dieser Versuch ist, so wichtig ist es, dass er nicht unwidersprochen bleibt. Ein breites gesellschaftliches Bündnis macht diesen Tag als Gegenentwurf zur rechten Vereinnahmung zu einem Tag der Demokratie, der Vielfalt und der gerechten Teilhabe aller an unserer Gesellschaft. Was könnte es Schöneres geben als die vielerorts aufgestellten offenen Tafeln, an denen gemeinsamen gesessen, gegessen, getrunken und vor allem geredet werden kann. Es ist faszinierend, welche Kraft der 17. Juni heute noch ausstrahlen kann.

Ich bitte Sie nun, in Trauer, aber auch Respekt vor und Anerkennung für den damalige Protest, seinen Mut, vor allem die damaligen Überzeugungen der Menschen den Opfern des 17. Junis 1953 zu gedenken.

Sehr geehrte Damen und Herren, vielen Dank, dass Sie den Opfern des 17. Juni 1953 für einen Moment still gedacht und dass Sie an unserer Gedenkfeier teilgenommen haben. Wie man liest, war auch der 17. Juni 1953 ein warmer und sonniger Tag wie heute. Vielleicht hilft uns diese Parallelität des Wetters ein bisschen länger als üblich bei den Menschen zu verweilen, die für ihre berechtigten Forderungen mit dem Leben oder Gefängnisstrafen und jahrelangen Benachteiligungen bezahlt haben. Bleiben wir diesen Menschen verbunden, in dem wir uns verpflichten, gemeinsam für ihre Sache einzustehen: für Demokratie, für gerechte wirtschaftliche Verhältnisse und eine Gesellschaft, in der alle Menschen die gleichen Chancen auf ein selbstbestimmtes und glückliches Leben haben.