179. Kiezspaziergang

Vom Karmielplatz zum S-Bahnhof Messe-Süd

Bezirksbürgermeister Reinhard Naumann

Treffpunkt: S-Bahnhof Grunewald / Ausgang Karmielplatz
Länge : ca. 1,7 km

Herzlich willkommen zu unserem 179. Kiezspaziergang. Der Novemberspaziergang steht alljährlich in enger Verbindung zur Reichspogromnacht, dem 9. November 1938. Deshalb werden wir heute vor allem das Mahnmal Gleis 17 besuchen. Ziel ist der S-Bahnhof Eichkamp / Messe Süd.

Doch bevor wir beginnen, möchte ich Ihnen, wie immer, den Treffpunkt des Dezemberspaziergangs mitteilen. Wir treffen uns am Samstag, den 10. Dezember, um 14 Uhr am Platz des Wilden Ebers. Diesen erreichen Sie mit dem Bus 110. Von dort aus gehen wir ein Stück die Lentzeallee entlang, wo sich das Seniorenheim Lentzeallee und die Berlin International School in einem ehemaligen Säuglingsheim befinden. Danach kommen wir zu der Lentze-Siedlung, die von Heinrich Schweitzer gebaut wurde und ein kleines Schmuckstück unseres Bezirks ist. Unser Kiezspaziergang endet in der Gartenarbeitsschule in der Dillenburger Straße 57, wo wir vorweihnachtlich empfangen werden.

Station 1: Karmielplatz

Station 1.1: Karmielplatz / Herkunft des Namens
Wir sind hier am Karmielplatz, der seinen Namen anlässlich der 30jährigen Städtepartnerschaft am 18.10.2015 zwischen der Stadt Karmiel in Israel und Charlottenburg-Wilmersdorf erhielt. Seit 31 Jahren pflegt der Bezirk Wilmersdorf und jetzt Charlottenburg-Wilmersdorf eine lebendige Partnerschaft mit Karmiel. Neben gegenseitigen Besuchen politischer Delegationen liegt ein Schwerpunkt der partnerschaftlichen Aktivitäten im Jugendaustausch und dem Austausch von Fachkräften innerhalb der Verwaltungen. Aber auch im kulturellen sowie im Sportbereich gibt es Begegnungen und Projekte.

Karmiel liegt im Norden Israels und entstand ab 1961 im arabisch besiedelten Gebiet. Die Stadt ist ein Beispiel für zukunftsorientierte Stadtplanung. Sie wurde von Anfang an für 120.000 Einwohner geplant, und die verschiedenen Stadtviertel dem zukünftigen Bauplan entsprechend nach und nach gebaut. Heute leben in Karmiel etwa 50.000 Einwohner, während es 1989 noch 22.000 waren. Seit 1998 wird in Karmiel ein internationales traditionelles Tanzfestival mit überregionaler Ausstrahlung veranstaltet. Bürgermeister ist Adi Eldar. In Karmiel gibt es unter anderem Textilindustrie, Baugewerbe, Plastik-, Holz-, Eisen- und Stahlverarbeitung, sowie Hi-Tech Firmen. Die etwa 80 Firmen und Werkstätten beschäftigen ca. 8000 Menschen, nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus dem Umland.

Station 1.2: Karmielplatz / Auerbachstraße 2 / Stolperstein / Frida Kalischer Das 1899 als „Nickel’sches Haus“ erbaute Wohnhaus an der Auerbachstraße 2 in Berlin-Grunewald gehörte 1920 der Jüdischen Gemeinde. 1921 kaufte es Ismar Freund. In jenen Jahren wohnten hauptsächlich Ministerialräte, Rechtsanwälte und Fabrikbesitzer in dem Haus. 1939 zog die Schriftstellerin Frida Kalischer in den 3. Stock ein, wo sie 4½ Zimmer mit Balkon bewohnte, für die sie 180 Reichsmark Miete an Frau Dr. Freund in Jerusalem zahlte.

Der Stolperstein vor dem Haus wurde von der Hausgemeinschaft gespendet und am 15.10.2014 – dem Gedenktag zum Beginn der Deportationen vom Bahnhof Grunewald am 18.10.1941 – in Anwesenheit von Hausbewohnern und zahlreichen Gästen verlegt.

HIER WOHNTE
FRIDA KALISCHER
JG. 1883
DEPORTIERT 14.12.1942
AUSCHWITZ
ERMORDET 31.12.1943

Frida Kalischer wurde am 12. März 1883 in Berlin als Frida Cohn geboren. Bekannt geworden ist ihr Buch „Der Stern über der Schlucht“, das 1920 erschien. Sie schrieb es unter dem Künstlernamen Fried Kalser.

Ein Jahr und zwei Monate lang hatte sie aus nächster Nähe miterlebt, wie seit dem 18. Oktober 1941 massenhaft Berliner Juden in langen Marschkolonnen oder in Lastwagen ankamen, am Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald in Züge gepfercht und abtransportiert wurden. Eines Tages kam sie selbst auf die Deportationsliste und musste eine Vermögenserklärung abgeben, die einige Aufschlüsse über ihr Leben gibt und belegt, wie skrupellos sich die Nationalsozialisten am Eigentum der Juden bereicherten. In ihrer geräumigen Wohnung hatte sie drei Untermieter untergebracht: Annelies Heuser, die mietfrei ein Zimmer bewohnte, sich aber Ende 1942 in einem Krankenhaus befand, und das Ehepaar Lothar und Charlotte Chodziem, das 1½ Zimmer zur Verfügung hatte und 72 Reichsmark anteilige Miete zahlte. Ihn kennzeichnete Kalischer als „Jude“ und sie als „arisch“. Diese von den Nazis so genannte „Mischehe“ dürfte ihm das Leben gerettet haben, sie „wandern nicht aus“, schrieb Kalischer in das Formular. Frida Kalischer war eine gebildete und nach damaligen Verhältnissen wohlhabende Frau. Ihr Vermögen und der Wert ihrer Einrichtung wurde 1942 auf 75.000 Reichsmark geschätzt, wovon ihr schon 15.692,50 Reichsmark als „Reichsfluchtsteuer“ abgenommen wurden. Sie besaß einen dreiteiligen Bibliothekschrank aus Eichenholz mit 150 Büchern und ein weiteres Regal mit 250 bis 300 Büchern, die teilweise „jüd[ische] Inh[alte]“ hätten, notierten die amtlichen Plünderer im Gewand von Gerichtsvollziehern.

Am 13.12.1942 wurde sie zunächst ins Sammellager an der Hamburger Straße gebracht und von dort wieder auf den Vorplatz des Bahnhofs Grunewald getrieben. Ziel des mit mehr als 800 Menschen besetzten Zuges, von den NS-Behörden als 25. Osttransport eingruppiert, war Auschwitz. Dort wurde Frida Kalischer im Alter von 60 Jahren an Silvester 1943 ermordet. Das Stadtbüro der Berliner Handelsgesellschaft, bei der sie ihr Konto führte, schrieb im damals üblichen Stil an die Behörde des Oberfinanzpräsidenten: „Wie uns das Einwohnermeldeamt Berlin unter dem 11.2. mitteilt, ist Fräulein Kalischer am 14.12.1942 nach dem Osten übergeführt worden.- Heil Hitler!“

Station 1.3: Karmielplatz / Bahnhof Grunewald
Am 1. August 1879 wurde der Bahnhof unter dem Namen Hundekehle in Betrieb genommen. Dieser Name bezog sich auf das nahe dem Bahnhof im Grunewald liegende Hundekehlefenn. Zu dieser Zeit besaß der Bahnhof mit vier Bahnsteigen seine größte Ausdehnung. Am 15. Oktober 1884 erhielt er seinen endgültigen Namen.

Mit der Errichtung der Villenkolonie Grunewald erhielt der Bahnhof 1899 ein repräsentatives Empfangsgebäude nach Entwürfen von Karl Cornelius. Das Gebäude, ein verputzter Ziegelbau mit Sandsteinteilen, vermittelt den Eindruck eines Burgtores, über dem ein Flügelrad wie ein Wappen prangt. Gekrönt wird das Gebäude durch eine Windfahne in Form einer Dampflokomotive. Auch die restliche Bahnhofsanlage wurde zu dieser Zeit umgestaltet und die beiden Zugangstunnel, von denen heute nur noch einer in Betrieb ist, angelegt.

Zwei Bereiche des Bahnhofs Grunewald stehen jeweils als Gesamtanlagen unter Denkmalschutz. Zum einen der Komplex Ringbahn-Endstation Grunewald mit Stationsgebäude von 1879, Stellwerk, Funktionsgebäude und Gleisanlagen mit der Gedenkstätte Gleis 17, zum anderen der Komplex S-Bahnhof Grunewald, das Empfangsgebäude mit dem von Karl Cornelius entworfenen Bahnhofsgebäude von 1899, dem Tunnel und zwei Bahnsteigen.

Station 1.4: Karmielplatz / Bücherbox
Die Idee der Bücherbox stammt von Konrad Kutt, der heute auch hier ist . In der Bücherbox am Karmielplatz ist eine kleine Bibliothek zum Thema Rassismus, Nationalsozialismus und jüdisches Leben entstanden. Jeder kann hier Bücher beisteuern. Wer ein Buch bringt, nimmt ein anderes mit. So ist die ehemalige Telefonzelle eine Art Mini-Bibliothek auf der Straße und in dem Fall hier neben dem Bahnhof Grunewald, von dem aus so viele Menschen in den Tod geschickt wurden, auch ein Ort der Aufklärung. Für Ausbau und Pflege sind immer Schüler und Schülerinnen oder Auszubildende verantwortlich.

Station 1.5: Karmielplatz / Mahnmale
Die Vernichtung der deutschen jüdischen Bevölkerung wurde am 20. Januar 1942 auf der Wannsee-Konferenz formal beschlossen. Die Deportationen aus dem ganzen Deutschen Reich und den besetzten Gebieten in die Vernichtungslager begannen jedoch bereits im Oktober 1941 und wurden von der Deutschen Reichsbahn durchgeführt. Von den Berliner Deportationsbahnhöfen Moabit und Grunewald wurden mehr als 50.000 jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen wie Vieh in die Vernichtungslager transportiert. Der erste Deportationszug verließ den Bahnhof Grunewald am 18. Oktober 1941 mit 1.013 Personen, der letzte am 5.1.1945 nach Sachsenhausen. Die Reichsbahn verlangte von der SS pro Person und gefahrenem Schienenkilometer 4 Pfennige, pro Kind 2 Pfennige, nur die Hälfte wenn mehr als 400 Menschen transportiert wurden. Für die ersten Transporte wurden noch Personenzüge verwendet, später Güterzüge.

Die Rolle der Deutschen Reichsbahn im Holocaust blieb lange unbeachtet. Erst in den 1980er und 1990er Jahren wurden in Erinnerung an dieses Kapitel in der Vergangenheit des Bahnhofs Grunewald mehrere Mahnmale errichtet. Daher wurden die ersten Mahnmale von anderen Gruppen errichtet.

Die erste Gedenktafel zur Erinnerung an die Deportationen wurde 1953 am Signalhaus aufgestellt, allerdings wurde sie aus unbekannten Gründen wieder entfernt, auch der Zeitpunkt des Abbaus ist nicht dokumentiert. Die Einweihungsfeier wurde damals von Polizisten gestört, weil die Gruppe, die die Gedenktafel initiiert hatte, als kommunistisch galt.

Die zweite Tafel des Gedenkens wurde erst zwanzig Jahre später im Jahr 1973 angebracht und 1986 gestohlen.

Das erste Mahnmal, an dem wir heute vorbeigehen, ist hier vor uns das Mahnmal mit den Eisenbahnbohlen, das am 18. Oktober 1987, dem 46. Jahrestag des ersten Transportes, von einer Frauengruppe der evangelischen Gemeinde Grunewald errichtet wurde.

An der Rampe zum Güterbahnhof wurde auf Initiative des damaligen Bezirks Wilmersdorf am 18. Oktober 1991 ein von dem polnischen Künstler Karol Broniatowski geschaffenes Mahnmal enthüllt. Es besteht aus einer Betonmauer mit Negativabdrücken menschlicher Körper und einer erläuternden Bronzetafel. Auf der Tafel steht:

Zum Gedenken
an die mehr als 50.000 Juden Berlins, die zwischen
Oktober 1941 und Februar 1945 vorwiegend vom
Güterbahnhof Grunewald aus durch den
nationalsozialistischen Staat in seine Vernichtungslager
deportiert und ermordet wurden.

Zur Mahnung an uns, jeder
Mißachtung des Lebens und der Würde des Menschen
mutig und ohne Zögern entgegenzutreten.

Wir gehen nun die Rampe hoch zum Mahnmal Gleis 17.

Station 2: Mahnmal Gleis 17

Für die Errichtung eines zentralen Mahnmals, das an die Rolle der Reichsbahn unter der nationalsozialistischen Diktatur erinnern soll, führte die Deutsche Bahn AG einen begrenzten Wettbewerb durch. Ausgewählt wurde der Entwurf des Architektenteams Nicolaus Hirsch, Wolfgang Lorch und Andrea Wandel, vor dem wir jetzt stehen. Beidseits des Gleises 17, von dem die meisten Deportationszüge abfuhren, wurden gusseiserne Platten verlegt. An den so entstandenen „Bahnsteigkanten“ dieser Platten sind in chronologischer Folge alle Fahrten von Berlin mit Anzahl der Deportierten und dem Zielort dokumentiert. Die Vegetation, die im Laufe der Jahre einen Teil des Gleises erobert hat, ist in das Mahnmal einbezogen worden. Es ist ein Symbol dafür, dass nie wieder ein Zug von diesem Gleis abfahren wird,. Am 27. Januar 1998 wurde das Mahnmal enthüllt. Im Gegensatz zu dem großen Holocaust-Mahnmal am Brandenburger Tor ist der Bahnhof Grunewald ein authentischer Ort, der mit dem tatsächlichen historischen Geschehen des Holocaust in Verbindung steht. Deshalb hat dieser Ort eine große Bedeutung.

Wir gehen nun durch den Tunnel unter dem Bahnhof und unter der AVUS durch und treffen uns wieder am Wohnheim für Studierende im Dauerwaldweg 1.

Station 3: Dauerwaldweg 1

Station 3.1: AVUS
Die AVUS ist heute Teil der Bundesautobahn A 115. Sie wurde 1913 bis 1921 als Automobil-Verkehrs- und Übungs-Straße, abgekürzt AVUS, gebaut und am 24.9.1921 mit einem Motarradrennen eröffnet. Auf der ursprünglich 10 km langen Strecke, die in zwei Schleifen endete, fanden viele spektakuläre Autorennen statt. Am 1.5.1999 wurde sie mit einer großen Abschlussparty als Rennstrecke geschlossen.

Station 3.2: Dauerwaldweg / Herkunft des Namens
Er verläuft von der Eichkampstraße über den Rottannenweg. Er trägt seinen Namen seit dem 16.8.1928. Benannt nach dem Dauerwald, eine Form des Forstes, bei der in Angleichung an eine dem Boden angemessene Urwaldform der Wald wie ein Gesamtlebewesen bewirtschaftet wird.

Station 3.3: Dauerwaldweg 1 / Wohnheim für Studierende
Das Wohnheim wurde 1960 von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg für die Evangelische Studentengemeinde gebaut. In einem Architekturwettbewerb des Deutschen Studentenwerks erhielt der Architekt Peter Lehrecke den ersten Preis. Das Wohnheim ist im Bungalowstil gebaut. Seit 1988 wird das Wohnheim vom Studentenwerk Berlin verwaltet. Die Einzelzimmer sind möbliert. Auf jeder Etage gibt es ein Duschbad und eine Toilette. Die großen Gemeinschaftsküchen und Gemeinschaftsräume werden jeweils von einer Hausgemeinschaft genutzt. Die möblierten Apartments haben eigene kleine Küchen und Duschbäder.

Wir gehen nun ein Stück weiter und biegen rechts in die Straße Im Hornisgrund ein und treffen uns wieder vor der Hausnummer 25.

Station 4: Im Hornisgrund 25 / Marie-Elisabeth Lüders

Im Hornigrund 25 wohnten Marie Elisabeth Lüders. Sie wurde am 25. Juni 1878 in Berlin geboren und starb am 23. März 1966 ebenfalls in Berlin. Sie war Gründungsmitglied der DDP, einer linksliberalen Partei in der Weimarer Republik, später wurde sie Mitglied der FDP. Als eine der ersten Frauen studierte sie ab 1909 Staatswissenschaften in Berlin und promovierte 1912 über die Aus- und Fortbildung von Frauen in gewerblichen Berufen. Sie war damit die erste Frau, die an einer deutschen Universität die Doktorwürde Dr. rer. pol. erlangte. Anschließend übernahm sie verschiedene Positionen in der Sozialverwaltung und in der sozialen Selbsthilfe. In den 1920er-Jahren wirkte sie im Bund deutscher Frauenvereine bei den Reformen zum Ehegüterrecht mit. Ihre Rede im Reichstag zur Zulassung der Frauen zu den juristischen Staatsexamina und zu den juristischen Berufen führte zu einer Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes im Jahre 1922: Frauen konnten nun erstmals in Deutschland Richter, Anwalt, Verwaltungsjurist oder Staatsanwalt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Lüders Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und des Deutschen Bundestages. In Charlottenburg trägt eine Querstraße der Bismarckstraße ihren Namen, zudem ein Gebäude des Deutschen Bundestages.

Wir gehen nun weiter bis zur Alten Allee / Ecke Zikadenweg.

Station 5: Alte Allee / Ecke Zikadenweg / Siedlung Eichkamp

Hier in der Alten Allee kann man besonders gut den alten Baumbestand in der Siedlung Eichkamp sehen. Nun da Sie schon einen kleinen Eindruck von der Siedlung bekommen haben, möchte ich Ihnen etwas zur Geschichte erzählen.

1760 war hier ein Eichenwald, der zum Gutsbezirk Spandau-Forst gehörte.

Mit dem Bau der Berliner Stadtbahn musste 1879 die in der Nähe des Lietzensees gelegene Försterei Charlottenburger Feld verlegt werden. Sie erhielt einen neuen Standort an der Ecke Eichkampstraße/Alte Allee. Nach dem alten Flurnamen „Willmersdorffischer Eichelkamp“ wurde sie „Eichkamp“ genannt.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde 1918 die Siedlungsgesellschaft Märkische Heimstätte gegründet. Vorkämpfer der in den 1890er Jahren entstandenen Heimstättenbewegung war Adolf Damaschke. Von der preußischen Landesregierung mit der Durchführung von Siedlungsprojekten gegen die herrschende Wohnungsnot betraut, vergab die Märkische Heimstätte den Auftrag zur Planung der Siedlung Eichkamp an Max Taut. Die ersten Planungen umfassten ein wesentlich größeres als das schließlich bebaute Areal. Die ersten ab 1920 fertiggestellten Häuser waren aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg mit Hühnerstall und Speicher für eine weitgehende Selbstversorgung der Bewohner eingerichtet. Waren die ersten Häuser noch als Reihenhäuser errichtet worden, so wurden mit sich bessernder wirtschaftlicher Situation bald Doppelhäuser typisch für den weiteren Ausbau der Siedlung.

Die Lage kann man gut dem leider vergriffenen Buch von Manuela Goos und Brigitte Heyde: Eichkamp. Eine Siedlung am Rande mitten in Berlin, von 1999 entnehmen:

bq. Die große Wohnungsnot und der Hunger des Großstädters nach eigenem Besitz und eigener Scholle, nach Wiederverbundensein mit der Natur; hat trotz der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse die Siedlungstätigkeit überall nach dem Kriege aufleben lassen. So sind in Wilmersdorf, Charlottenburg und Schöneberg, auch an der Peripherie, wie im Grunewald, eine ganze Reihe von Kleinhaussiedlungen entstanden, in denen die Ansiedler ihr kleines Häuschen und ihr Stückchen Land zu eigener Bebauung und eigener Kleintierzucht innehaben und sich nach getaner Berufsarbeit auf eigener Erde betätigen oder erholen können.

Ein Gymnasiast, der in Eichkamp wohnte, schrieb über seine Siedlung. Ich zitiere:

bq. Ja, es ist schon ein sonderbarer Flecken, dieses Eichkamp. Ein richtiges Dorf und doch modern, ein Dorf mit Stadtbahnanschluss! Wenn du am Morgen aufwachst; krähen die Hähne zum Fenster herein und das geschäftige Gackern der Hühner erinnert doch an Sommerfrische. Über den Gärten kreisen die Tauben in immer gleichem Bogen. In den Gärten schaffen die Leute so oft sie Zeit haben, pflanzen, jäten, graben, rechen. Hunde gibt es genug, die frei herumlaufen und ihr Gebell schallt hin und zurück Rede und Antwort über die Straßen. Ställe gibt es, in denen Ziegen stehen und der Mist dampft an den Zäunen. Und doch ist es ein merkwürdiges Dorf. Fährt ein feines Auto durch, sieht sich keiner danach um. Aber wir sind ja gar kein Dorf, wir sind eine Sie d e l u n g, unsere Voraussetzungen sind ja ganz andere. Wir arbeiten in der Stadt; sind zwanzig Minuten davon entfernt. Wir sind nicht abgeschlossen, wie die Menschen eines Dorfes. Wir sind moderne Menschen, die das Glück haben, auf dem Lande feiern und schlafen, in der Stadt arbeiten zu können.

Von der Bevölkerung her war die Siedlung gemischt. Im südlichen Teil, durch den wir gerade gekommen sind, wohnten die Betuchteren, die sich eher der Villenkolonie Grunewald zugehörig fühlten. Im nördlichen Teil, den wir am Ende des Spaziergangs sehen werden, Arbeiter und kleine Beamte, die auch politisch eher links standen, und im mittleren Teil die gutbürgerliche Mittelschicht. Anscheinend gab es keine großen Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Teilen von Eichkamp. Noch ein Zitat:

bq. So ganz klein sind die Häuser auch nicht, denn sie enthalten fast alle vier bis sechs Zimmer mit 80 bis 140 Quadratmeter Wohnraum, ferner größtenteils noch mit Erkern, Veranden und Balkons, Dielen, Waschküchen, Boden- und Kellerräumen und rund je 500 Quadratmeter Garten. Die Preise belaufen sich auf 25.000 bis 45.000 RM. Im Übrigen liegen die Häuser wirklich im Grünen und sind vom Grunewald umgeben.

Bei der Bildung von Groß-Berlin 1920 kam die Siedlung zum Bezirk Wilmersdorf. 1938 wurde sie bei einer Gebietsreform dem Bezirk Charlottenburg zugeschlagen. Seit 2001 gehört sie nun zum Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf.

Wir gehen nun weiter bis zum Zikadenweg / Ecke Maikäferpfad.

Station 6: Zikadenweg 42a

Station 6.1: Campus Eichkamp
Am Campus Eichkamp hinter dem Haus Eichkamp befinden sich neben zwei Schulen, eine Kindertagesstätte sowie die regionale Schulaufsicht einschließlich des SIBUZ, das ist das Schulpsychologische und inklusionspädagogische Beratungs- und Unterstützungszentrum, und der zahnärztlicher Dienst.

An der Ernst-Adolf-Eschke-Schule für Gehörlose wurden im Schuljahr 2015/16 insgesamt 86 Schülerinnen und Schüler von der Schulanfangsphase bis zur 10. Jahrgangsstufe unterrichtet. Der ganze Unterricht ist bilingual. Bilingual heißt in diesem Fall Lautsprache und Gebärdensprache.

Die Reinfelder-Schule ist eine Grundschule und ein Förderzentrum für die sogenannten übrigen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte mit insgesamt 428 Schülerinnen und Schüler im Schuljahr 2015/16. Schwerpunktmäßig werden hier hörbehinderte Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Darüber hinaus bestehen spezielle Lerngruppen für sprachbehinderte Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter. Früher gab es für diese Schüler und Schülerinnen die nun geschlossene Helen-Keller-Schule.

Den Grundschulteil von der Schulanfangsphase bis zur Jahrgangsstufe 6 haben im Schuljahr 2015/16 insgesamt 272 Schülerinnen und Schüler besucht. In diesen Lerngruppen wird integrativ gearbeitet, so dass auch hier Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt unterrichtet werden. In dem sonderpädagogischen Förderzentrum wurden insgesamt 156 Schülerinnen und Schüler von der Schulanfangsphase bis zur Jahrgangsstufe 10 unterrichtet.

Neben den beiden oben genannten Schulen befindet sich noch die Bilinguale Kindertagesstätte Sinneswandel mit insgesamt 65 Plätzen für Kinder ab 1 Jahr bis zur Einschulung auf diesem Campus. Diese Kita wird durch den freien Träger Sinneswandel betrieben. Es handelt sich um eine Integrationskita, die insbesondere Kinder mit Hörschädigungen fördert. Sinneswandel kooperiert auch mit der Ernst-Adolf-Eschke-Schule im Rahmen des Ganztagsangebots dieser Schule einschließlich der ergänzenden Förderung und Betreuung (Hort).

Wir gehen nun in das Haus Eichkamp hinein.

Station 6.2: Zikadenweg 42 a / Haus Eichkamp
Das Haus Eichkamp ist ein Bürgerhaus in Trägerschaft des Siedlervereins Eichkamp und der Stiftung am Grunewald. Der Siedlerverein Eichkamp geht auf die Siedlungs- und Spargenossenschaft Eichkamp eGmbH zurück, welche schon vor 1921 bestand. Ende des Jahres 1924 initiierten führende Mitglieder der Genossenschaft die Gründung eines Vereins, der ab 1935 Haus- und Grundbesitzer-Verein Eichkamp e.V. hieß. In den nun folgenden Jahren wurde der Schwerpunkt der Vereinsarbeit auf die Vorbereitung gemeinsamer Feiern und die Organisation von Unterhaltungsveranstaltungen verlegt. Die ersten Nachkriegsjahre wurden von der zentralen Frage der Nahrungsbeschaffung geprägt. Der Verein, der sich im August 1947 in Siedlerverein Eichkamp umbenannte, sorgte für die Beschaffung von Baumaterial und Düngemittel sowie die freiwillige Abgabe von Obst und Gemüse durch die Mitglieder. Heute betreibt der Siedlerverein zusammen mit der Stiftung am Grunewald das Haus Eichkamp. Der Vorstandsvorsitzende und Stifter der Stiftung am Grunewald Winfried Wohlfeld und Ulrich Brunke werden nun etwas zum Haus Eichkamp erzählen.

Vielen Dank!

Wenn wir nun hinausgehen, werfen Sie noch einen Blick nach links, wo sich rechts neben dem Haus der Garten des Hauses Eichkamp und dahinter die Evangelische Kindertagesstätte Frieden befinden. Wir treffen uns wieder vor dem Haus Nr. 49.

Station 7: Zikadenweg 49

Station 7.1: Zikadenweg 49 / Reihenhäuser von Bruno Taut
Die Reihenhäuser im Zikadenweg sind von Bruno Taut: Die Ein- und Zweifamilienhäuser sind stark verändert und von Grün so zugewachsen, dass die Architektur kaum noch wahrnehmbar ist.

Bruno Taut wurde 1880, sein Bruder Max 1884 in Königsberg geboren. Bruno starb bereits 1938 in Istanbul, Max 1967 in Berlin. Max Taut wohnte im Lärchenweg 15, den wir gleich kreuzen werden. Beide Architekten waren Vertreter des Neuen Bauens und arbeiteten zusammen in einem Architekturbüro, zu dem auch noch Franz Hoffmann gehörte. Bruno Taut ist bekannt für seine Großsiedlungen in Britz, in Zehlendorf und in Siemesstadt. Max Taut für seine sachlichen Bürobauten.

Die ersten großen Projekte der beiden Brüder nahmen 1913 ihren Anfang. Sowohl in Berlin als auch in Magdeburg erhielt das Büro Aufträge zur Projektierung von Gartensiedlungen, eine neue Bauform, die aus England nach Deutschland gekommen war. Die Tauts wandten in ihren Plänen neue Baumethoden und Gestaltungsmerkmale an, die auch künftig ihre Arbeiten auszeichneten und in Deutschland die neue Stilrichtung, das „Neue Bauen“, ins Leben riefen. Die überwiegend für Arbeiter projektierten Siedlungsbauten erhielten in Nord-Süd-Richtung ausgerichtete Straßenzüge, sodass die Wohnungen ausreichend mit Licht und Luft versorgt waren. Auch in diesem Fall ist das so. Daneben gestalteten sie Fassaden und Fassadenelemente mit intensiven Farben. Sie führten zwischen 1924 und 1931 mehrere Aufträge zur Errichtung von Wohnsiedlungen aus. Es entstanden zum Beispiel die Siedlung Schillerpark in Berlin-Wedding, die „Hufeisensiedlung“ in Britz, Teile der Siedlung „Freie Scholle“ in Tegel und die Waldsiedlung „Onkel Toms Hütte“ in Zehlendorf. In diesen acht Jahren schufen die Tauts rund 12.000 Wohnungen in Berlin.

Nach 1933 wurden Bruno und Max Taut aus politischen Gründen von der Beteiligung an allen öffentlichen Bauvorhaben ausgeschlossen. Max zog nach Chorin und Bruno nach einigen Zwischenstationen nach Istanbul, wo er 1938 starb. Nach dem Krieg gründeten Max Taut und Franz Hoffmann ihr Büro neu. Max Tauts zukunftsweisende Leistungen bestanden in der Entwicklung des Rahmenbaus, der die Konstruktion zeigt und eine neue demokratische Offenheit des Bauens symbolisiert.

Station 7.2: Zikadenweg 49 / Stolpersteine für die Familien Marx
In den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts wohnten in Eichkamp in mehr als siebzig Häusern Bürgerinnen und Bürger, die als Juden verfolgt wurden, darunter die Schriftsteller Arnold Zweig (Zikadenweg 59 und Kühlerweg 9) und Elisabeth Langgässer (Eichkatzweg 33), der Philosoph Ludwig Marcuse (Eichkatzweg 25) und der Gewerkschafter Siegfried Aufhäuser (Zikadenweg 72). Viele von ihnen konnten unter teils sehr schwierigen Umständen rechtzeitig fliehen. Um die Lebensgeschichte der oft namenlosen Opfer des nationalsozialistischen Regimes in Erinnerung zu rufen, haben Mitglieder des Siedlervereins Eichkamp e.V., Abiturienten und Abiturientinnen der Wald-Oberschule unter Begleitung ihrer Geschichtslehrerin und Schülerinnen der Rudolf-Steiner-Schule seit 2008 an Recherchen über 30 Eichkamper mitgewirkt, die wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden. Die meisten von ihnen wurden in Konzentrationslagern ermordet.

Hier stehen wir vor dem Haus Zikadenweg Nr. 49, in dem die Familie Marx gewohnt hatte, ehe sie deportiert wurde.

Margarete Marx war Individualpsychologin, ihr Mann Karl Kaufmann. Sie wohnten mit ihren Kindern Peter und Marie Luise von 1934 bis 1938 im Haus Nr. 49. Die Kinder besuchten die private jüdische Waldschule Kaliski im benachbarten Stadtteil Grunewald. 1938 zog die Familie wegen schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen in die Schrammstr. 8 in Wilmersdorf und von dort 1939 in die Sybelstr. 30. Margarete Marx, ihr Mann und Marie Luise flüchteten nach Frankreich, wo sie in Drancy interniert wurden. Der Sohn Peter flüchtete nach Belgien, wurde im Lager Malines interniert und 1942 mit 21 Jahren nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Zwei Jahre später, am 27.03 1944, wurden seine Eltern und Marie Luise mit dem 70. Transport nach Auschwitz deportiert. Dort wurde Karl Marx im Alter von 54 Jahren ermordet. Margarete Marx überlebte und zog nach Frankreich. Die Tochter Marie Luise überlebte Auschwitz ebenfalls und wanderte nach Kanada aus.

Vor der Familie Marx gehörte das Haus dem Ingenieur Martin Dosmar, der dort mit seiner Frau Elisabeth, seinem Sohn Hans und seiner Tochter Eva bis zu ihrer Emigration nach Frankreich 1933 lebte. Sie flüchteten unter sehr schwierigen Bedingungen in die Schweiz.

Ein Haus weiter im Zikadenweg 51 liegt der Stolperstein für Jenny Stock.

Station 7.3: Zikadenweg 51 / Stolperstein / Jenny Stock
Jenny Stock, geb. Gradnauer, wurde 1869 geboren. Sie entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Magdeburg. Nach dem Besuch einer „Höheren Töchterschule“, in der sie die Haushaltsführung erlernte, zog sie nach Frankfurt/O. Dort heiratete sie am 3.1.1891 den Kaufmann Paul Stock. Das Ehepaar war konfessionslos. Kurz nach der Eheschließung folgte das Paar Paul Stocks Firma „Herrengarderobe nach Maß“ nach Berlin. 1893 wurde der Sohn Georg geboren, benannt nach Jennys Bruder Dr. Georg Gradnauer, der seit 1919 sächsischer Ministerpräsident, 1921 kurz sächsischer Innenminister und danach Gesandter Sachsens bei der Reichsregierung war. In den zwanziger Jahren zog sich Paul Stock aus dem Geschäftsleben zurück. Seit 1926 bewohnte das Ehepaar das Haus Zikadenweg 51. 1927 starb Paul Stock. Er wurde auf dem Friedhof Heerstraße beerdigt.

Bei den vorgezogenen Neuwahlen 1933 wurde Jenny Stock für die SPD in die Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf gewählt. Nach dem SPD-Verbot und der „Verordnung zur Sicherheit der Staatsführung“ vom Juli 1933 wurde ihr jedoch das Mandat entzogen. Nach dem Zwangsverkauf ihres Hauses am 19.11.1938 an eine „arische“ Familie wohnte Jenny Stock noch eine Zeit lang in der Siedlung Eichkamp. 1940 zog sie zu ihrem Bruder Dr. Georg Gradnauer nach Kleinmachnow. Nachdem auch der Bruder sein Haus verkaufen musste, zogen die beiden in das „Judenhaus“ in Kleinmachnow. Von hier wurde Jenny Stock im Alter von 73 Jahren am 20.11.1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort starb sie am 24.3.1943. Ihr Bruder wurde am 21.1.1944 deportiert. Er überlebte das Konzentrationslager. Der Sohn Georg, der in Berlin als Landgerichtsrat tätig war und in einer „Mischehe“ lebte, konnte 1936 nach Großbritannien emigrieren.

Der Stolperstein wurde vom Verein Aktives Museum e.V. verlegt.

Station 8: Zikadenweg 59 / Arnold Zweig

Im Zikadenweg 59 wohnte Arnold Zweig. Zu seinen Ehren wurde 1987 die Gedenktafel enthüllt. Darauf steht:

“Hier wohnte und arbeitete bis zu seiner
Emigration im Jahre 1933
ARNOLD ZWEIG
10.11.1887 – 26.11.1968
Erzähler, Dramatiker, Essayist
Verfasser des Romans
Der Streit um den Sergeanten Grischa”

Der deutsche Schriftsteller Arnold Zweig wurde 1887 in Glogau in Schlesien geboren. Sein literarisches Debüt war 1912 der Band Novellen um Claudia. 1915 erhielt er für die Tragödie Ritualmord in Ungarn den Kleist-Preis. 1915 wurde Zweig zum Militärdienst eingezogen. War er zuvor deutlich preußisch-national gesinnt, wurde er unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs zum Pazifisten. Nach dem Ersten Weltkrieg ließ sich Zweig als freier Schriftsteller am Starnberger See nieder. In Essays, Theaterstücken und Kurzprosa gestaltete Zweig seine Kriegserlebnisse und seine Auseinandersetzung mit dem Judentum. Zweig bekannte sich nun zu einem humanistisch geprägten Sozialismus.

Nach dem Hitlerputsch 1923 musste Zweig Starnberg verlassen. Er zog nach Berlin, wo er als Redakteur für die Jüdische Rundschau arbeitete. Der Kontakt zu Martin Buber, der bereits während des Krieges begann, brachte Zweig mit zionistischem Gedankengut in Berührung.

1927 erschien Zweigs bekanntestes Werk, der Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa. Das Buch behandelt einen militärischen Justizmord gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Der Roman, stilistisch zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit, gestaltet den Zusammenprall zwischen säkularisiertem Judentum und ostjüdischer Frömmigkeit, zwischen aufgeklärter preußischer Tradition und wilhelminischem Gehorsam vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Kaiserreichs.

Hier ein Ausschnitt aus dem Roman, und zwar die erste Seite aus dem zweiten Kapitel:

bq. Ungeheures Sausen.
Aus den Schornsteinen, blecherne Röhren mit kleinen Kappen, fauchen und stieben Fuchsschwänze von Funken hin über die flachen, geduckten Dächer des Barackenlagers, schwarz in der mondlosen Schwachhelligkeit des Schnees. Undurchdringlich knetet sich in den Winkeln, Durchgängen, halben Nischen das Dunkel, besonders dort, wo aus schlecht verhängten Fenstern Lichtstrahlen und schmale Bänder ihm benachbart die tosende Luft durchkreuzen.
Um den weiten, unübersichtlichen, weil zufällig entstandenen Gebäudehaufen des Gefangenenlagers singt mit der leidenschaftlichen Inbrunst eines Irrsinnigen der Wind, der Frühlingssturm, in den Notensystemen der Stacheldrähte, die drei und vier Meter hoch mehrere Linien um die Wohnbaracken, die Vorgesetztenhäuser, die Lagerschuppen und die weiteren Arbeitsspeicher des Sägewerks ziehen.
Zwischen ihnen stolpert und schlittert auf dem eisenhart gefrorenen Tauschnee der Mann, der hier gerade seine Runde abgehen muss. Er schiebt Wache, nennen sie das. In einem Ungetüm von weißem Schafspelz, das Gewehr, Mündung nach unten, über die Achsel gehängt, zermalmt er mit den Nägeln seiner gefetteten Stiefel die kleinen scharfen Grate und Kämme, die die Fußspuren des Tages im Nachtfrost zurücklassen. Unsicher vor Glätte, tief abwesend vor Unglück, horcht er in den Wind hinein, der schneidend an seiner Backe vorübersaust. Er verließ die beschützte Stelle, in der man bequem schlafen kann, um der Ablösung entgegenzugehen, die jede Minute fällig ist. Natürlich hat es nicht den mindesten Sinn hier Wache zu schieben; denn niemand denkt daran, ins Lager etwas hineinzubringen. Und daß jemand in solcher Nacht auch nur ein Kommißbrot daraus stehlen oder seine werte Person daraus flüchten könnte – das kommt nicht vor. Flüchten, jetzt, wo der Krieg zu Ende geht, das gibt’s nicht. Dies ist nicht nur die Überzeugung des Landsturmmanns Heppke, sondern wohl ziemlich der ganzen Besatzung – mit Ausnahme natürlich des Lagerfeldwebels, der ja, wie alle Feldwebel, sich sofort für geisteskrank hielte, wenn er nicht die überflüssigsten Angelegenheiten des Dienstes … ernst nähme.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden Zweigs Bücher öffentlich verbrannt. Zweig emigrierte über Zwischenstationen nach Haifa. 1947 erschien der Roman Das Beil von Wandsbek, in dem Zweig psychologisch dicht und historisch stimmig die Anpassung kleiner Leute an den Nationalsozialismus gestaltete. 1948 kehrte Arnold Zweig aus dem Exil nach Ost-Berlin zurück, wo er zwischen 1949 und 1967 Abgeordneter der Volkskammer war. Außerdem wurde er 1950 Präsident und 1953 Ehrenpräsident der Deutschen Akademie der Künste. In den fünfziger Jahren stand Zweig dem ostdeutschen PEN vor. Er starb am 26. November 1968 in Ost-Berlin.

Wir gehen nun bis zur Waldschulallee, in die wir rechts einbiegen und treffen uns wieder vor der

Station 9: Waldschulallee 7

Station 9.1: Waldschulallee / Herkunft des Namens
1904 wurde in Charlottenburg für gesundheitlich schwache Schüler aus den Mietskasernen der Stadt die erste deutsche Waldschule errichtet, 1909 daneben die ‘Höhere Schule’, die heutige Wald-Oberschule. Die Waldschulallee erhielt 1925 ihren Namen, weil sie zu den beiden Schulen führt.

Station 9.2: Waldschulalle 7 / Stolperstein für Hans und Anna Magud
Das Ehepaar Magud stammte aus Oberschlesien. Sie waren beide evangelisch. Hans Magud kam zum Studium nach Berlin, doch brach er dieses wegen der antisemitischen Strömungen an der Friedrich-Wilhelm-Universität ab. Danach arbeitete er in der Kohlen- und Außenhandelsreederei Caesar Wollheim. Die Familie Magud bewohnte das Haus Waldschulallee 7 von 1934 bis 1940. Tochter Kaethe konnte nach Großbritannien emigrieren, Tochter Annemarie war durch eine so genannte „privilegierte Mischehe“ relativ geschützt. In ihr Haus nahmen sie – auch aus finanzieller Not nach der Kürzung bzw. Einstellung der Pensionsbezüge – andere Verfolgte auf: Eva Baruch und Clara Grau. 1940 wurden sie gezwungen, ihr Haus an die „Gemeinnützige Wohnungs- und Heimstätten GmbH Dachau“ (SS-Organisation) zu verkaufen. Das Ehepaar und Clara Grau wohnten von da an in verschiedenen so genannten „Judenwohnungen“ mit anderen Verfolgten auf sehr beengtem Raum zusammen, zuletzt in der Rosenheimer Str. 27 in Schöneberg. Im November 1942 verhaftete die Gestapo das Ehepaar und brachte es in ein Durchgangslager. Am 16.12.1942 wurden beide mit dem „77. Altentransport“ in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Aus Mitteln des Zwangsverkaufs des Hauses mussten sie die Kosten der Deportation bezahlen. Der 80-jährige Hans Magud starb bereits nach einem Monat, am 26.01.1943. Anna Magud überlebte das Konzentrationslager schwer krank und starb 75-jährig am 26.09.1953. Die Töchter überlebten. Anna Maguds Bruder, Eugen Steinitz, konnte nach Brasilien emigrieren. Clara Grau zog aus der Wohnung in der Rosenheimer Straße zu ihrem Neffen in die Wilhelm-Gustloff-Straße 51, der heutigen Dernburgstraße, am Lietzensee. Die Deportation der 82-jährigen war auf den 28.9.1942 festgesetzt. Einen Tag davor begingen beide Selbstmord.

Eva Susanne Baruch wohnte zuerst als Untermieterin im Haus der Familie Magud und später im Jüdischen Krankenhaus, wo sie Schwesternschülerin war. Sie wurde mit 19 Jahren am 26.10.1942 zusammen mit ihren Eltern nach Riga deportiert und dort in den Wäldern von Bikernieki am 28.10.1942 ermordet. Ihr Bruder Lothar (später Leslie) konnte 1938 mit einem Kindertransport nach England fliehen. Auf seine Veranlassung hin wurde am 12.9.2007 der Stolperstein für seine Schwester verlegt.

Station 10: Messe Süd

Der Bahnhof Eichkamp wurde 1927-30 von Richard Brademann gebaut. Das Empfangsgebäude ist ein mit roten Klinkern verblendeter Mauerwerkbau im Stil der neuen Sachlichkeit mit expressionistischen Elementen. 1935 wurde die Anlage im Zusammenhang mit dem Bau der in unmittelbarer Nachbarschaft errichteten Deutschlandhalle von Fritz Hane und Hugo Röttcher erweitert. Und bis 1946 trug der Bahnhof dann den Namen “Deutschlandhalle”. Der Bahnhof ist Teil der ehemaligen Vorortbahn nach Spandau. Diese gesamte Bahn steht einschließlich Brücken und Bahnhöfen unter Denkmalschutz. Von 1980 bis 1998 war der S-Bahn-Verkehr auf dieser Strecke eingestellt. Im Juni 2002 wurde der Bahnhof in “Messe-Süd” umbenannt.

Hier endet unser Kiezspaziergang. Ich erinnere noch einmal an Zeit- und Treffpunkt unseres nächsten Kiezspaziergangs: Er findet am Samstag, den 10.12.2016 statt, und Treffpunkt ist der Platz am Wilden Eber, den man mit dem Bus 110 erreichen kann. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Nachhauseweg und ein schönes Wochenende. Bis zum nächsten Mal!

Quellen: