Kiezspaziergang am 13.9.2003

durch den Volkspark Jungfernheide

mit Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen
Treffpunkt: U-Bahnhof Halemweg

Sehr geehrte Damen und Herren!

Sie wissen, wie jedes Mal, ist unser Kiezspaziergang auch heute wieder ein ganz besonderer, einmaliger Kiezspaziergang. Heute ist das Besondere die Aussicht auf eine wunderschöne Freilichttheateraufführung, die sich Ihnen im Anschluss an diesen Spaziergang bietet. Denn wir werden unseren Spaziergang heute gegen 16.00 Uhr an der Gustav-Böß-Bühne im Volkpark Jungfernheide beenden, und wenn Sie mögen, können Sie dort in der Gustav-Böß-Bühne ein Theatergastspiel der Naturbühne Trebgast aus unserem Partnerlandkreis Kulmbach erleben: Gespielt wird “Der Brandner Kaspar und das ewig’ Leben”, ein bayerisches Lustspiel nach Kurt Wilhelm.

Wenn wir schon bei den Ankündigungen sind, dann möchte ich Ihnen auch gleich den nächsten Kiezspaziergang ankündigen: Am zweiten Samstag im Oktober, also am 11. 10. treffen wir uns wie immer um 14.00 Uhr am U-Bahnhof Sophie-Charlotte-Platz, und wir wollen dann den Charlottenburger Kiez zwischen Schloßstraße und Sophie-Charlotten-Straße bis zum Klausenerplatz erkunden. Also: Treffpunkt am Samstag, 11. Oktober, 14.00 Uhr U-Bahnhof Sophie-Charlotte-Platz, direkt auf dem Platz Ecke Kaiserdamm und Schloßstraße.

Eine letzte Ankündigung: Ich lade Sie herzlich ein zu einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung im Rathaus Charlottenburg am Dienstag, dem 30. September um 19.00 Uhr. Es wird dort um die Bedeutung der Bezirke für Berlin gehen, um die kommunale Demokratie in unserer Stadt. Gemeinsam mit den anderen 11 Bezirksbürgermeisterinnen und Bezirksbürgermeistern und mit allen Bezirkspolitikern habe ich die große Sorge, dass die bezirkliche Selbstverwaltung in Gefahr ist. Mehr und mehr Aufgaben werden vom Senat zentralisiert, und manche verlangen schon die Abschaffung der Bezirke, um Geld zu sparen. Dagegen meine ich, dass zentrale Behörden letztendlich teurer sind und schlechter funktionieren als die dezentrale Verwaltung im Bezirk. Darüber wollen wir mit Ihnen am Dienstag, dem 30. September um 19.00 Uhr diskutieren: Der frühere Wissenschaftssenator George Turner wird die Moderation übernehmen, Prof. Jochen Schulz zur Wiesch von der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege wird das Hauptreferat halten.

Alle Angaben finden Sie auf einem Handzettel, den Sie von uns erhalten können. Außerdem haben wir Ihnen einen neuen Stadtplan von Charlottenburg-Wilmersdorf anzubieten. Er wurde von einer Werbefirma erstellt und mit Anzeigen finanziert und bietet einen Überblick über unseren Bezirk.

Seit einer Woche gibt es die erste Ausgabe der Charlottenburg-Wilmersdorfer Rathausnachrichten, eine Monatszeitung, die der Verlag Gruner Jahr durch Anzeigenverkauf finanziert und für die das Bezirksamt die redaktionellen Beiträge liefert. Die Zeitung wurde in einer Auflage von 85.000 Exemplaren etwa an die Hälfte der Haushalte in unserem Bezirk verteilt und an vielen Stellen ausgelegt. Falls Sie kein Exemplar erhalten haben, kann ich Ihnen noch einige wenige Restexemplare anbieten. Sie finden darin unter anderem einen ausführlichen Bericht vom letzten Kiezspaziergang im Schlosspark Charlottenburg. Mit dem Stichwort Kiezspaziergang soll jetzt Schluss sein mit den Ankündigungen.

Heute wollen wir den Volkspark erkunden, und um ihn so zu erleben, wie sein Gestalter Erwin Barth es vorgesehen hat, möchte ich gerne mit Ihnen am Haupteingang beginnen, auch wenn dieser heute an der Autobahn liegt und seit den 20er Jahren vielfach wurde. Auf dem Weg dahin kommen wir durch den Charlottenburger Teil der Siedlung Siemensstadt. Deshalb möchte ich Ihnen zunächst ein paar Sätze sagen zur Entstehung dieser Siedlung und des Stadtteils Charlottenburg-Nord insgesamt:

Charlottenburg Nord: Siemensstadt und Paul-Hertz-Siedlung

Die Großsiedlung Siemensstadt wurde 1929-31 unter der Gesamtplanung von Hans Scharoun errichtetet. Der Charlottenburger Teil gilt als beispielhaft für den fortschrittlichen Wohnungsbau der 20er Jahre mit ihren aufgelockerten, von Freiräumen und Grünstreifen umgeben, meist fünfstöckigen Wohnzeilen. Mittelpunkt der Siedlung im Charlottenburger Teil ist der Goebelplatz. Die Straßen wurden hier nach Technikern, Erfindern und Physikern benannt, auf deren Entdeckungen der Erfolg der Firma Siemens beruhte.

Von 1956 bis 1961 entstand die Erweiterung der Siedlung Siemensstadt hier im westlichen Teil Charlottenburg-Nords mit annähernd 4000 Wohnungen für 12.000 Menschen.

Den östlichen Teil, die Paul-Hertz-Siedlung, auf der anderen Seite des Kurz-Schumacher-Dammes, mit fast 2700 Wohnungen, baute man anschließend 1961-1965. Zum Planungsteam gehörten die Siemensstadt-Architekten Hans Scharoun und Otto Bartning. Hans Scharoun nannte seine Bauten “Wohngehöfte”.

Paradoxerweise wurde durch die Baumaßnahmen die Wohnungsnot zunächst verschlimmert, denn das Baugelände bestand größtenteils aus Kleingärten, in denen Wohnlauben standen, die meist ständig bewohnt waren. Sie mussten vor Baubeginne abgerissen werden, ohne dass gleich Ersatzwohnungen zur Verfügung standen.

Viele Straßen der neuen Siedlung wurden nach Widerstandskämpfern benannt. Die Nähe zur 1951 errichteten Gedenkstätte Plötzensee spielte dabei eine wichtige Rolle.

Durch eine problematische Politik der Wohnungsbaugesellschaften (vor allem GSW) zogen hier viele Sozialhilfeempfänger her, während viele Berufstätige wegzogen, weil ihnen die Miete zu hoch wurde und weil es seit 1990 attraktive Alternativen im Umland gibt. Vor allem in der Paul-Hertz-Siedlung leben viele Russlanddeutsche.

Halemweg

Der Halemweg wurde 1957 benannt nach dem Juristen und Widerstandskämpfer Nikolaus Christoph von Halem, geboren 1905, am 9.10.1944 hingerichtet im Zuchthaus Brandenburg. Er musste 1933 seine Richtertätigkeit beenden, weil er keinen Eid auf Hitler leisten wollte. Er hatte Kontakte zu dem Widerstandskämpfer Beppo Römer und wurde nach dessen Verhaftung 1942 ebenfalls verhaftet.

Nr. 18

Jugendclub, gegr. am 29.11.1965, seit Anfang 2001 Mediencafé mit Internetanschluss, drittes Mediencafé der Charlottenburg-Wilmerdorfer Jugend- und Familienförderung neben dem Haus der Jugend Zillestraße in Charlottenburg und dem Haus der Jugend “Anne Frank” in Wilmersdorf. Together e.V. bietet hier neben der kostenlosen Internetnutzung für Jugendliche Kurse und Workshops an, in denen der Umgang mit den neuen Medien gelernt werden kann.

Schwerpunkte: Mädchentheatergruppe, Hausradio, Computer, Video, Sport, Töpfer- und Holzwerkstatt, Disko der Lebenshilfe e.V. Turniere (Tischtennis, Billard), Erlebnisferien; aktive Vereine: TSV, Tanzgruppe Blau Weiß, Together e.V.

Nr. 22

Anna-Freud-Oberschule, staatl. Fachschule für Sozialwesen mit gymnasialer Oberstufe (Oberstufenzentrum), 1977 gegründet, 950 Schüler, Schwerpunkt Sozialwesen.

24
Poelchau-Gesamtschule

1973 eröffnet, 700 Schüler, ist Berlins vierte Sportoberschule mit gymnasialer Oberstufe. Am 10. Dezember 2003, ab 16.00 Uhr lädt die Schule zum “Tag der offenen Tür”. Die Schule arbeitet unter anderem zusammen mit Hertha BSC.

Mit insgesamt sechs Teams startet die Poelchau-Oberschule in diesem Jahr in die Bundesfinals des Wettbewerbs “Jugend trainiert für Olympia” vom 23. bis zum 26. September 2003.

Die Ruderer konnten drei Boote ins Finale fahren und stellen sich in Grünau der Konkurrenz. Die Leichtathleten der Sportoberschule vertreten das Land Berlin im Wettkampf III im Jahn-Stadion. Im Fußball hat die Schule zwei “Eisen im Feuer”: Bei den Mädchen wie auch bei den Jungen wurde die Altersklasse II Berliner Meister. Die Jungen zählen zu den Favoriten auf den Titel, denn es wird fast die komplette Mannschaft auflaufen, die mit Hertha BSC Deutscher Meister der B-Jugend geworden ist. Wettkampfstätte bei den Mädchen ist das Stadion Göschenstraße, die Jungen kicken auf dem Maifeld am Olympiastadion. Die Endkämpfe sind jeweils am Freitag, dem 26. September. Völlig überraschend konnten auch die Tennisspieler Berliner Meister werden und sich somit für die Finalwettkämpfe qualifizieren.

Nr. 34

Erwin-von-Witzleben-Grundschule, 1962 gegründet, 340 Schüler, 2zügig, Französisch als 1. Fremdsprache, sportbetonter Zug, auch im Hort (freier Träger: SCC). Probleme bereitet die hohe Zahl von Sozialhilfeempfängern mit häufig nicht intakten Familien, während die hier unterrichteten Ausländerkinder und die Kinder von Russlanddeutschen meist gut integriert sind.

Ecke Toeplerstraße

Benannt 1937 nach dem Physiker August Joseph Ignatz Toepler (7.9.1836 – 6.3.1912)

Nr. 1

Die Evangelische Sühne-Christi-Kirche wurde 1962 bis 64 von Hansrudolf Plarre als bauliche Ergänzung zu einem bestehendem Gemeindehaus errichtet. Entstanden ist ein hexagonaler, also sechseckiger Saalbau mit dreieckigen Anbauten für Eingang und Sakristei, daneben ein freistehender Glockenturm. Es ist das Haus der Kirchengemeinde Charlottenburg-Nord.

Heckerdamm

Benannt 1950 nach dem Architekten Oswald Hecker (1869-1921), der 1907-13 den Osthafen an der Stralauer Allee gebaut hat. (zuvor Königsdamm).

Ehemaliger Haupteingang

Zwei Häuser am Eingang wurden zerstört. Von zwei “Bären mit spielenden Kindern” an der Hauptallee unweit des Eingangs am Kurt-Schumacher-Damm ist nur einer erhalten. Er wurde 1925 von Hermann Pagels geschaffen.

Durch den Ausbau des Tegeler Weges (heute Kurt-Schumacher-Damm) bzw. der Autobahn wurden östliche Teile des Parks und der Haupteingang zerstört. Ersatzweise wurden Mitte der 80er Jahre nach historischem Vorbild neue Eingänge am Heckerdamm und an der Westseite des Parks am Jungfernheideweg geschaffen. Statt des südöstlichen ehemaligen Haupteinganges wurde hier neben der Stadtautobahn ein kleiner Platz mit offenen Pavillons für BVG-Wartegäste als neuer Eingangsbereich für den Park geschaffen.

Hinckeldey-Gedenkkreuz

Ein Gedenkkreuz für Ludwig von Hinckeldey erinnert an den um den kommunalen Aufbau der Stadt verdienten Berliner Polizeipräsidenten, der 1856 bei einem Duell in der Jungfernheide von Hans-Wilhelm vom Rochow-Plessow erschossen wurde. Es wäre es sehr aufwendig, das Kreuz jetzt zu besichtigen. Es steht direkt am Waldrand an der Stadtautobahn, 10 Minuten nördlich von hier, und leider gibt es dort auch keinen Zugang zum Volkspark. Deshalb möchte ich Ihnen hier kurz etwas über Hinckeldey erzählen:

1850 war eine Gemeindeordnung erlassen worden, nach der die wichtigste Person in der Stadt Berlin nicht mehr der Oberbürgermeister, sondern der Polizeipräsident war. Der seit 1848 diese Funktion in Berlin bekleidende Carl Ludwig Friedrich von Hinckeldey nutzte seine Vollmachten zur unerbittlichen Repression aller oppositionellen Strömungen. Allerdings leistete er in den acht Jahren auch einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung einer modernen städtischen Infrastruktur, vor allem durch die Gründung einer Berufsfeuerwehr, die Organisation der Stadtreinigung, die Einrichtung von Bade- und Waschanlagen sowie den Bau von Wasserleitungen und eines Wasserwerks. Zu seinen Polizeiaufgaben gehörte auch die Überwachung des 1852 erlassenen Duellierungsverbots. Gegen dieses verstieß er aber selbst, als er 1856 meinte, eine Beleidigung nur durch ein Duell aus der Welt schaffen zu können. Zur Rechenschaft gezogen werden konnte Hinckeldey wegen dieses Verstoßes allerdings nicht, da er den Zweikampf nicht überlebte.

Das Kreuz wurde 1856 an der Duell-Stelle aufgestellt, 1904 kam direkt neben das Kreuz eine Mülldeponie, 1939 wurde es von einem eisernen Gitter eingefriedet, 1954 wurde es restauriert und an den heutigen Standort versetzt, da über den alten Standort die Stadtautobahn führt. Die vorbeiführende Straße wurde 1954 Hinckeldeydamm benannt, 1956 Kurt-Schumacher-Damm.

Wildgehege

Wasserturm

Der 38m hohe Wasserturm, ein expressionistischer Klinkerbau (1927 von W. Helmcke) wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt, blieb aber erhalten und wurde in den 80er Jahren restauriert. Früher befand sich darin unten eine Gaststätte.

Nördlich des Teichs befindet sich ein Sportplatz und die bezirkliche Baumschule.

Volkspark Jungfernheide

Die Jungfernheide als östlich von Spandau gelegenes Wald- und Heidegebiet erhielt ihren Namen nach den ‘Jungfern’ des Spandauer Nonnenklosters das 1239 von den Markgrafen Otto III und Johann I gegründet wurde. Auch die Nonnendammallee bezieht sich auf das Spandauer Nonnenkloster. Bis um 1800 befand sich hier ein kurfürstliches bzw. königliches Jagdrevier; ab 1824 wurde ein Teil der Jungfernheide als Exerzier- und Schießplatz genutzt.

1904 kaufte die Stadt Charlottenburg Teile der Jungfernheide für die Anlage eines großen städtischen Parks, was wegen der hohen Kosten immer wieder hinausgezögert wurde. Die für 1920 von der Stadt Charlottenburg bereitgestellten 10 Mio Mark wurden nach der Bildung von Groß-Berlin 1920 zunächst gesperrt. 1921 wurde eine Stiftung “Park, Spiel und Sport” gegründet, die Sponsorengelder einwarb.

1920 – 1926 wurde auf 112ha der Jungfernheidepark nach Plänen des Charlottenburger Gartendirektors Erwin Barth gestaltet. Er ist 1800 m lang und 800 m breit. Die Garten- und Hochbauverwaltung führte die Arbeiten hauptsächlich mit Arbeitslosen im Notstandsprogramm durch.

Am 27.5. 1923 wurde der Park und die Badeanlagen zu den Spiel- und Sportwochen im Bezirk eröffnet. Ein 1925 ebenfalls von Erwin Barth geschaffener Ehrenhain für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Niederdeutschen wurde bei der Verbreiterung des Tegeler Weges (heute Kurt-Schumacher-Damm) nach 1945 entfernt. 1927 wurden die Arbeiten am Park eingestellt. Aus Geldmangel konnten nicht alle Pläne realisiert werden. Der Park und einzelne Baulichkeiten wurden im Zweiten Weltkrieg sehr beschädigt.

Erwin Barth

Am Mierendorffplatz erinnert seit 1980 eine Gedenktafel an Erwin Barth. Er war von 1912 bis 1926 Gartendirektor von Charlottenburg und anschließend von Groß-Berlin. Wir haben ihm großartige Platz- und Parkanlagen zu verdanken, darunter den Savignyplatz, Brixplatz, Hochmeisterplatz, Klausenerplatz, Mierendorffplatz, Lietzenseepark und eben den Volkspark Jungfernheide. Auch der Krankenhausgarten für das damalige Krankenhaus Westend gesaltete er. Sein Credo lautete: “Wenn irgendwo eine reiche Ausstattung der Plätze mit verschwenderischer Blumenfülle, mit Brunnen und dergleichen angebracht ist, so ist es da, wo Leute wohnen, die sich keine eigenen Gärten leisten können.”

Spielwiese

Die Spielwiese zwischen Teich und Wasserturm ist Teil der Hauptachse des Parks. An ihrem östlichen Ende befand sich früher der Haupteingang.

Freizeitanlage

1956 wurde auf dem sogenannten Ferienspielplatz eine Anlage für 500 Kinder eröffnet, u.a. mit einer Liegehalle für körperbehinderte Kinder.

Teich und Insel

Der große Teich erhält über den Nonnengrabenkanal ständig frischen Zufluss aus dem Spandauer Schifffahrtskanal und gibt sein Wasser an die tiefer gelegene Spree ab. Das Becken wurde künstlich geschaffen, der westliche Teil dient als Freibad, der östliche als Planschbecken für die kleinen Kinder.

Naturtheater

Nach der Parkeröffnung 1923 wurde das ebenfalls von Erwin Barth nach dem Vorbild des antiken Theaters in Ephesos entworfene Freilufttheater, die Gustav-Böß-Bühne errichtet. Es fasst 2000 Besucher. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiederhergestellt. Kassengebäude und Umkleideräume wurden 1951 errichtet.

Die Bühne wurde benannt nach Gustav Böß, der im Januar 1921 Oberbürgermeister von Berlin wurde. Bereits als Stadtkämmerer hatte sich dieser um solide Grundlagen für die städtischen Finanzen gekümmert. Die daraus resultierenden unpopulären Maßnahmen hatten ihm nicht immer den ungeteilten Beifall der Stadtverordneten eingebracht. Als Leiter der Stadtverwaltung legte er schon Anfang 1922 ein langfristiges Programm vor, das die großzügige Anlage von Parks sowie Spiel- und Sportplätzen vorsah. Die Wirtschaft sollte durch freiwillige Spenden die Durchführung dieses für die Volksgesundheit so wichtigen Planes ermöglichen. Vorbildliche Anlagen entstanden mit dem Volkspark Rehberge, dem anschließenden Goethepark und wie wir gesehen haben mit dem Volkspark Jungfernheide.

Die gleichen sozialen Gründe bewogen den Oberbürgermeister, sein Augenmerk dem Wohnungsbau zuzuwenden. Bis 1930 wurden über 135000 Wohnungen fertiggestellt. Auch die Siemensstadt erhielt damals ihre endgültige Gestalt, doch konnte die Bautätigkeit mit dem raschen Bevölkerungsanstieg, der durch Zuwanderung bedingt war, nicht Schritt halten.

Eine glänzende Leistung, wodurch Berlin freilich schwer verschuldete, war der in die Zukunft gerichtete Ausbau des Nahverkehrsnetzes. Ernst Reuters Wirken unter Gustav Böß als Stadtrat für Verkehrswesen war es zu verdanken, dass die Berliner Straßenbahn-Betriebs GmbH, die Allgemeine Berliner Omnibus AG (ABOAG) sowie die Hoch- und Untergrundbahnen 1928 in der BVG vereinigt wurden. 1929 wurden Stadt- und Ringbahn elektrifiziert. Dadurch konnte die landschaftlich schöne Umgebung dem Berliner Ausflugsverkehr erschlossen werden.

Trotz dieser unbestreitbar großen Verdienste der Stadtverwaltung,die in einer äußerst schweren Zeit arbeiten musste und dabei die tragfähigen Grundlagen für das heutige Berlin schuf, führte der Sklarek-Skandal zum Sturz des Oberbürgermeisters Böß.

Anfang 1929 gerieten zwei stadtbekannte jüdische Kaufleute aus Osteuropa, Leo und Willy Sklarek ins Visier polizeilicher Ermittler. Ihre Textilfirma belieferte die Stadt Berlin mit Uniformen und anderen Textilartikeln. Die Polizei trug Beweise für kriminelle Handlungen wie Diebstahl, Unterschlagung und Bestechung gegen sie zusammen. Die Sklareks, Emporkömmlinge wie aus dem Bilderbuch, bewohnten hochherrschaftliche Villen im Westend, fuhren schicke Autos, besaßen eine Anzahl eigener Rennpferde und erkauften sich das Wohlwollen, das sie benötigten, um in ihren Geschäften einigermaßen freie Hand zu haben, durch Schmiergeldzahlungen an ausgewählte Beamte. Offenbar verteilten sie diese Gelder aber nicht in der nötigen Breite, denn irgendwann nahm die Polizei sie unter dem Verdacht der Hehlerei fest. Im Zuge der weiteren Ermittlungen stellte sich heraus, dass die Brüder dem Oberbürgermeister Boß einen für seine Frau bestimmten Pelzmantel geschickt hatten, ohne eine Rechnung dafür zu stellen. Dem Bürgermeister musste zugute gehalten werden, dass er mehrmals angeboten hatte, den Mantel zu bezahlen, bis die Gebrüder ihm schließlich eine Rechnung über 375 Mark geschickt hatten, was, wie er wohl wusste, ein viel zu niedriger Preis war. Er behalf sich damit, dass er den Sklareks zusätzlich 1000 Mark überwies mit der Bitte, das Geld für den Ankauf eines Gemäldes für seine geliebte Städtische Galerie zu verwenden. Das taten sie zwar, aber da der Mantel eigentlich 4950 Mark wert war, bestand noch immer der Eindruck, Böß sei in den Genuss eines Sonderangebots gekommen, wie es einem Nicht-Amtsträger niemals angedient worden wäre. Als die Affäre im September 1929 an die Öffentlichkeit drang, griffen all die Parteien, die sich dem liberalen Kurs, den Böß steuerte, schon seit langem widersetzt hatten, die Vorgänge auf, um ihn politisch in die Enge zu treiben. Die Kommunisten nannten ihn einen typischen kapitalistischen Gauner, Goebbels bezichtigte ihn in Der Angriff als einen, der mit den Juden das Bett teile.

Der Oberbürgermeister selbst befand sich, als der Skandal ruchbar wurde, gerade auf einer Amerikareise und beeilte sich nicht, zurückzukommen und seinen Anschuldigern ins Auge zu sehen. Er war in die USA gereist, um günstigere Kreditmöglichkeiten für die hoch verschuldete Stadt Berlin zu erkunden, die sich bereits mit kurzfristigen Auslandskrediten verschulden musste. Die Reise verlief hoffnungsvoll, aber die Rückkehr endete in einem Fiasko: Als er schließlich in Berlin eintraf, wurde er von einer pöbelnden Menge empfangen, die ihm eine Abreibung zu erteilen versuchte. Gedemütigt und angewidert ließ er sich frühpensionieren. Er kehrte nie in sein Amt zurück. Die Sklareks wanderten für vier Jahre ins Gefängnis.

Die eindrucksvolle Leistungsbilanz der Amtsjahre von Gustav Böß ging im Skandal unter. Das Ansehen der städtischen Verwaltung und der demokratischen Verwaltung überhaupt waren nachhaltig geschädigt, auch wenn Böß später vor Gericht vom Verdacht der Bestechlichkeit rehabilitiert wurde.