Stolpersteine Reichsstraße 104

Hausansicht Reichsstraße 104

Diese Stolpersteine wurden am 13.07.2019 verlegt.

Stolperstein Dr. Gustav Tugendreich

HIER WOHNTE
DR. GUSTAV
TUGENDREICH
JG. 1876
FLUCHT 1937
ENGLAND
USA

Gustav Tugendreich wurde am 21. Oktober 1876 in Berlin als Sohn des Kaufmanns Joseph Tugendreich und dessen zweiter Ehefrau Cäcilie geb. Wolfheim geboren. Nach seinem Abitur am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium studierte er Medizin in Berlin und München. Seine Approbation erhielt er im Mai 1901 in Berlin. Mit einer an der Universität Leipzig eingereichten Dissertation wurde er 1902 promoviert. Der Titel seiner Doktorarbeit lautete: „Der Krebs in den Provinzen Ost- und Westpreussen und Westfalen im Jahre 1900. Ein Beitrag zur Krebsstatistik“.
Um sich auf dem Gebiet der Kinderheilkunde ausbilden zu lassen, wurde Gustav Tugendreich Assistenzarzt bei Heinrich Finkelstein am Städtischen Kinderasyl und Waisenhaus und bei Adolf Baginsky am Kaiser- und Kaiserin-Friedrich-Kinderkrankenhaus. Im Jahr 1906 bekam er die Leitung einer neugegründeten Säuglingsfürsorgestelle im Stadtteil Wedding übertragen. In den darauffolgenden Jahren engagierte er sich insbesondere für die Stillförderung und den Kleinkinderschutz. Zu seinen herausragenden Werken zählen das Handbuch „Die Mutter- und Säuglingsfürsorge“ (1910) sowie der gemeinsam mit Max Mosse herausgegebene Sammelband „Krankheit und soziale Lage“ (1913).
Gustav Tugendreich war Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde sowie 1931 Gründungsmitglied und Schatzmeister der Berliner Gesellschaft für Kinderheilkunde. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verlor er nach mehr als 25 Jahren Dienstjahren im öffentlichen Gesundheitswesen von Berlin seine Anstellung als Leiter einer städtischen Säuglings- und Kleinkinderfürsorgestelle. Wenig später folgte der Umzug aus der Reichsstraße 104 in den Prenzlauer Berg (Greifswalder Straße). Als sich die Situation seiner Familie zunehmend verschlechterte, ging Tugendreich 1937 zunächst für ein Jahr an die berühmte London School of Hygiene and Tropical Medicine, bevor er mithilfe der amerikanischen Quäker in die USA emigrierte. Seine Frau und seine beiden Kinder konnten erst wenige Monate vor Kriegsbeginn nachfolgen.
Gustav Tugendreich starb am 21. Januar 1948 in Los Angeles – ohne je nach Deutschland zurückgekehrt zu sein. Sein Grab befindet sich auf dem Hollywood Forever Cemetery, einem Friedhof auf dem auch einige der bekanntesten Hollywoodgrößen begraben sind.

Text und Recherche:
Benjamin Kuntz

Quellen:

Kuntz, Benjamin (2019) Gustav Tugendreich. Kinderarzt – Sozialhygieniker – Pionier im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Jüdische Miniatur Nr. 241. Berlin/Leipzig: Hentrich & Hentrich

Schwoch, Rebecca (2009) Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus: Ein Gedenkbuch. Berlin: Hentrich & Hentrich

Seidler, Eduard (2007) Jüdische Kinderärzte 1933-1945. Entrechtet – Geflohen – Ermordet. Erweiterte Neuauflage. Basel: Karger

Pechstein, Johannes (1968) Dem Begründer der ärztlichen Kleinkinderfürsorge in Deutschland. Gustav Tugendreich zum 20. Todestag (21.10.1876-21.1.1948). Fortschr Med 86: 498-500

Stolperstein Brigitte Tugendreich

HIER WOHNTE
BRIGITTE
TUGENDREICH
JG. 1923
FLUCHT 1939
ENGLAND
USA

Stolperstein Irene Tugendreich

HIER WOHNTE
IRENE
TUGENDREICH
GEB. FONTHEIM
JG. 1890
FLUCHT 1939
ENGLAND
USA

Irene Tugendreich geb. Fontheim wurde am 12. Dezember 1890 in Berlin geboren. Ihre Eltern waren Siegfried Simon Fontheim (1854-1937), ein aus dem niedersächsischen Diepholz stammender Wäschefabrikant und dessen Frau Selma Fontheim geb. Isaac (1863-1932).
Nach dem Besuch der höheren Mädchenschule zu Charlottenburg absolvierte sie in Schöneberg am Pestalozzi-Fröbel-Haus von 1912 bis 1914 das staatliche Examen zur Kindergärtnerin und machte dort nach einem Jahr Praxis in Frankfurt am Main und einem weiteren Jahr Ausbildung im September 1916 das staatliche Examen zur Jugendleiterin. Von 1916 bis 1921 leitete sie zunächst die Schulfürsorge, später das gesamte Jugendamt der Stadt Schöneberg. Im April 1921 wurde sie als Leiterin der Abteilung Jugendfürsorge an das neugegründete Jugendamt der Stadt Berlin berufen, eine Tätigkeit, die sie bis zu ihrer Heirat ausübte. Die Hochzeit mit Gustav Tugendreich fand am 1. April 1922 statt. In den darauffolgenden Jahren kümmerte sie sich zunächst vor allem um die Erziehung ihrer beiden Kinder, Brigitte, geb. 1923 und Thomas, geb. 1925.
Ab 1933 engagierte sich Irene Tugendreich in der Zionistischen Vereinigung und wurde schließlich sogar Vorsitzende des deutschen Ablegers der Women’s International Zionist Organization (WIZO), ein Amt, das sie bis zur Zerschlagung durch die Nationalsozialisten im November 1938 ausübte. Gemeinsam mit ihren beiden Kindern emigrierte sie im Frühjahr 1939 über England in die USA und folgte damit ihrem Mann, der Berlin bereits im Herbst 1937 verlassen hatte. In den USA studierte Irene Tugendreich am Bryn Mawr College in Pennsylvania, wo ihr Mann vorübergehend eine Anstellung gefunden hatte, Soziale Arbeit, um mit einem amerikanischen Abschluss ihre Chancen auf eine bezahlte professionelle Tätigkeit zu verbessern. Im Jahr 1944 zog die Familie schließlich von der Ost- an die Westküste der USA, nachdem Irene in Los Angeles eine Stelle als Sozialarbeiterin gefunden hatte. Irene Tugendreich blieb bis ins hohe Alter berufstätig und starb 1976 im Alter von 85 Jahren. Sie ist, wie ihr Mann, auf dem Hollywood Forever Cemetery bestattet.

Text und Recherche:
Benjamin Kuntz

Stolperstein Thomas Tugendreich

HIER WOHNTE
THOMAS
TUGENDREICH
JG. 1925
FLUCHT 1939
ENGLAND
USA

Thomas Tugendreich wurde am 30. Juni 1925 in Berlin geboren. Er besuchte in den Jahren 1935 bis 1936 das Jüdische Kinder- und Landschulheim Caputh bei Potsdam und später die Theodor-Herzl-Schule am Kaiserdamm 78. Die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 erlebte er mit seiner Schwester und seiner Mutter in der elterlichen Wohnung in der Greifswalder Str. 1/Am Friedrichshain 35. Sein Vater, der Kinderarzt Gustav Tugendreich, hatte Berlin zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen. Im Frühjahr 1939 emigrierte Thomas zusammen mit seiner Schwester Brigitte und seiner Mutter Irene über England in die USA. 1944 wurde Thomas Tugendreich, der seinen Namen in den USA zu Tom Tugend ändern ließ, amerikanischer Staatsbürger. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs kämpfte er im 254. Infanterieregiment der 63. Infanteriedivision zunächst in Frankreich in der Gegend um Colmar (Elsass). Er erlebte dann u.a. mit, wie das südliche Ende des Westwalls (auch Siegfried-Linie genannt) durchbrochen und Heidelberg im Frühjahr 1945 befreit wurde. 1948 kämpfte er als Soldat im Israelischen Unabhängigkeitskrieg. Nach seinem Studium in Los Angeles, Madrid und Berkeley arbeitete Tugend die meiste Zeit seines beruflichen Lebens als Wissenschaftsautor und Kommunikationsdirektor an der UCLA. Um an der Stolpersteinverlegung für seine Familie teilzunehmen, reiste Tugend, der seit 1956 mit seiner Frau Rachel verheiratet ist, drei Töchter und acht Enkelkinder hat, im Juli 2019 eigens aus Los Angeles nach Berlin. Mit 94 Jahren ist Tom Tugend noch immer als Journalist aktiv.

Bericht von Tom Tugend über seine Kindheit in Berlin (online) : Tugend, Tom (2006) Remembering my father. aktuell – Informationen aus und über Berlin, Nr. 78.

Interviewausschnitt von Tom Tugend mit der von Steven Spielberg ins Leben gerufenen USC Shoah Foundation über seine Erlebnisse in der Pogromnacht 1938 (online))

Bericht und Video von Hertha BSC über den Besuch von Tom Tugend im Berliner Olympiastadion und Filmaufnahmen von der Stolpersteinverlegung

Bericht in den Potsdamer Neuesten Nachrichten über Tom Tugends Besuch in Caputh

Text und Recherche:
Benjamin Kuntz