Stolpersteine Hohenzollerndamm 35a

Hausansicht Hohenzollerndamm 35a

Diese Stolpersteine sind auf Initiative von Thomas Gawron von ihm und einigen Hausbewohnern gespendet und am 6.10.2016 verlegt worden.

Die Häuser am Hohenzollerndamm 35 bis 36 waren in den 1930er Jahren als Eigentum des Architekten G. Jacobowitz eingetragen.

Stolperstein Martin Gerson

HIER WOHNTE
MARTIN GERSON
JG. 1871
DEPORTIERT 25.9.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 4.4.1943

Martin Gerson wurde am 30. Januar 1871 in Frankfurt/Oder geboren. Sein Vater David Gerson war Getreidehändler, seine Mutter Pauline, geborene Schulvater, übernahm 1880, nach dem Tod ihres Mannes, die Geschäfte. Die Eltern stammten aus Meseritz und waren über die Stationen Blesen und Drossen nach Frankfurt/Oder gekommen. Martin Gerson hatte acht ältere Geschwister und einen jüngeren Bruder. Sein Leben ist eng mit dem seines 1868 geborenen Bruder Julius verknüpft – sowohl privat als auch beruflich. Beide, und auch der Bruder Georg Gerson, führten zunächst den elterlichen Getreidehandel weiter. Um 1900 zogen die drei Brüder nach Berlin. Die taube Schwester Martha folgte sowie der jüngste Bruder Richard. Georg betrieb einen Adresshandel. Zwei der vier Schwestern führten ein Hotel in Bad Kissingen, Jenny, die aussah wie Rosa Luxemburg, verschlug es nach Gelsenkirchen.

Die beiden Brüder Julius und Martin Gerson waren die erfolgreichsten unter den zehn Geschwistern. Beide sind teils unabhängig voneinander, oft aber gemeinsam Gründer, Gesellschafter oder Aufsichtsratsvorsitzende in verschiedenen Firmen. Sie ersteigern Grundstücke, kaufen Häuser.

Im Juli 1900 gründete Julius Gerson die Firma Julius Gerson, deren Gesellschafter beide sind. Ebenso1922 die Firma Sachsenbrot, eine Firma zur Produktion von Brot und Lebensmitteln, so auch die Hafermühle Wriezen, in der sie noch bis 1936 im Aufsichtsrat sitzen. Alle Firmen zeichnen sich durch Innovationen und Experimentierfreude aus. Als Beispiel möge die von Julius Gerson 1905 gegründete Treibhausgesellschaft stehen, in der er Patente zur Spargelzucht und Regulierung der Bodentemperatur erwirbt, bzw. deren Erfinder Dr. phil. Hermann Mehner Mitgesellschafter wird.

Als größtes und prominentestes ihrer Unternehmen gilt jedoch die Druckerei Paul Pittius, eine Druckerei und Lithographische Anstalt für Visiten- und Luxuskarten in der Köpenicker Straße 110 in Berlin-Kreuzberg. Ein Foto zeigt ein vierstöckiges Gebäude mit drei Höfen, in denen eine Vielzahl an Firmen produzierte. Es war die klassische Kreuzberger Mischung: vorne wohnen, hinten arbeiten. Gebaut wurde das Gebäude 1907. Davor war der Firmensitz in der Rungestraße. Gegründet wurde die Firma 1900 von Albert Wolff und Paul Pittius, der 1904 aus der Firma ausschied. Martin Gerson stieg als persönlich haftender Gesellschafter ein. Julius Gersons Eintritt in die Firma ist auf 1906 datiert. Ab 1914 waren beide alleinige Inhaber. Julius war kaufmännischer, Martin technischer Leiter. Die Angaben über die Anzahl der Mitarbeiter reichen von 400 bis 1000. Die Brüder verkauften ihre Produkte weltweit und produzierten beispielsweise Glückwunschkarten für den internationalen Markt in vielen Sprachen.

Im Jahr 1905 heirateten Martin und Julius Gerson – Ihre Ehefrauen waren beide Töchter des Spandauer Kaufmanns Salomon Sternberg, dessen Bruder Selig Sternberg das Kaufhaus Sternberg am Markt in Spandau führte. Martin vermählte sich mit Rosa Sternberg, geboren am 18. November 1876. Sein Bruder Julius hatte drei Monate zuvor deren Schwester Betty geheiratet.

Martin und Julius Gerson waren beide politisch aktiv. Julius war seit 1898 SPD-Mitglied, ab 1917 USPD und im Spartakusbund. Martin ebenfalls, nur konnten seine Mitgliedschaften noch nicht genau datiert werden.
Bei all ihrem Erfolg und Reichtum blieben die beiden Brüder sozial und unterstützten Familienmitglieder, aber auch Institutionen, Vereine, Freunde und Genossen. Ihrem Bruder Georg Gerson und Frau Martha schenkten sie ein Mietshaus als Altersvorsorge. 1908 gründeten sie den Verein notleidender Russen, 1930 ein Kinderheim für 30 Kinder im Osten von Berlin. In ihrer Fabrik Paul Pittius wurden Familienmitglieder und Freunde beschäftigt.

Martin und Julius Gerson ließen sich um 1913 auf zwei benachbarten Grundstücken in Dahlem; Im Dol 21 und 23, Villen errichten, wo sie mehr als zwanzig Jahre lebten. Ihre Häuser waren Treffpunkt des linksliberalen Berlins. Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Familie Kautsky, Paul Levi, Familie Duncker, Franz Mehring, Hugo Haase – um nur einige Namen zu nennen, verkehrten dort. In ihrer Fabrik wurden wahrscheinlich auch Flugblätter und Schriften gedruckt – was jedoch bisher nicht eindeutig nachgewiesen und dokumentiert werden konnte. Nichte Edith Gerson, die von 1914 bis 1920 bei Paul Pittius arbeitete, berichtete aber, dass sie bei Razzien in der Firma Flugblätter verstecken musste, etwa in Beinprothesen, die hinter einem Vorhang standen. Der Druck illegaler Schriften konnte polizeilicherseits nicht offiziell belegt werden. Belegt ist jedoch heute die finanzielle Unterstützung des Druckes von Schriften und die Unterstützung von Genossinnen und Genossen, so etwa von Rosa Luxemburg, wobei als Finanzier Julius Gerson stärker in Erscheinung trat. Beide Brüder waren nach dem Ersten Weltkrieg im Vorstand der „Liga für Menschenrechte“ aktiv, davor in der Vorgängerorganisation, dem pazifistischen „Bund Neues Vaterland“.

Da beide politisch aktiv waren, sahen sie die Entwicklung Deutschlands nach der Machtergreifung der NSDAP am 30. Januar 1933 klar voraus. Um die Firma zu retten, führten sie diese schon im Juli 1933 in eine Aktiengesellschaft über, als deren Vorstand die Prokuristen Erich Wolberg und Philipp Kühnlein firmierten. 1936 erfolgte die Umwandlung in eine Offene Handelsgesellschaft, deren Gesellschafter Kühnlein und Wolberg waren. Nach dem Tod von Erich Wolberg 1941 führte Philipp Kühnlein die Geschäfte weiter bis zu seinem Tod 1951. Dann übernahm seine Frau Charlotte Kühnlein als Inhaberin. Die Firma lag nach dem Krieg im Ostteil der Stadt Berlin und wurde 1952 unter die Zwangsverwaltung des Ost-Berliner Magistrats gestellt. Da sie dicht an der Grenze zu West-Berlin stand, wurde die kriegszerstörte Ruine, in der zwar noch produziert wurde, gesprengt und später das Grundstück mit Wohnblocks, die heute noch stehen, bebaut. Kurz vor der Sprengung konnte der Drucker Dietmar Liebsch Objekte aus der Firma retten – Lithographiesteine und wahrscheinlich auch eine Druckerpresse, auf der er bis 2017 arbeitete und die danach vom Deutschen Technikmuseum Berlin übernommen wurden. Die Provenienzforschung am Technikmuseum überprüfte 2022 die Objekte und kam zu dem Schluss, dass mindestens sechs Lithographiesteine eindeutig der Fabrik Paul Pittius zuzuordnen und als NS-Raubgut zu bewerten sind. Die in New York lebende Enkelin von Julius Gerson, Miki Marcu, entschied, dass sie weiterhin im Museum zu sehen sein sollen, um hier an die Geschichte der beiden Brüder zu erinnern. Eine Gedenktafel im Museum erinnert an das Schicksal der Brüder Julius und Martin Gerson und ihrer Fabrik Paul Pittius.

Martin und Julius Gerson blieben zunächst in Berlin, um für die Familie alle Geschäfte abzuwickeln. Martins Tochter Susi hatte wohl schon bald nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 Berlin verlassen und lebte in Paris. Seine Frau Rosa emigrierte Ende 1937 zusammen mit Martins Bruder Julius nach Frankreich. Rosa und Susi Gerson lebten auf dem Gut La Ferrage in Grasse, das Julius Gerson seinem Sohn Heini gekauft hatte, der nach Palästina ausgewandert war und später in der englischen Armee gegen Deutschland kämpfte. 1948 nahm er sich auf seinem Gut La Ferrage das Leben. Rosa Gerson und Tochter Susi waren von Mai bis September 1940 im Lager Gurs interniert. Nach der Besetzung des Departement Alpes-Maritimes September 1943 konnten beide in wechselnden Verstecken bis zur Befreiung Frankreichs von deutscher Besatzung im August 1944 durchhalten, zuletzt in Paris. Rosa Gerson stellte sich taubstumm. Sie lebte bis Anfang der 1950er-Jahre in Paris, bis sie nach Ascona im Tessin zog, wo sie am 3. Februar 1963 starb.

Martin Gersons Villa in Dahlem wurde 1938 „arisiert“, neuer Eigentümer des Grundstückes wurde Dr. A. Lindgens, Rechtsanwalt der Wertheim AG, der maßgeblich für die Arisierung des Wertheim-Konzerns verantwortlich war. Eine Wohnung am Hohenzollerndamm 35a, 2. OG, wurde Martin Gersons letzte Bleibe in Berlin. Der Scharoun-Bau mit Apartmentwohnungen aus den Jahren 1928-1931 soll ein sogenanntes Judenhaus gewesen sein. Seit Oktober 1938 wohnte Martin Gerson dort: 1 Zimmer, Bad, Warmwasser, Heizung, Fahrstuhl. Die Miete betrug 109,86 Reichsmark monatlich. Die Ausstattung karg. Die Kleidung erbärmlich, jedenfalls für einen vormals vermögenden Mann – zwei Garnituren Unterwäsche, vier Paar Strümpfe, fünf Oberhemden und Kragen. Martin Gersons Vermögen wurde per Verfügung aufgrund des § 1 des „Gesetzes über die Einziehung kommunistischen Vermögens vom 26. Mai 1933“ eingezogen und noch nach seiner Deportation wurden Gelder an das Bankgeschäft Tecklenburg & Co. Überwiesen – offenbar als Leistung für einen ihm aufgezwungenen „Heimeinkaufsvertrag“ – ein zynisches Angebot für den Aufenthalt in „Theresienbad“ für eine besondere Pflege im Alter.

Martin Gerson wurde am 25. September 1942 mit dem 67. Alterstransport nach Theresienstadt deportiert. Am 1. April 1943 kam er dort zu Tode. Nur sieben der 100 Menschen dieses Transportes überlebten. Zehn Tage vor ihm war seine Schwester Martha ebenfalls nach Theresienstadt deportiert worden, sie starb etwa sechs Wochen vor ihm.

Zur Abwanderung abgeholt, evakuiert, aus dem Haus entfernt – so nur einige der Vokabeln, die die Deportation beschönigen. Und gnadenlos versuchte die Hausverwaltung ausstehende Mietzahlungen bei der Ober-Finanzdirektion einzutreiben.

Martin Gersons Tochter Susi heiratete nach ihrer Entlassung aus dem Lager Gurs am 31. Oktober 1940 den italienischen Maler und Konstruktivisten Alberto Magnelli, mit dem sie später in Meudon bei Paris lebte. Die Sommer verbrachten beide nach Kriegsende auf dem Gut La Ferrage in Grasse, das sich zum Künstlertreffpunkt entwickelte. Auch Picasso verkehrte dort.

Ehefrau Rosa Gerson und Tochter Susi stellten Anfang der 1950er-Jahre Entschädigungsanträge für das Grundstück Im Dol und Grundstücke in Lichtenrade, Halensee und Friedenau, nebst Nutzungen; für Wertpapiere, Konten, ein Anderkonto beim Berliner Bankhaus Gebr. Berlinicke & Ehrenhaus, Gold, Silber, Schmuck und Pelzwaren, Radiogerät, Hausrat, eine Tonfilm-Apparatur, die Judenvermögensabgabe, die Reichsfluchtsteuer. Die Anträge richteten sich gegen das Deutsche Reich und einzelne Privatpersonen. Nach dem Tod ihrer Mutter Rosa Gerson war Susi Magnelli Alleinerbin. Sie starb 1994 in Paris.

Von den zehn Geschwistern der Gerson-Familie starben vier vor 1933, vier wurden in Konzentrationslagern ermordet. Das Schicksal von Franziska Gerson, verheiratete Salomonsohn, ist nicht bekannt. Richard Gerson nahm Gift, als er abgeholt werden sollte. Da die Gestapo annahm, dass er tot wäre, ging sie wieder. Seine Frau Elfriede brachte ihn ins Krankenhaus. Er überlebte und wurde – da ja tot – nicht weiter behelligt.

Von den Nichten und Neffen emigrierten – soweit bekannt – acht, drei wurden in Konzentrationslagern ermordet, von zweien ist das Schicksal ungeklärt, drei überlebten in Berlin. Käte Nicking, geborene Gerson, retteten die Proteste in der Rosenstraße, Hans Kolski, Sohn von Jenny Gerson, konnte im Untergrund überwintern. Alfred Löwinsky, Sohn von Rosamunde Gerson, verstarb wohl 1942 in Berlin.

Recherche: Angelika Lemke, Helga Gläser
Text: Angelika Lemke

Link:
Stiftung Deutsches Technikmuseum „Drucksteine erzählen „Die Geschichte der Brüder Gerson und ihrer Steindruckerei Paul Pittus“:
https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/paul-pittius/#s11

Quellen: Entschädigungsamt, Bundesarchiv, Landesarchiv, Ottokar Luban, Deutsches Technikmuseum Berlin (Elisabeth Weber/ Peter Prölß), Berliner Börsenzeitung, Reichsanzeiger, Burkhard Zimmermann, private Quellen.

Stolperstein Charlotte Gundelfinger

HIER WOHNTE
CHARLOTTE
GUNDELFINGER
GEB. PINCUS
JG. 1888
SCHICKSAL UNBEKANNT

Charlotte Gundelfinger geb. Pincus wurde am 3. August 1888 in Berlin geboren. Sie war Bankprokuristin und die Frau des Rechtsanwalts Paul Gundelfinger, der am Landgericht I zugelassen war. Zunächst wohnten sie in der Meinekestraße 20, während er seine Kanzlei an der Potsdamer Straße 138 hatte. Aus der Ehe ging der Sohn Peter hervor, der 1902 geboren wurde.

Paul Gundelfinger fiel im Ersten Weltkrieg, wie einer Todesanzeige im Berliner Tageblatt vom 25.3.1916 zu entnehmen ist.

bq. Am 16. März fiel für das Vaterland mein geliebter Mann, meines Jungens guter Vater, unser lieber Sohn, Schwiegersohn und Schwager Rechtsanwalt Paul Gundelfinger Unteroffizier der Landwehr. …

Todesanzeigen Paul Gundelfinger

Todesanzeige Peter Gundelfinger

Nach dem Tod ihres Mannes zog Charlotte Gundelfinger mit ihrem Sohn in die Berliner Straße 168.

Ein weiterer Schicksalsschlag traf sie, als der Sohn fünf Jahre später im Alter von 19 Jahren nach einer schweren Krankheit ebenfalls starb.

Charlotte Gundelfinger scheint noch eine Weile versteckt gelebt zu haben, wie aus einer Anmerkung in der Minderheiten-Volkszählung vom 17. Mai 1939 hervorgeht. Damals war sie am Hohenzollerndamm 35 a gemeldet. Wann und wo sie ums Leben gekommen ist, ist nicht dokumentiert. Sie wurde im August 1942 für tot erklärt. Jedenfalls war sie ein Opfer der Judenverfolgung der Nationalsozialisten.

Ihre Schwester Margarete Bonwitt, geb. Pincus, hat 1951 und 1955 aus New York (USA) Entschädigungsanträge für beschlagnahmtes Bargeld und eingezogene Wertpapiere sowie für Gold, Silber, Schmuck gestellt. Außerdem beanspruchte sie Wiedergutmachung für das geraubte Mobiliar, Ölgemälde und andere Kunst- und Kulturgüter, zu denen sie keine näheren Angaben machte.

Stolperstein Samuel Sund

HIER WOHNTE
SAMUEL SUND
JG. 1867
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
13.9.1942

Samuel Sund wurde am 4. Januar 1867 in Berlin geboren. Im Adressbuch 1939 stand er unter der Adresse Hohenzollerndamm 35a und ließ sich als „Rentier“ eintragen. Also lebte er von seinem Vermögen und war nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen. Als die meisten Juden aus der Umgebung verschleppt wurden oder ihnen die bevorstehende Deportation angekündigt wurde, so seinem Nachbarn Martin Gerson, entzog sich Samuel Sund diesem Schicksal und beging Selbstmord. Es geschah am 13. September 1942, Samuel Sund war 75 Jahre alt.

Text: Stolpersteine-Initiative Wilmersdorf-Charlottenburg. Quellen: Bundesarchiv, Adressbücher, Landeshauptarchiv Berlin-Brandenburg, Zentralarchiv Yad Vashem.