Stolpersteine Giesebrechtstraße 12

Hauseingang Giesebrechtstr. 12

15 Stolpersteine wurden am 8. Mai.2011 verlegt.
Die Stolpersteine für Ida und Felix Benjamin wurden am 1. April.2014 verlegt.

Die Stolpersteine für Amanda und Emanuel Berger wurden von Phillipp Imanuel Koblenz und Iella Peter gespendet.
Die Stolpersteine für Otto und Rose Reich wurden von Dr. Marion Knauf gespendet.
Der Stolperstein für Erna Edith Goldschmidt wurde von Hanne Becker-Koch gespendet.
Die Stolpersteine für Lilly, Hanni und Erich Wechselmann wurden von Petra und Michael Wolf gespendet.
Die Stolpersteine für Margarete und Auguste Kaiser wurden von Heidi Ewald und Herbert Märtin gespendet.

Stolperstein Erich Wechselmann

HIER WOHNTE
ERICH
WECHSELMANN
JG. 1892
DEPORTIERT 14.10.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Erich Wechselmann wurde am 28. Mai 1892 in Miechowitz bei Beuthen/Oberschlesien geboren. Sein Vater Max Wechselmann war dort Brauerei- und Gasthausbesitzer. Seine Mutter war Amalie Wechselmann, geb. Wechselmann. Er war der älteste Sohn, sein 3 Jahre jüngerer Bruder Erhard Eduard sollte später ein bekannter Bariton und Opernsänger werden. Eine 1886 geborene Schwester war schon im Alter von einem Jahr gestorben. Max Wechselmann zog mit seiner Familie – wir wissen nicht genau wann – nach Breslau, vermutlich wollte er sich dort zur Ruhe setzen. Sehr wahrscheinlich ist, dass Erich nach der Schulausbildung in Breslau seine Handelslehre machte. 1913, wenige Tage vor Erichs 21. Geburtstag, war sein Vater in Berlin zu Besuch und erlitt dort einen tödlichen Unfall. Er starb am 20. Mai in der Rettungswache der Unfallstation des Roten Kreuzes in der Kaiser-Friedrich-Straße 57. Seine Witwe Amalie blieb in Breslau und wechselte die Wohnung, von der dortigen Lothringer Straße 7 zog sie in die Augustastraße 64. Wir dürfen annehmen, dass Erich mit ihr dort wohnte, da er später auch diese Adresse hatte.

Wir finden Erich im Adressbuch hier 1927, vermutlich war Amalie inzwischen gestorben, vielleicht Erich auch schon verheiratet. Seine Frau war Hanni geb. Simmenauer, am 07. November 1905 in Breslau geboren. Hannis Vater war Michael Simmenauer, Besitzer einer Hosenfabrik, die Mutter Minna geb. Lewek. Bei Hannis Geburt wohnten sie in der Altbüßerstraße 10, einige Jahre später hatte Michael von der Hosen- zur Kinderkonfektion gewechselt und ein eigenes Haus in der Taschenstraße 20 bezogen. Hanni hatte drei Schwestern, Martha, Erna und Hertha, und einen Bruder, Alfred. Sie war die Jüngste, 7 Jahre trennten sie von dem nächstälteren Geschwisterkind, diese waren alle zwischen 1892 und 1898 geboren worden. Alfred sollte 1917 im Krieg ums Leben kommen.

Glückwunschschreiben der Apotheken-Agentur Erich Wechselmann Berlin an den neuen Inhaber der Mohren-Apotheke am 18. November 1935

Nachdem Hanni Erich geheiratet hatte, lebte sie mit ihm in der Augustastraße 64. Am 7. November 1929 gebar sie ihre Tochter Lilli. Erich scheint beruflich erfolgreich gewesen zu sein, er betätigte sich als Grundstücksmakler. Aber nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die Geschäfte für einen jüdischen Kaufmann erheblich schwieriger, und er beschloss nach Berlin umzuziehen. Wie viele andere hoffte er wahrscheinlich, in der Großstadt weniger der Diskriminierung ausgesetzt zu sein. In Berlin wohnten Wechselmanns in der Joachimsthaler Straße 17. Dort gründete Erich eine „Apotheken Agentur“ und beschrieb sein Tätigkeitsfeld so: „An- und Verkauf von Apotheken, Beschaffung von Beteiligungen, Pachtungen und Verwaltungen“. Ein Schreiben anlässlich des Verkaufs der Mohren-Apotheke in Erfurt bezeugt das. Aber auch das konnte er unter den Nazis nicht lange ausüben. 1937 hatte er zwar noch laut Adressbuch eine Immobilienfirma am Tauentzien 14 gegründet, aber bereits ein Jahr darauf musste er sie liquidieren. In diesem Jahr, 1938, ist er mit Hanni und Lilli in die Giesebrechtstraße 12 umgezogen, vermutlich in eine bescheidenere Wohnung als in der Joachimsthaler.

Das Leben für Juden war zu diesem Zeitpunkt schon erheblich eingeschränkt, nach den Pogromen im November 1938 wurde mit zahlreichen weiteren diskriminierenden und erniedrigenden Verordnungen die vollständige Ausgrenzung von Juden aus dem Berufs- und öffentlichen Alltagsleben betrieben. Im Oktober 1941 begannen dann die Deportationen von Juden. Hannis Schwester Erna, verheiratete Gerechter, wurde bereits am 25. November 1941 mit dem ersten „Transport“ von Breslau ins litauische Kowno (Kauen) deportiert und dort vier Tage später im Fort Knox IX erschossen. Minna Simmenauer, Hannis Mutter – der Vater war um 1939 gestorben – wurde am 27. Juli 1942 von der Taschenstraße 20 aus nach Theresienstadt verschleppt und kam dort bereits am folgenden 6. August ums Leben. Schwester Herta, ebenfalls in Breslau wohnhaft, wurde mit ihrem Mann Hans Wohlauer im März 1943, vermutlich im Rahmen der „Fabrikaktion“, bei der alle zur Zwangsarbeit verpflichteten Juden ohne Vorwarnung am Arbeitsplatz zur Deportation festgenommen weder sollten, nach Auschwitz verbracht und dort ermordet. Obwohl von Nichtjuden isoliert, kann man annehmen, das Hanni Wechselmann die Deportationen ihrer Familie in Breslau verfolgte, wenn auch sie nicht von deren Ermordung erfahren konnte.

Karteikarte zum Schulabgang von Lilli Wechselmann, 1938

Erichs Bruder Erhard Eduard, der Bariton, der sogar 1890 in der New Yorker Metropolitan Opera aufgetreten war, floh mit seiner Frau Ernestine und der 1931 geborenen Tochter Edith nach Utrecht in den Niederlanden. Dort betätigte er sich unter anderem als Gesanglehrer im Rahmen der Jüdischen Gemeinde. Ob Erich und Hanni auch Emigrationspläne hegten, wissen wir nicht. Jedenfalls war dies nach Kriegsbeginn sehr erschwert, und bald gänzlich verboten. Wechselmanns blieben in der Giesebrechtstraße. Lilli musste im August 1938 von der Schule abgehen und durfte nur noch auf eine jüdische Schule gehen, sie wechselte zur jüdischen Volksschule in der Klopstockstraße.

Lilly Wechselmann

Die Eltern wurden sehr wahrscheinlich zur Zwangsarbeit herangezogen. Anfang Oktober 1943 mussten dann alle drei in das im jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße 26 eingerichtete Sammellager – nun stand auch ihnen die Deportation bevor. Am 14. Oktober hatten sie mit 75 weiteren Opfern einen Zug zu besteigen, der sie in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz brachte.
Wir wissen nicht, ob Erich und Hanni, 51 und 38 Jahre alt, als „arbeitsfähig“ eingestuft wurden und sich dadurch ihre „Vernichtung durch Arbeit“ unter den unmenschlichen Bedingungen im KZ noch einige Zeit hinauszögerte. Wir kennen ihr Todesdatum nicht. Nicht als arbeitsfähig Erachtete und Kinder wurden sofort in den Gaskammern ermordet. Dies war wahrscheinlich das grausame Los von Lilli. Eine in Israel lebende ehemalige Schulfreundin, Jutta Pickardt, hat 1999 für sie in Yad Vashem ein Gedenkblatt hinterlegt.

Von dem weiteren Schicksal seines Bruders Erhard hat Erich vielleicht nicht mehr erfahren. Obwohl die Deutschen schon 1940 Holland besetzt hatten und ab 1941 von dort ebenfalls Juden deportierten, wurde Erhard Eduard Wechselmann als Musikpädagoge der Jüdischen Gemeinde zunächst ausdrücklich verschont. Doch vermutlich Anfang Juli 1943 internierte man ihn mit Ernestine und Edith im Lager Westerbork und am 20. Juli wurden sie nach Sobibor deportiert. Alle drei wurden dort auf Ankunft am 23. Juli 1943 ermordet. Ungeklärt bleibt das Schicksal von Hannis Schwester Martha, verheiratete Spingarn. Sie ist in keiner Opferdatenbank aufgeführt.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Breslauer Adressbücher; Berliner Adressbücher; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer; www.statistik-des-holocaust.de/list_ger.html; www.joodsmonument.nl/en/page/121785/erhard-eduard-wechselmann; https://archive.org/stream/simenauerfamilyc1384unse/simenauerfamilyc1384unse_djvu.txt; Breslau 1930 synagoge list

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein Hanni Wechselmann

HIER WOHNTE
HANNI
WECHSELMANN
GEB. SIMMENAUER
JG. 1905
DEPORTIERT 14.10.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Stolperstein Lilly Wechselmann

HIER WOHNTE
LILLY
WECHSELMANN
JG. 1929
DEPORTIERT 14.10.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Stolperstein Amanda Berger

HIER WOHNTE
AMANDA BERGER
GEB. SACHS
JG. 1872
DEPORTIERT 2.2.1943
THERESIENSTADT
ERMORDET 10.4.1944

Amanda Sachs wurde am 3. Juli 1872 in Kattowitz geboren. Über ihr Elternhaus und ihre Jugend ist nichts bekannt, im Adressbuch Kattowitz kommt der Name Sachs öfter vor. Es ist lediglich dokumentiert, dass sie einen Bruder Ernst Sachs hatte, der später auch in Berlin lebte. Amanda heiratete Emanuel Berger und gebar am 8. Februar 1900 in Kattowitz ihre Tochter Erna. Als ihr Sohn Alfred ein Jahr später am 30. Mai auf die Welt kam, waren Bergers in die Schillerstraße umgezogen. 1903 bekamen sie eine zweite Tochter, Ilse.

Stolperstein Emanuel Berger

HIER WOHNTE
EMANUEL BERGER
JG. 1872
DEPORTIERT 2.2.1943
THERESIENSTADT
ERMORDET NOV. 1943

Emanuel Berger wurde am 9. Juni 1872 in Rosdzin bei Kattowitz geboren. Sein Vater war sehr wahrscheinlich der Klempnermeister Samuel Berger. Auch Emanuel wurde Klempnermeister und etablierte sich 1898 in Kattowitz in der Beatestraße 13. Vermutlich hatte er das Geschäft vom Vater übernommen, der nun weiter in Kattowitz in der Sachsstraße wohnte. Um diese Zeit wahrscheinlich heiratete Emanuel Amanda Sachs, denn 1900 kam ihr erstes Kind auf die Welt.

Die Familie zog in Kattowitz noch mehrmals um, 1914 wohnten sie in der Rathausstraße 10. Dann, noch während des Ersten Weltkrieges, siedelte Emanuel Berger nach Berlin um. Im Adressbuch ist er erstmals 1918 genannt, als Klempnermeister in der Paulstraße 33 in Moabit. Zwei Jahre später hatte er ein Unternehmen – nun als „Baugeschäft“ eingetragen – in Charlottenburg in der Kantstraße 69, dort war auch seine Wohnung. 1925 ließ er das Geschäft mit einem weiteren Gesellschafter in das Handelsregister eintragen, er gab an, 20 Arbeiter und Angestellte zu beschäftigen. Auch als er 1932 das Haus Giesebrechtstraße 12 kaufte – auf den Namen von Amanda eingetragen – blieben Geschäft und Wohnung in der Kantstraße. Erst 1935 gab Emanuel Berger die Kantstraße 69 auf, und zog mit dem Baugeschäft in sein Haus in der Giesebrechtstraße. Mit der Machtübernahme der Nazis und der wachsenden Diskriminierung und Verfolgung der Juden waren auch Emanuel Bergers Geschäfte schwieriger geworden. Nichtjüdische Kundschaft blieb weg, jüdische war nicht mehr so auftragsfreudig. Nach einer Aufstellung von Lohnnachweisen der Baugenossenschaft hatten diese zwar 1936 etwa den gleichen Umfang wie 1930, zwischendurch waren sie aber erheblich höher gewesen. 1938 sanken sie auf die Hälfte. Durch Verordnung vom Dezember 1938 konnten jüdische Gewerbetreibende gezwungen werden, ihr Geschäft an Nichtjuden zu verkaufen und tatsächlich wurde Emanuel Berger genötigt, die Firma zum 31.12.1938 zu löschen. Folgt man dem Adressbuch, konnte sich Emanuel bis 1941 noch als Bauunternehmer halten, nun mit dem stigmatisierenden Zwangsbeinamen „Israel“ – Frauen mussten zusätzlich dem eigenen den Namen „Sara“ führen.

Das Haus in der Giesebrechtsstraße hatten Emanuel und Amanda bereits 1939 verkaufen müssen an den Arzt Johannes Ludwig Schmitt, eine schillernde Figur: Ehemaliger Freikorpskämpfer und Anhänger der „Schwarzen Front“, Freund von Rudolf Heß und Otto Strasser, war er zeitweise auch in Opposition zur NSDAP geraten und in Sachsenhausen interniert worden. Beim Kauf des Hauses hatte sich noch eine „Preisstoppstelle“ eingemischt, und den ursprünglich vereinbarten Kaufpreis um 12000 RM herabgesetzt. Nach Abzug der Hypothekenschulden blieb ein geschrumpfter Betrag übrig, den Schmitt nach dem Krieg behauptete so überwiesen zu haben, dass Bergers darüber verfügen könnten. Er gab überdies an, nur aus Freundschaft zu Amanda Berger das Haus gekauft zu haben. Es bleibt aber sehr fraglich, ob sie überhaupt etwas von dem Verkauf hatte, da jüdische Konten inzwischen gesperrt waren und ihnen nur ein Betrag für das nackte Existenzminimum abzuheben erlaubt wurde.

Dies war nur eine der vielen Maßnahmen, mit denen die Nazis Berufs- und Alltagsleben für Juden nach und nach unmöglich machten. Der Sohn Alfred war schon kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 nach Paris gegangen und musste 1940 vor den Deutschen weiter in das unbesetzte Südfrankreich, nach Nizza, flüchten. Tochter Ilse, die 1925 Martin Lewinski geheiratet hatte aber acht Jahre später geschieden wurde, wohnte zunächst wieder bei den Eltern und arbeitete im Baugeschäft. 1937 ging auch sie nach Frankreich zu ihrem Bruder. Auch die älteste Tochter, Erna, war inzwischen von ihrem Mann Heinz Goldschmidt geschieden und lebte und arbeitete in der Giesebrechtstraße beim Vater. Sie blieb trotz Judenverfolgung bei den Eltern. Aber ihre Tochter Lieselotte war schon 1934, als sie 13 Jahre alt war, zur Sicherheit ebenfalls zu Alfred nach Frankreich geschickt worden.

Möglicherweise hatten auch Emanuel, Amanda und Erna Berger (sie hatte 1939 ihren Mädchennamen wieder angenommen) auch geplant, nach Frankreich zu flüchten. Sie hatten bereits die „Reichsfluchtsteuer“ hinterlegt, eine weitere Maßregelung von Juden. Aber Bergers warteten zu lang, sei es, weil sie hofften, das Geschäft doch noch retten zu können, sei es, weil sie kein Visum bekommen konnten, was nach Kriegsausbruch sowieso kaum noch möglich war. 1941 wurde Juden die Ausreise ganz und gar verboten, und die Familie blieb verarmt, entrechtet und gedemütigt in Berlin zurück.

Ende Januar 1943 bekamen alle drei – zu unterschiedlichen Zeitpunkten – den Deportationsbescheid. Amanda und Emanuel mussten wahrscheinlich noch erleben, wie Erna abgeholt wurde bevor sie wenige Tage später das gleiche Schicksal erlitten. Erna Berger, geschiedene Goldschmidt, wurde am 29. Januar 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sie wenige Wochen später ermordet wurde. Vier Tage nach Erna, am 2. Februar, verschleppte man Amanda und Emanuel nach Theresienstadt. In diesem von der NS-Propaganda euphemistisch als „Altersghetto“ bezeichneten Lager herrschten entsetzliche Lebensbedingungen: Die Wohnräume heruntergekommen und brutal überfüllt, die Nahrung unzureichend, die hygienischen Bedingungen katastrophal. Hunger, Kälte, Krankheiten und Seuchen suchten die Bewohner heim und rafften viele dahin. Emanuel Berger starb schon am 3. November des Jahres, Amanda musste noch einen harten Winter durchleben und erlag den todbringenden Umständen am 6. April 1944.

Alfred, Ilse und Ernas Tochter Lieselotte überlebten in Frankreich. 1952 wurde das Haus Giesebrechtstraße 12 zurückgegeben und Ilse, inzwischen verheiratete Sztark, lebte dort bis zu ihrem Tode 1963.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Adressbuch Kattowitz; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger.html

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein Erna Edith Goldschmidt

HIER WOHNTE
ERNA EDITH
GOLDSCHMIDT
GEB. BERGER
JG. 1900
DEPORTIERT 29.1.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET MÄRZ 1943

Am 8. Februar 1900 wurde Erna Edith Berger in Kattowitz, Schlesien, geboren. Ihre Eltern Emanuel Berger und Amanda geb. Sachs lebten dort in der Beatestraße 12. Emanuel Berger war Klempnermeister, wie auch sein Vater Samuel Berger. Ein gutes Jahr nach Erna kam ihr Bruder Alfred zur Welt, 1903 die Schwester Ilse. Die Familie zog in Kattowitz noch mehrmals um, als Erna 14 Jahre alt war wohnten sie in der Rathausstraße 10. Dann, noch während des ersten Weltkrieges, siedelte Emanuel Berger nach Berlin um. Im Adressbuch ist er erstmals 1918 genannt, als Klempnermeister in der Paulstraße 33 in Moabit. Zwei Jahre später hatte er sein Baugeschäft und die Wohnung nach Charlottenburg verlegt, in die Kantstraße 69.

Erna wohnte aber nicht lange an dieser Adresse, denn im Juli 1920 heiratete sie den Goldschmied und Juwelier Heinz Goldschmidt, der auch in der Kantstraße 69 wohnte. Heinz etablierte sein Geschäft in der Dernburger Straße 24, nach der Heirat nahm er eine Wohnung in der Kuno-Fischer-Straße 20. Dort wurde 1921 die Tochter Lieselotte geboren. Als diese acht Jahre alt war, ließen sich die Eltern scheiden. Erna, die Sekretärin gelernt hatte, zog wieder zu den Eltern in die Kantstraße und half im Geschäft des Vaters. Mit der Machtübernahme der Nazis und der wachsenden Diskriminierung und Verfolgung der Juden wurden auch Emanuel Bergers Geschäfte schwieriger. Immerhin besaß er das Haus Giesebrechtstraße 12, dass er schon 1932 – auf den Namen Amandas – gekauft hatte. 1935 gab er die Kantstraße 69 auf, und zog mit dem Baugeschäft in sein Haus in der Giesebrechtstraße, und Erna mit ihm. Ihr Bruder Alfred war schon bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 nach Paris gegangen. Die Schwester Ilse hatte 1925 geheiratet, war aber 1933 geschieden worden und lebte nun ebenfalls in der Giesebrechtstraße. Auch sie half im Geschäft mit. Ernas Tochter Lieselotte wurde 1934, 13-jährig, zu ihrer Sicherheit nach Frankreich zu ihrem Onkel geschickt. Drei Jahre später ging auch Ilse zu ihm nach Frankreich.

In Berlin wurden die Verhältnisse für Juden immer prekärer. Ernas Vater wurde gezwungen, das Geschäft aufzugeben und das Haus zu verkaufen. Nach den Pogromen vom November 1938 nahm die Zahl der gegen Juden gerichteten Verordnungen drastisch zu. Erna wurde zur Zwangsarbeit in einer Munitionsfabrik verpflichtet. Im Juni 1939 nahm sie wieder ihren Familiennamen „Berger“ an.

Im Januar 1943 wurde Erna Berger, geschiedene Goldschmidt, in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 eingewiesen, ein umfunktioniertes jüdisches Altersheim, und am 29. Januar mit 999 weiteren Menschen, darunter auch das Ehepaar Reich aus der Giesebrechtstraße 12, nach Auschwitz deportiert. Erna wurde dort im März 1943 ermordet, sie wurde nur 43 Jahre alt.

Ernas Schwiegereltern, Philipp Goldschmidt und Juliane Goldschmidt geb. Barnas hatte man schon am 21. Juli 1942 nach Theresienstadt verschleppt. Juliane Goldschmidt starb dort wenig später, am 7. August, an den Folgen der erbärmlichen Lebensumstände im Lager, ihr Mann wurde am 23. September 1942 nach Treblinka weiterdeportiert und dort ermordet. Heinz Goldschmidt ist in keinem Gedenkbuch erfasst, er überlebte vermutlich. Ernas Geschwister und ihre Tochter überlebten in Frankreich.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Adressbuch Kattowitz; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/; https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger.html

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein Margarete Kaiser, 10.05.11

HIER WOHNTE
MARGARETE KAISER
JG. 1887
DEPORTIERT 26.2.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Stolperstein Auguste Kaiser

HIER WOHNTE
AUGUSTE KAISER
JG. 1890
DEPORTIERT 26.2.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Margarete und Auguste – genannt Guste – Kaiser wurden in Beuthen (heute Bytom) geboren, Margarete am 11. Dezember 1887 und Auguste am 31. Mai 1890. Vater war der Rechtsanwalt Ernst Kaiser, Mutter seine Frau Martha geb. Grünfeld. Sie wohnten zunächst in der Gleiwitzer Straße 39 und später in der Bahnhofstraße 1. Anfang des Jahrhunderts war Ernst Kaiser Justizrat und Notar. Im April 1919 starb er, 63-jährig. Margarete war zu dem Zeitpunkt 31 Jahre alt und Auguste 28. Beide waren ledig.

Nach dem Tode ihres Mannes zog Martha Kaiser nach Berlin, sicherlich mit ihren beiden Töchtern. Sie nahmen eine Wohnung in der Bismarckstraße 115, Martha ließ sich ins Adressbuch als „Frau Justizrat” eintragen. Die gute Adresse und die Stellung ihres verstorbenen Mannes lassen vermuten, dass sie ein sorgloses Leben führen konnten. Auch stammte Martha aus einer wohlhabenden Familie in Kattowitz. Von Guste berichtete ein Cousin, Walter Grünfeld, Sohn von Marthas Bruder Hugo: „Meine Kusine Guste Kaiser war Malerin, kopierte oft alte Meister im Kaiser Friedrich Museum”. Womit sich Margarete beschäftigte, wissen wir nicht. Die Schwestern standen u.a. im Austausch mit ihren Cousinen Margot und Ellen Epstein, Töchter von Marthas Schwester Minna. Diese waren auch kulturell und musisch veranlagt, Margot schriftstellerisch und journalistisch, Ellen musikalisch.

1934 starb Martha Kaiser und Margarete und Guste nahmen sich eine 4-½-Zimmer-Wohnung in der Gisebrechtstraße 12, Vorderhaus 3. Stock. Inzwischen waren die Nationalsozialisten an die Macht gekommen, und die beiden Schwestern mussten in den folgenden Jahren erleben, wie ihr Leben durch Antisemitismus und diskriminierende Maßnahmen der Regierung zunehmend erschwert wurde, insbesondere die Verfügung über ihr Vermögen wurde empfindlich eingeschränkt. Nach dem Novemberpogrom am 9./10. November 1938 häuften sich noch mal die Verordnungen gegen Juden, sie durften nicht am öffentlichen Leben teilnehmen, nicht in Theater, Konzerte, Kinos usw., zu bestimmten Zeiten durften sie gar nicht mehr auf die Straße, durften nur von 4 bis 5 Uhr nachmittags einkaufen. Alle Wertgegenstände mussten sie abliefern, Rundfunkgeräte wurden beschlagnahmt, Telefonanschlüsse gekündigt, ihre Konten wurde zu „Sicherheitskonten“ erklärt, von denen sie nur durch „Sicherungsanordnung“ festgelegte Beträge für ein Existenzminimum abheben durften.

Margarete und Guste mussten ihrem Namen den Zwangsnamen “Sara” beifügen, hatten ab September 1939 den Judenstern zu tragen und ihre Wohnung entsprechend zu kennzeichnen. Sie mussten Untermieter aufnehmen, da nach Lockerung des Mieterschutzes für Juden diese gekündigt und in die Wohnungen anderer Juden zwangseingewiesen werden konnten. So sollte auch Wohnraum für Nichtjuden geschaffen werden. In Berlin wurde das besonders ab Anfang 1941 betrieben, da Ersatzwohnraum nicht nur infolge von Fliegerangriffen benötigt wurde, sondern auch aufgrund der Baupläne von Generalbauinspektor Albert Speer für die „Welthauptstadt Germania“, im Zuge derer ganze Straßenzüge abgerissen wurden. Einer der Untermieter der Schwestern war ihr Onkel Felix Benjamin, der Ida Grünfeld, eine weitere Schwester Marthas, geheiratet hatte (siehe Biografie auf dieser Seite).

Sowohl Margarete wie Guste wurden zur Zwangsarbeit bei der Metall- und Elektrofirma Ehrich & Graetz in Treptow verpflichtet, die zur Rüstungsindustrie zählte. Zwischen 1940 und Anfang 1943 beschäftigte das Unternehmen über 500 jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen. Ende 1942 oder Anfang 1943 wurden die Schwestern von der Gestapo in das Lager in der Auguststraße 17 verbracht, ein beschlagnahmtes ehemaliges jüdisches Bereitschaftsheim. Dr. Akim Jah schreibt dazu: „Das Lager […] diente der Unterbringung von 265 in der Rüstungsindustrie tätigen jüdischen Zwangsarbeitern, die von der Gestapo bzw. SS aufgegriffen, aber von einer Deportation kurzfristig zurückgestellt worden waren. Von der Auguststraße aus hatten sie täglich ihre Arbeitsstätte aufzusuchen. Das Lager unterstand der Aufsicht der Stapoleitstelle. Als jüdische Heimleiterin fungierte Rebekka (Rebecca) Oberländer, die vermutlich in den Wochen davor das auf demselben Gelände befindliche Siechenheim geleitet hatte.”

Von hier mussten also die beiden Schwestern täglich nach Treptow zur Arbeit fahren. Und hier hatten sie bereits am 27. Januar 1943 die “Vermögenserklärung” auszufüllen, in der Juden Auskunft über ihr Eigentum bis hin zu jedem Teelöffel machen mussten, und die zur Vorbereitung der Beschlagnahmung infolge der Deportation dienen sollte. Margarete und auch Guste füllten das Formular allerdings nur oberflächlich aus, indem sie bei den meisten Posten nur “Verschiedenes” eintrugen. Kein Wunder, war doch ihr ganzer Hausrat in der Giesebrechtstraße geblieben. Und dieser zeugte in Teilen noch von vergangenem Wohlstand. Bei der späteren Inventarisierung durch den Gerichtsvollzieher kam die stattliche Summe von 4002 RM zusammen, aufgeführt wurden z.B. ein 61-teiliges Rosenthalservice und ca. 100 geschliffene Gläser, aber auch 3 Staffeleien, die Guste gehört haben dürften.

Knapp einen Monat später und noch vor der berüchtigten “Fabrikaktion”, bei der auch bei Ehrich & Graetz hunderte von Arbeitern am Arbeitsplatz verhaftet wurden, wurden Margarete und Auguste Kaiser in das nahe Sammellager Große Hamburger Straße 26 überführt, ein ebenfalls umfunktioniertes jüdisches Altersheim, und am 26. Februar vom Güterbahnhof Moabit aus mit über 1000 weiteren Menschen nach Auschwitz deportiert. Dort angekommen, wurden lediglich 156 Männer und 106 Frauen als Arbeitssklaven ausgesucht. Bei den vorherrschenden Arbeits- und Ernährungsbedingungen kam das einer “Vernichtung durch Arbeit” gleich. Alle anderen Insassen des Zuges wurden sofort in den Gaskammern ermordet. Wir wissen nicht, welches dieser Schicksale den Schwestern bestimmt war – überlebt haben sie so oder so nicht.

Felix Benjamin, Margaretes und Gustes Onkel, wurde bald nach ihnen, im März 1943, nach Theresienstadt deportiert, und starb dort an den menschenverachtenden Lebensumständen. Die Cousinen Margot und Ellen Epstein waren schon am 19. Oktober 1942 nach Riga verschleppt und dort ermordet worden.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Adressbuch Beuthen; Landesarchiv Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger.html ; Walter Grünfeld, Rückblicke, 1991; Akim Jah, Die Berliner Sammellager im Kontext der „Judendeportationen“ 1941–1945, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Nr. 3/2013, S. 211-231

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein Feodora Liegner

HIER WOHNTE
FEODORA LIEGNER
GEB. SACHS
JG. 1881
DEPORTIERT 13.1.1942
ERMORDET IN
RIGA

Feodora Liegner wurde geboren als Feodora Sachs am 15. August 1881 in Kattowitz (poln. Katowice)/Schlesien. Ihre Eltern waren Jacob und Esther Sachs. Ihr Vater war mit ziemlicher Sicherheit der Kartoffelhändler Jacob Sachs in der Mühlstraße 17 in Kattowitz. Etwa 1903 oder 1904 heiratete Feodora den Kaufmann Max Liegner aus Gleiwitz und zog dorthin. Max Liegner betrieb ein „Fenster-Reinigungs-Institut” in der Wilhelmstraße 39. 1905 kam Feodoras Sohn Heinz-Jacob zur Welt und wahrscheinlich ist Kurt Liegner, der 1906 geboren wurde und laut Meldekarte später an der gleichen Adresse wie Feodora lebte, auch ihr Sohn. Drei Jahre später folgte die Tochter Gerda, da wohnte die Familie schon in der Bahnhofstraße.

Im Ersten Weltkrieg war Max Liegner Soldat und fiel am 16. Oktober 1916. Feodora blieb mit den Kindern zurück und führte das Geschäft weiter. Im Adressbuch 1924 ist sie als „Geschäftsführerin” eingetragen, später als „Witwe”, immer in der Bahnhofstraße 12. An der gleichen Adresse ist 1931 auch Heinz als Kaufmann eingetragen. Laut Meldekarte ist Feodora später nach Stuttgart gezogen, leider ist das Datum nicht vermerkt. Ebenfalls ohne Datum ist vermerkt, dass Heinz mit seiner Frau Sophie (?) nach Palästina ausgewandert ist. Das lässt vermuten, dass sowohl Feodora als auch Heinz nach Machtübernahme der Nationalsozialisten Gleiwitz den Rücken kehrten.

In Stuttgart betrieb von 1934 bis 1937 Kurt Liegner, der 1925 von Gleiwitz nach Staßfurt in Sachsen-Anhalt – möglicherweise zur kaufmännischen Ausbildung – abgemeldet war, einen Textilwarenversand. Es ist also anzunehmen, dass Feodora zunächst zu ihrem Sohn Kurt zog. Nach 1937 ist er nicht mehr im Adressbuch zu finden, und es ist denkbar, dass er zu dem Zeitpunkt auswanderte. Das dürfte der Zeitpunkt sein, an dem Feodora nach Berlin ging. Bei der Volkszählung im Mai 1939 wurde Feodora Liegner als in der Giesebrechtstraße 12 wohnhaft registriert, vielleicht war sie mütterlicherseits mit Amanda Berger geb. Sachs verwandt, zumal auch diese aus Kattowitz stammte. (siehe Biografie auf dieser Seite), evtl. waren sie Schwestern.

Lange konnte Feodora nicht in der Giesebrechtstraße bleiben. Im Juli 1940 wurde sie in der Schillerstraße 57 in die Wohnung von Max Levy zwangseingewiesen. Da sie in den NS-Unterlagen als „Angestellte” bezeichnet wird, kann man annehmen, dass sie für die Jüdische Kultusgemeinde arbeitete, eine andere Anstellung war für Juden nicht mehr möglich. Sie waren nach und nach all ihrer Rechte und Möglichkeiten beraubt worden, vor allem nach den Pogromen vom November 1938 hatten sich die diskriminierenden und erniedrigenden Verordnungen gegen Juden gehäuft.

Im Dezember 1941 wurde Feodora angekündigt, dass sie nach Riga „überführt” werden sollte, ein Euphemismus der Nazis für die Deportationen. Am 18. Dezember unterschrieb sie die „Vermögenserklärung”, die jeder zu Deportierende ausfüllen musste. Viel nannte sie nicht mehr ihr eigen, ihre Kriegswitwenrente betrug nunmehr 66.68 RM – jährlich. Die geringen Ersparnisse, die sie hatte, versuchte die Oberfinanzdirektion noch im Januar 1945 einzuziehen.

Wahrscheinlich wurde Feodora Liegner erst Anfang Januar 1942 in das Sammellager eingewiesen, das die Gestapo in der Synagoge Levetzowstraße 7/8 einzurichten befohlen hatte. Am 13. Januar musste sie dann am Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald mit 1033 weiteren Menschen den Deportationszug besteigen. Kranke und Alte waren in Lastwagen von der Levetzowstraße dorthin gebracht worden, Feodora musste wohl mit allen anderen bei eisiger Kälte zu Fuß durch die ganze Stadt nach Grunewald laufen. Der Zug brauchte drei Tage, um Riga zu erreichen.

Das Ghetto Riga war von den Deutschen nach der Einnahme der Stadt im Juli 1941 eingerichtet worden. Fast 30000 lettische Juden waren dort auf engstem Raum und unter erbärmlichen Bedingungen eingepfercht. Ende November und Anfang Dezember des Jahres ließ die SS über 90% von ihnen ermorden – um Platz für die zu deportierenden „Reichsjuden“ zu schaffen. Die Menschen in dem ersten Zug aus Berlin, der am 30. November ankam, wurden alle ebenfalls sofort erschossen, eine „Eigenmächtigkeit“ des SS-Führers Friedrich Jeckeln, die ihm eine Rüge von Himmler einbrachte. Himmler hatte dieses Schicksal nur „Arbeitsunfähigen“ zugedacht.

Das Leben im Ghetto war besonders hart: Zu sechst hatten sie sich 2 Zimmer zu teilen, überall sah man noch Spuren der Massenermordung der lettischen Juden, Ernährung und Hygiene waren katastrophal, im Winter gab es kein Wasser, da die Rohre eingefroren waren. Zudem wurden die Insassen zu harter Zwangsarbeit herangezogen.

Wir wissen nicht, wie lange die 62-jährige Feodora das Dasein im Ghetto überlebte. Wenn sie nicht gleich erschossen wurde, wurde sie möglicherweise ein Opfer der besonders zynischen „Aktion Dünamünde“, die von Februar bis April 1942 stattfand. Die NS-Schergen behaupteten, Arbeitskräfte würden in einer Fischfabrik in Dünamünde benötigt, wo die Arbeit leichter und die Arbeitsbedingungen besser seien. Sogar Freiwillige meldeten sich. „Dünamünde“ aber existierte nicht und die Fischfabrik auch nicht. Nicht oder nicht voll Arbeitsfähige, die dorthin sollten oder wollten, wurden auf einem nahen Gelände ermordet. Feodora Liegner kam entweder dabei oder im Ghetto selbst ums Leben. Ihr Todesdatum ist nicht bekannt.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Adressbuch Kattowitz; Adressbuch Gleiwitz; Adressbuch Stuttgart; Landesarchiv Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer; Meldekarten Gleiwitz: http://gen.scatteredmind.co.uk/Gleiwitz_residence_cards

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein Otto Reich

HIER WOHNTE
OTTO REICH
JG. 1885
DEPORTIERT 29.1.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET 15.2.1943

Otto Reich kam am 5. Mai 1885 in der Berliner Weißenburger Straße (heute Kollwitzstraße) 3 zur Welt. Sein Vater, der Mehlhändler Robert Reich, gab wenige Tage später beim Standesamt zu Protokoll, dass von seiner Frau Anna, geb. Hohenstein, in der gemeinsamen Wohnung ein Sohn geboren worden sei, der die Namen Otto Max bekommen habe. Robert Reich hatte um 1880 das Geschäft für „Mehlhandel und Mühlenfabrikation“ in der Weißenburger Straße 3 von J. Reich übernommen, möglicherweise seinem Vater, Ottos Großvater. Wenige Jahre nach Ottos Geburt verschwindet die Mehlhandlung aus den Adressbüchern, Robert ist nun nur noch allgemein als „Kaufmann“ eingetragen. Der Name kommt allerdings mehrmals vor. Ottos Spur finden wir erst wieder 1915, er war inzwischen Diplom-Ingenieur geworden und wohnte in der Clausewitzstraße 2, 2. Stock. Und auch ein Kaufmann Robert Reich wohnte dort, wohl Ottos Vater.

In den nächsten zwei Jahren finden wir Otto nicht im Adressbuch, und es ist zu vermuten, dass er im Krieg war. Schon 1916 zurück in Berlin, zog er mit seiner Mutter Anna, nun vermutlich verwitwet, in die Sybelstraße 37/38. Dort wohnte auch Hans Reich, Rechtsreferendar, ein Bruder oder Cousin Ottos, der 1919 Trauzeuge bei Ottos Heirat war. Denn Otto heiratete am 29. Oktober dieses Jahres die 30jährige Rose Reich.

Rose Reich kam am 2. Dezember 1888 zur Welt. Ihre Eltern, der Kaufmann Albert Reich und seine Frau Agnes, geb. Joachim, lebten in Landsberg an der Warthe. Albert Reich besaß dort eine Wassermühle, und man kann sich vorstellen, dass er mit dem Mehlhändler Robert Reich aus Berlin geschäftlich zu tun hatte. Möglicherweise waren beide Familien Reich auch verwandt, und Otto und Rose waren Cousin und Cousine.

Rose zog mit ihrer Mutter Agnes und eventuell weiteren Geschwistern nach Berlin, nachdem Albert Reich gestorben war. Das muss um die Jahrhundertwende gewesen sein, denn 1903 ist die Witwe Agnes Reich, geb. Joachim, in der Wilhelmshavener Straße 63 in Berlin eingetragen. Nach mehreren Umzügen finden wir sie 1910 wieder – in der Clausewitzstraße 2, jenem Haus, in dem auch Robert Reich mit seiner Familie lebte – er im 2. Stock, Agnes im Gartenhaus, 1. Stock. Vielleicht lernten sich Otto und Rose erst hier kennen.

Zum Zeitpunkt ihrer Heirat war Rose als Privatsekretärin tätig. Das junge Paar wohnte nach der Heirat in der Sybelstraße 37/38, wo Otto ja schon seit einigen Jahren mit seiner Mutter Anna lebte. Ob Otto und Rose Kinder bekamen, ist leider nicht dokumentiert. Wir wissen auch nicht, für welche Firma Otto tätig war, offenbar machte er aber Karriere: In den 20er-Jahren ist er im Adressbuch als Diplomingenieur und Prokurist, dann als Ingenieur und Direktor eingetragen. 1933 zogen Otto und Rose in die Giesebrechtstraße 12. Otto wird nicht mehr als Direktor bezeichnet, vielleicht ein Zufall, möglich aber auch, dass er bereits zu Beginn der NS-Herrschaft seine Stellung verlor.

Denn schon im April nach der Machtübernahme gab es einen ersten Judenboykott und das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ bewirkte, dass jüdische Beamte in den Ruhestand versetzt wurden. Auch nicht wenige private Unternehmer kündigten ihren jüdischen Mitarbeitern. Otto versuchte sich als Vertreter durchzuschlagen, doch auch das dürfte nicht leicht gewesen sein. 1941 ist Otto letztmalig im Adressbuch verzeichnet, als „Otto Israel Reich, Ingenieur“. Er und Rosa wohnten aber auch in der folgenden Zeit weiter in der Giesebrechtstraße 12. Vermutlich mussten sie ihre Wohnung mit jüdischen Untermietern teilen, die ihrerseits gezwungen worden waren, ihre Wohnung aufzugeben. Und sehr wahrscheinlich wurden auch sie ab 1941 zur Zwangsarbeit herangezogen.

Ende Januar 1943 wurden Otto und Rose Reich von der Gestapo in die Große Hamburger Straße 26 verbracht, ein zum „Sammellager“ umfunktioniertes jüdisches Altersheim. Am 29. Januar deportierte man sie vom Bahnhof Moabit aus mit 1002 weiteren Menschen nach Auschwitz. 140 Frauen und 140 Männer unter ihnen wurden zur Zwangsarbeit bestimmt, alle anderen sofort in den Gaskammern ermordet. Ob Otto und Rosa Reich zu letzteren gehörten, oder ob sie durch die brutalen Lebens- und Arbeitsbedingungen im KZ ums Leben kamen, ist nicht bekannt.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005

Recherchen/Text: Micaela Haas

Stolperstein Rose Reich

HIER WOHNTE
ROSE REICH
GEB. REICH
JG. 1888
DEPORTIERT 29.1.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Biografie siehe Otto Reich

Stolperstein Frida Dresel

HIER WOHNTE
FRIDA DRESEL
GEB. AUERBACH
JG. 1890
DEPORTIERT 14.7.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 16.5.1944
AUSCHWITZ

Frieda Dresel kam als Frieda Auerbach (selten auch Frida geschrieben) in Berlin am 15. Februar 1890 zur Welt. Der Vater war der Kaufmann Moritz Auerbach, die Mutter Josepha geb. Wahl. Die Eltern wohnten in der Neuen Königsstraße 85, Moritz Auerbach unterhielt eine „Lumpenhandlung engros“ in der Greifswalder Straße 5. Frieda war das älteste Kind, sie sollte noch drei Geschwister bekommen: Hedwig 1891 geboren, Franz 1892 und Nesthäkchen Gertrud 1899. Nach Hedwigs Geburt zogen Auerbachs um in einen Neubau in der gleichen Straße, Nr. 39. Auch das Geschäft, nun als Lumpenhandlung und Papier-Sortieranstalt“ bezeichnet, wechselte die Adresse, sie lautete nun Greifswalder Straße 59.60, später nummeriert in 212/213. Als Frieda 6 oder 7 Jahre alt war, zog Moritz Auerbach in die damalige Landgemeinde Oberschöneweide, in das Conrad‘sche Haus an der Chausseestraße, neben dem beliebten Ausflugslokal Sadowa gelegen. Oberschöneweide war dabei, sich zum Industriestandort zu entwickeln und auch Moritz Auerbach siedelte seinen Betrieb dorthin um, jetzt als „Papier- und Pappen-Fabrik Sadowa Moritz Auerbach & Co“. Das Ausflugslokal und nun auch die Fabrik waren benannt nach einem tschechischen Dorf in der Nähe des Schlachtfelds von Königgrätz, wohl um den Sieg 1866 Preußens über Österreich und Sachsen zu ehren – er gilt als Wegbereiter für die Gründung des Deutschen Reiches. Die nächstgelegene Bahnstation hieß auch Sadowa, heute ist es der Bahnhof Wuhlheide.

Möglicherweise war der Umzug keine gute Entscheidung Moritz Auerbachs. Jedenfalls beschloss er schon kurz darauf, 1899, in die USA auszuwandern. Er schiffte sich am 8. Oktober erst mal allein nach New York ein, am 13. Dezember folgte dann Josepha mit den vier Kindern, die kleine Gertrud war gerade ½ Jahr alt, Frieda 9 Jahre.

Die Auswanderung scheint den Auerbachs auch kein Glück gebracht zu haben. Schon 1900 finden wir Josepha wieder hier, jetzt in Charlottenburg, Grolmanstraße 68, offenbar ohne Moritz. Hatten sie sich getrennt? Oder war er kurz nach der Ankunft verstorben? Wir wissen zwar, dass er in New York starb, aber nicht wann genau. Josepha, im Adressbuch nur als „Frau“ bezeichnet, ist dort erst wieder 1907 eingetragen, jetzt als Witwe. War sie zwischendurch noch mal in den USA? Oder, was wahrscheinlicher ist, hatte sie einige Jahre in Charlottenburg oder Berlin zur Untermiete gewohnt?

Nach zwei Wohnungswechseln in die Leibniz- und die Herderstraße, findet Josepha mit ihren Töchtern eine Wohnung in der Goethestraße 61, in der sie bis zu ihrem Tod 1928 bleiben wird. Der Sohn Franz fuhr wahrscheinlich 1911 wieder in die USA: Passagierlisten führen einen 18-jährigen Franz Auerbach aus Berlin auf.

Vier Jahre nachdem Friedas jüngere Schwester Hedwig 1913 geheiratet hatte, heiratete auch sie. Der Bräutigam war der zwei Jahre jüngere „Assistenzarzt der Reserve“ Dr. Kurt Max Dresel. Dieser hatte bis dahin auch in der Herderstraße gewohnt und war möglicherweise ein Freund von Friedas Bruder gewesen. Das Paar nahm eine Wohnung in der Schillerstraße 19, in unmittelbarer Nähe sowohl von Josephas Wohnung sowie von der Herderstraße 2, in der weiterhin Kurts Mutter Else lebte. Kurt richtete in der Schillerstraße auch seine Praxis für innere Krankheiten ein. 1919 bis 1930 war er Assistenzarzt an der Charité, danach Chefarzt am Städtischen Krankenhaus Britz. Er schlug auch eine Universitätskarriere ein: 1923 habilitierte er und wurde Privatdozent, bald darauf außerordentlicher Professor an der Charité. Nach Josephas Tod zogen Kurt und Frieda in die vornehmere Margaretenstraße 4 im Grunewaldviertel.

Soweit wir wissen, hatten Kurt und Frieda keine Kinder. Mit Machtantritt der Nationalsozialisten wurde Kurt als Chefarzt entlassen und die Lehrbefugnis wurde ihm kurz darauf aberkannt. Im Januar 1935 ließen Frieda und Kurt sich scheiden. Sechs Wochen später heiratete er erneut und zog um nach Tiergarten. Frieda hatte von da an, folgt man dem Adressbuch, keine eigene Wohnung, sie wohnte zur Untermiete, vielleicht schon in der Giesebrechtstrasse 12. Dokumentiert ist, dass sie dort 1939 lebte, als Untermieterin von Sophie Rosenthal. So wurde es bei der Volkszählung vom 17. Mai 1939 festgehalten, bei der Juden in einer gesonderten Kartei erfasst wurden.

Für Juden war mittlerweile das Leben äußerst schwer geworden. Zahlreiche diskriminierende und ausgrenzende Verordnungen verwehrten ihnen berufliche Tätigkeiten und schränkten ihren Alltag drastisch ein. Auch über ihr Geld konnten sie nicht mehr frei verfügen. Ihre Wohnungen mussten sie zugunsten von Nichtjuden räumen um in „Judenhäusern“ oder „Judenwohnungen“ zusammengepfercht zu werden.
Auch Frieda Dresel musste aus der Giesebrechtstraße ausziehen und bekam ein Zimmer in der Mommsenstraße 52 bei Schmey zugewiesen. Schikanen und Verfolgung von Juden sollten sie zum Verlassen Deutschlands zwingen, andererseits wurde die Emigration durch etliche Auflagen erschwert. Zudem wurde es immer schwieriger, ein Visum für ein Aufnahmeland zu bekommen, nach Kriegsausbruch fast unmöglich. Kurt konnte mit seiner 2. Frau in die USA fliehen, Frieda, die schon als Kind in den USA gewesen war, fand keine Möglichkeit zur Auswanderung. Am 5. Juli 1942 erhielt sie die Formulare zur Vermögenserklärung, die Vorboten der Deportation. Eine Woche später war sie im Sammellager Große Hamburger Straße 26 – ein von den Nazis umfunktioniertes jüdisches Altersheim – interniert. Ihr wurde pro forma mitgeteilt, dass ihre gesamte Habe vom Staat beschlagnahmt würde. Frieda hatte nur ein bescheidenes Bankguthaben und einige Wertpapiere angeben können. Ihr Zimmerinventar plus einiger anderweitig untergestellten Sachen wurden von einem Gutachter auf rund 1200 RM geschätzt und zum Teil von einem Althändler preiswert erstanden, zum anderen Teil versteigert. 14 Bieter ersteigerten billig diverse Gegenstände, alle namentlich in den Akten genannt.

Als dies geschah, war Frieda Dresel nicht mehr in Berlin. Am 14. Juli 1942 war sie mit 99 weiteren Opfern nach Theresienstadt deportiert worden. Angeblich war dieses „Altersghetto“ eine Stätte für einen ruhigen Lebensabend, tatsächlich handelte es sich aber um ein Durchgangslager, in dem die Menschen auf den Tod warteten, herbeigeführt entweder durch die dortigen unmenschlichen Lebensbedingungen oder durch die Ermordung in einem weiteren Vernichtungslager. Letzteres war Frieda Dresels Schicksal. Nachdem sie fast zwei Jahre Hunger, Kälte, Krankheiten und die hoffnungslose Überfüllung der Räume überlebt hatte, wurde sie am 16. Mai 1944, diesmal zusammen mit 2500 Personen, von Theresienstadt nach Auschwitz verschleppt. Sie gehörten zu den rund 7500 Menschen, die im Mai 1944 in drei „Transporten“ aus Theresienstadt weggebracht wurden, weil am 23. Juni eine internationale Kommission angekündigt war und die Wohnungen nicht so beengt aussehen sollten. Lediglich 34 der am 16. Mai Deportierten überlebten, Frieda Dresel gehörte nicht dazu. Ihr Todesdatum ist nicht bekannt.

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteine-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; www.statistik-des-holocaust.de

Stolperstein Lotte Benjamin

HIER WOHNTE
LOTTE BENJAMIN
GEB. LABISCHIN
JG. 1898
DEPORTIERT 17.11.1941
KOWNO
ERMORDET 25.11.1941

Lotte Elise Labischin war die zweite Tochter des Kaufmannes Ludwig Labischin und seiner Frau Hedwig geb. Kraft. Sie wurde am 12. Februar 1898 in Posen (poln. Poznan) in der St.-Martin-Straße 23 geboren. Die Eltern waren aus Breslau 1896 nach Posen gezogen. Lottes Schwester Doris war ein Jahr älter als sie, 1900 kam der Bruder Kurt auf die Welt. Ludwig Labischin betätigte sich im Altmetallhandel und gründete 1901 die Firma „Ludwig Labischin“, Geschäftsführer war Isidor Kraft, vermutlich ein Verwandter, vielleicht ein Bruder von Hedwig. 1902 siedelte Ludwig mit seiner Familie nach Berlin um und verlegte auch die Firma dorthin, beides in die Luisenstraße 29. Hier wurde auch Lottes fünf Jahre jüngere Schwester Ilse geboren.

Ludwig Labischin konnte in Berlin sein Geschäft erweitern. Zwei Jahre nach Ankunft hatte er einen Lagerplatz für Nutzeisen in der Roßstraße 9/10 (heute Fischerinsel), seine Wohnung war nun in der Flensburger Straße 27, im Hansaviertel. Als Lotte neun Jahre alt war, kaufte Ludwig ein Grundstück in Lichtenberg, Herzbergstraße 50, und etablierte dort ein Röhrenlager und eine Fabrik für Röhrenbearbeitung, in der Roßstraße verblieb sein Stadtbüro. Gleichzeitig wurde Isidor Kraft Gesellschafter und somit Mitinhaber der Firma. Bald pries sich das Unternehmen als „Röhrenfabrik, Spezialität Viktoriaröhren“ an.

1908 starb Lottes Mutter und wenige Jahre danach zog Ludwig mit seinen Kindern in die Möllendorffstraße 9 in Lichtenberg, wohl um in der Nähe seiner Fabrik zu sein. Lotte besuchte das städtische Lyzeum Lichtenberg und absolvierte anschließend eine Ausbildung als Schneiderin am Pestalozzi-Fröbel-Haus. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihr Vater sich wohl schon vom Geschäft zurückgezogen und lebte in der Droysenstraße 1. Im Jahr 1915 hatte er die Fabrik und auch das Grundstück Herzbergstraße 50 an Isidor Kraft übertragen, der jetzt Alleininhaber war. In den 20er Jahren lief das Geschäft aber nicht mehr so gut. Möglicherweise kam die Firma in der Inflationszeit in Schwierigkeiten, jedenfalls wurde sie zum 31. Januar 1928 gelöscht.

Lottes Schwester Doris, inzwischen Büroangestellte, starb 1918. Wenig später heiratete Lotte den Prokuristen Alfred Benjamin, dessen Vater Isidor Benjamin im selben Haus wohnte wie Lottes Großmutter, Pauline Labischin: Wielandstraße 13. Möglicherweise hatte er deren Wohnung nach ihrem Tod übernommen. Lottes und Alfreds Adresse war fortan auch die Wielandstraße 13. 1920 bekam Lotte Zwillingstöchter, Ellen und Elline. Unglücklicherweise starben beide früh, Ellen mit sieben Monaten, Elline vier Monate später. Das Paar hatte keine weiteren Kinder.

Alfred Benjamin war stellvertretender Personalleiter im KaDeWe. Gleich nach der Machtübernahme Hitlers wurden die jüdischen Besitzer des Warenhauses unter Druck gesetzt, die Geschäftsführung zu „arisieren“. Und bereits nach dem Boykott am 1. April 1933 entließ man die meisten jüdischen Angestellten vom KaDeWe. Unter den Gekündigten war auch Alfred Benjamin. Im Jahr darauf sah sich Alfred genötigt, nach Prag zu flüchten und das Paar trennte sich. Lotte soll laut ihrem Bruder dann in eine 1 ½ Zimmer-Wohnung in der Giesebrechtstraße 12 gezogen sein, im Adressbuch ist sie nicht als Hauptmieterin vermerkt. Erst in der aus Anlass der Volkszählung von 1939 angelegten Sonderkartei für Juden, findet sich der Nachweis, dass Lotte hier als Untermieterin der Witwe Sophie Kraft wohnte. Sophie Kraft dürfte die Witwe von Isidor Kraft sein (der sich in Isidor Otto hatte umbenennen lassen und sich schließlich nur noch Otto Kraft nannte), somit eine Verwandte Lottes. Allerdings hatte Sophie Kraft bis 1938 noch in Lichtenberg gewohnt.

Lotte konnte sich trotz der vielen Diskriminierungen und Einschränkungen für Juden ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie machte noch eine Ausbildung als Maniküre und konnte bei jüdischer Kundschaft – vor allem in Altersheimen – genügend Geld verdienen, um auch ihre Schwester Ilse zu unterstützen. Ilse hatte 1932 einen Herrn Reichelt geheiratet, der kein Jude war und der sich gleich 1933 von ihr trennte, da sie „als Jüdin nicht zumutbar“ sei. 1939 wurde die Ehe formell geschieden. Lotte ist kurz nach der Volkszählung von der Giesebrechtstraße in die Eisenzahnstraße 5 (bei Holzapfel) gezogen.

Lottes Bruder Kurt Labischin, der Rechtsanwalt geworden war, wurde 1933 aus der Anwaltskammer ausgeschlossen und wanderte im Juli des gleichen Jahres mit seiner Frau Käte und den Söhnen Peter und Thomas in die Schweiz aus und später nach London. Dort änderte er seinen Vornamen in Andrew Michael und nahm den Familiennamen seiner Mutter, Kraft, an. Ilse Reichelt arbeitete nach der Trennung von ihrem Mann als Jugendfürsorgerin. 1939 flüchtete sie ebenfalls nach London. Auch Lotte hatte vor zu flüchten, sie sparte und machte Anschaffungen in Hinblick auf eine Auswanderung. Es kam aber nicht mehr dazu.

Wir wissen nicht, ob Lotte sich weiter als Maniküre oder Schneiderin halten konnte, oder ob sie wie so viele zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie herangezogen wurde. Jedenfalls musste sie auch von der Eisenzahnstraße nochmals umziehen. Ihre letzte Adresse war die Georg-Wilhelm-Straße 12, von dort wurde sie schon zu Anfang der Deportationen im November 1941 zunächst in die Synagoge Levetzowstraße 7/8 gebracht, die von der Gestapo als Sammellager missbraucht wurde. In der Nacht zum 17. November wurden 1006 Personen, unter ihnen Lotte Benjamin, von dieser Sammelstelle durch die ganze Stadt zum Bahnhof Grunewald geführt. Dort mussten sie einen Sonderzug mit dem Ziel Riga besteigen. Der Zug wurde jedoch kurzfristig nach Kowno (litauisch Kaunas) umgeleitet. Sie kamen aber nicht in das dortige Ghetto, sondern wurden gleich zum Fort IX, der historischen Stadtbefestigung, gebracht, um dort erschossen zu werden. Der Führer des entsprechenden Einsatzkommandos, Karl Jäger, erstattete penible Berichte über die Ermordungen, unter anderem heißt es dort mit Datum 25.11.41, es seien 1158 Juden, 1600 Jüdinnen und 175 „Juden-Kinder“ exekutiert worden, in dem zynischen NS-Sprachgebrauch „Umsiedler“ aus Berlin, München und Frankfurt am Main. Keine der Personen, die mit Lotte Benjamin deportiert wurden, hat überlebt.

Alfred Benjamin war schon 1934 nach Prag geflüchtet und versuchte dort ein Visum zu bekommen, zunächst nach Frankreich, 1940 dann nach Shanghai, eine der wenigen Möglichkeiten, die zu dem Zeitpunkt noch offen waren. Aber auch ihm gelang die Flucht nicht mehr. Am 17. Dezember 1941 wurde er von Prag nach Theresienstadt deportiert, von da am 15. Januar 1942 nach Riga weiterverschleppt und dort ermordet.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Adressbücher Posen; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Einwohnermeldekartei Posen (http://e-kartoteka.net/en/)

Stolperstein Gerda Lehmann

HIER WOHNTE
GERDA LEHMANN
GEB. KREINER
JG. 1920
DEPORTIERT 3.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Gerda Lehmann kam am 3. Oktober 1920 in Friedersdorf/Beeskow zur Welt. Wir wissen leider nichts über ihre Kindheit und frühe Jugend, auch nicht, wann sie nach Berlin kam. Vielleicht zog sie mit ihren Eltern in die Hauptstadt, vielleicht kam sie aber auch allein, um in Berlin zu arbeiten, z.B. in einem Haushalt. Am 17. Mai 1939 fand eine Volkszählung statt, bei der Juden in einer separaten Kartei erfasst wurden. Auf diesen Ergänzungskarten wurde unter anderem registriert, wer wie viele jüdische Großeltern hatte. Trotz des auch damals bestehenden Statistikgeheimnisses, wurde diese Kartei später für die Judenverfolgung missbraucht, z.B. bei den Zwangsverpflichtungen zur Arbeit ab 1940. Laut dieser Kartei war die 18-jährige Gerda Kreiner bei der Familie Wechselmann an der Giesebrechtstaße 12 gemeldet. Wechselmanns wohnten hier erst seit 1938, möglicherweise war Gerda schon vorher bei ihnen als Hausmädchen.

Am 23. November 1939 heiratete Gerda den 32 Jahre älteren Kaufmann Walter Lehmann. Walter Lehmann war am 12. November 1888 in Berlin geboren worden. Er war der Sohn des Schuhfabrikanten und -händlers Heinrich Lehmann und seiner Frau Betty, geb. Rosettenstein. Er hatte schon 1913 einmal geheiratet, sich nach dem Krieg 1921 wieder scheiden lassen. Die 19-jährige Gerda war seine dritte Ehefrau. Über die Gründe einer so ungewöhnlichen Verbindung können wir nur spekulieren. Die Lage für Juden im nationalsozialistischen Deutschland war mittlerweile durch Verfolgung und Ausgrenzung bedrohlich und schwer erträglich geworden. Möglich, dass Gerda sich mit einem väterlichen Ehemann geschützter fühlte.

Wo das Paar wohnte, ist ungewiss. Zum Zeitpunkt der Volkszählung war Walter Lehman an der Alexanderstraße 21 gemeldet. Laut Adressbuch wohnte dort ein Zahnarzt namens John Lehmann, vielleicht ein Verwandter. Eventuell konnte Walter dort auch mit seiner Frau unterkommen. Im Mai 1941 wurde das Paar genötigt, in zwei Zimmer zur Untermiete bei Bernhard Slupecki an der Stargarder Straße 1 zu ziehen. Gerda wurde zur Zwangsarbeit in der Batterie- und Elementefabrik System Zeiler in der Rungestraße herangezogen. Vielleicht wurde auch Walter – trotz seines Alters – zwangsverpflichtet, denn beide scheinen Opfer der sogenannten „Fabrikaktion“ geworden zu sein. Bei dieser Razzia sollten am 27. Februar 1943 alle noch im Reich verbliebene jüdische Arbeiter ohne die übliche Ankündigung direkt am Arbeitsplatz verhaftet und dann deportiert werden. In Berlin gelang es zwar noch etlichen rechtzeitig unterzutauchen, aber rund 8000 konnte die Gestapo festnehmen, unter ihnen Gerda und Walter Lehmann. Sie konnten möglicherweise nicht einmal Abschied voneinander nehmen. Da sie vermutlich in verschiedenen Betrieben aufgegriffen wurden, kamen sie wohl auch in unterschiedliche Sammellager. Wegen der hohen Anzahl der Gefangenen waren mehrere zusätzliche Sammelstellen improvisiert worden. Gerda und Walter wurden auch nicht am selben Tag deportiert. Walter kam auf einen „Transport“ am 2. März 1943, Gerda einen Tag darauf, am 3. März. Beide Züge mit jeweils mehr als 1700 Menschen fuhren nach Auschwitz. Nur wenige hundert der Deportierten wurden zur weiteren Zwangsarbeit „selektiert“, die junge Gerda Lehmann mag dazu gehört haben. Dies bedeutete aber nur einen Aufschub. Wer nicht sofort in den Gaskammern ermordet wurde, sollte durch unmenschliche Arbeit vernichtet werden. Weder Walter noch Gerda überlebten Auschwitz.

Gerda und Walters letzter Vermieter, Bernhard Slopecki, wurde am 2. März 1943 mit demselben Zug, in dem auch Walter war, nach Auschwitz deportiert und dort ebenfalls ermordet.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Arolsen Archives; /www.statistik-des-holocaust.de/list_ger.html

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein Adele Rosenbaum

HIER WOHNTE
ADELE ROSENBAUM
GEB. LEVY
JG. 1883
DEPORTIERT 25.6.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 18.4.1943

Adele Rosenbaum kam als Adele Levy am 1. September 1883 in Moskau auf die Welt. Sehr wahrscheinlich heiratete sie auch in Moskau, denn ihre Kinder wurden dort geboren. Ihr Mann war der Kaufmann Max Rosenbaum, geboren am 10. Mai 1872 in Königshütte/Schlesien (heute Chorzow). Am 23. Dezember 1904 brachte Adele ihre Tochter Therese auf die Welt, gut 1 ½ .Jahre später, am 20. August 1906, den Sohn Waldemar.

Wir wissen nicht genau, wann Rosenbaums nach Berlin übersiedelten. Vermutlich war es im Zuge der Kriegswirren, 1917 nach der Oktoberrevolution oder vielleicht schon 1915, als es in Moskau ein Pogrom gegen Deutsche gab. Im Berliner Adressbuch finden wir Max Rosenbaum 1919, als Kaufmann in der Steglitzer Zimmermannstraße 3 eingetragen. Zwei Jahre später lebten die Familie weiterhin in Steglitz, nun in der Schloßstraße 67. Max gründete um 1919 die „Ost-Compagnie für Handel und Industrie mbH“, für die ihm sicherlich seine Kenntnisse über und Kontakte zu Russland nützlich waren. Die Geschäftsadresse war Unter den Linden 14. Nach dem Vertrag von Rapallo 1922 wurde Deutschland ein wichtiger Handelspartner für die junge Sowjetunion.

Dennoch scheint es der „Ost-Compagnie“ in der Zweiten Hälfte der 20er Jahre nicht mehr gut gegangen zu sein, im Adressbuch taucht sie 1927 zum letzten Mal auf, Max Rosenbaum betätigte sich als Kaufmann wohl anderweitig. 1930 gaben Rosenbaums ihre 6-Zimmer-Wohnung in Steglitz auf. Die Firma war aufgelöst, der Sohn wohl aus dem Haus. Waldemar hatte eine Ausbildung als Werbefachmann gemacht, z.T. noch in der väterlichen Firma. Er arbeitete in seinem Beruf und wohnte mit seiner Lebensgefährtin woanders. Therese heiratete 1935 oder 1936 den Pelzhändler Abraham Szafran. Wohin Adele und Max und wahrscheinlich zunächst auch Therese nach 1930 zogen bleibt unklar. Eine sichere Spur findet sich erst wieder in der aus Anlass der Volkszählung vom Mai 1939 angelegten Sonderkartei für Juden. Dort ist Adele in der Giesebrechtstraße 12 registriert, bei der Witwe Sophie Rosenthal zur Untermiete. Diese wohnte ab 1933 in dem Haus, es bleibt also ungeklärt, ob Rosenbaums schon davor in der Giesebrechtstraße lebten. Max ist 1939 aus uns unbekannten Gründen nicht mit Adele zusammen sondern am Ludwigkirchplatz 7 bei Rebecca Jacobsohn gemeldet. Später wohnten Adele und Max gemeinsam in die Spichernstraße 19 zur Untermiete bei Julius Pinner. Dorthin waren sie wohl zwangseingewiesen worden, denn mit der Lockerung des Mieterschutzes für Juden durch das Gesetz vom 30. April 1939 konnten Juden gekündigt werden, um sie anschließend in Judenwohnungen und Judenhäuser zusammenzupferchen. So wurde Wohnraum für Nichtjuden geschaffen.
Dies war nicht die einzige Schikane und antisemitische Maßnahme, die Juden zu erleiden hatten.
Sohn Waldemar war in weiser Voraussicht bereits 1933 nach Paris gegangen, Therese floh 1938 mit ihrem Mann nach Paris und später nach Nizza. Adele und Max blieben in Berlin, der weiteren Entrechtung, Stigmatisierung und Demütigung ausgesetzt. Die Verfolgung gipfelte schließlich in Deportation und Mord. Im Juni 1942 bekamen Adele und Max Rosenbaum den Deportationsbescheid, sie hatten sich in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 zu begeben, ein auf Befehl der Gestapo umfunktioniertes jüdisches Altersheim. Am 25. Juni 1942 mussten sie dann in aller Frühe am Anhalter Bahnhof auf Gleis 1 einen von zwei Waggons 3. Klasse besteigen, die später verplombt an den fahrplanmäßigen Zug nach Prag um 6:07 angehängt wurden. Mit 98 weiteren Leidensgenossen wurden sie nach Theresienstadt deportiert. Laut NS-Propaganda war dieses „Altersghetto“ eine Stätte für einen ruhigen Lebensabend, tatsächlich erwartete die Insassen dort ein grausames Lebensende. In den erbärmlichen Unterbringungen grassierten Krankheiten und Seuchen infolge von Hunger, Kälte und katastrophalen Hygienebedingungen. Etwa ein Viertel der Insassen starben an diesen Umständen.

Auch Adele Rosenbaum überlebte nach einem harten Winter nur bis zum 17. April 1943. Knapp ein Jahr später, am 19. März 1944, erlag Max Rosenbaum den mörderischen Lebensbedingungen.

Therese und ihr Mann Abraham Szafran konnten auch in Frankreich nicht den NS-Schergen entkommen. Abraham wurde in Nizza bei einer Razzia der französischen Polizei im August 1942 aufgegriffen, an die Deutschen ausgeliefert und am 7. September 1942 (nach anderer Quelle am 10. Oktober) in Auschwitz ermordet. Therese wurde nach der deutschen Besetzung des französischen Südens im September 1943 verhaftet, nach Drancy gebracht und von dort nach Auschwitz deportiert. Sie wurde am 17. Dezember 1943 (nach anderer Quelle am 22. Dezember) ebenfalls ermordet.

Waldemar Rosenbaum wurde bei Kriegsausbruch – er lebte noch in Paris – zunächst als feindlicher Ausländer interniert, kämpfte dann bis 1941 in der Fremdenlegion. Anschließend ging er nach Nizza, wo seine Schwester war. Nachdem auch hier Juden verhaftet wurden, lebte er laut eigener Aussage versteckt in dem Landhaus französischer Freunde und überlebte den Krieg. Er starb 1977 in Nizza.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer ; Nice sous l’occupation 1942-44 http://niceoccupation.free.fr/index.html

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Gertrud Schoeler

HIER WOHNTE
GERTRUD SCHOELER
GEB. GRÜNBERG
JG. 1901
DEPORTIERT 6.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Im Mai 1901 meldete der Handlungsgehilfe Isidor Grünberg beim Berliner Standesamt, dass am 9. des Monats seine Ehefrau Flora Grünberg geb. Blumenthal ein Mädchen zur Welt gebracht hätte, das sie Gertrud nannten. Isidor und Flora waren seit 1 ½ Jahren verheiratet und Gertrud Grünberg war ihr erstes Kind. Das Ehepaar wohnte in der Lothringer Straße 109 (heute Torstraße, östlicher Teil). Als im Februar 1905 die zweite Tochter, Lucie Cäcilie, geboren wurde, lebte die Familie in der Brunsberger Straße 5 (heute Hans-Otto-Straße). Im Juni 1907 kam Charlotte, die dritte Tochter, zur Welt, da waren Grünbergs bereits nach Lichtenberg gezogen, in die Pfarrstraße 73. Und als Gertrud 10 oder 11 Jahre alt war, zogen sie noch einmal um, diesmal nach Karlshorst, Treskowallee 69. Aus uns unbekannten Gründen ließ sich Isidor Grünberg im Adressbuch bis Mitte der 20er Jahre – und vereinzelt auch danach – als „Louis Grünberg“ eintragen, obwohl keines der vorhandenen Dokumente belegt, dass er mehrere Vornamen gehabt hätte.

In der Treskowallee 69 wohnte Gertrud mit ihren Eltern bis sie am 9. November 1921 den fünf Jahre älteren Bruno Schoeler heiratete. Er wohnte in der Treskowallee 65, vermutlich zur Untermiete, denn sein Vater, der Sattlermeisters Emil Schoeler, lebte in Adlershof, Waldstraße 22. Bruno gab als Beruf „Vertreter“ an, Gertrud hatte Putzmacherin gelernt, also Hutmacherin, ein damals beliebter Beruf für Frauen. Vermutlich hat sie ihn nach der Heirat aufgegeben. Die Heiratsurkunde enthält keine Religionsbezeichnung, es scheint aber, dass Bruno Schoeler kein Jude war. Wo das Ehepaar Schoeler zunächst wohnte, ist unbekannt, vielleicht bei einer der Elternfamilien oder anderswo zur Untermiete. Mit einer eigenen Wohnung erscheint Bruno Schoeler im Adressbuch erst 1930, ebenfalls in Karlshorst, Weseler Straße 22. Zwei Jahre später, im Dezember 1932, wurde die Ehe geschieden – wir können nur spekulieren, ob das etwas mit dem Erstarken des Nationalsozialismus und Gertruds Religionszugehörigkeit zu tun haben könnte. Soweit wir wissen, hatten Gertrud und Bruno keine Kinder.

Bruno blieb in der Weseler Straße, Gertrud zog vielleicht wieder zu ihren Eltern, die noch 1939 in der Treskowallee lebten, als bei der Volkszählung vom 17. Mai Juden extra in einer „Ergänzungskartei“ erfasst wurden. In dieser Kartei finden wir Gertrud allerdings am anderen Ende der Stadt, in Charlottenburg und dort in der Giesebrechtstraße 12, zur Untermiete bei Familie Wechselmann. Wechselmanns hatten aber erst ein Jahr zuvor hier eine Wohnung bezogen.

Die diskriminierende separate Erfassung von Juden war bei Weitem nicht die einzige antisemitische Maßnahme der NS-Regierung. Zahlreiche Verordnungen und Verbote, die meisten davon nach den Pogromen vom November 1938 erlassen, machten Juden das Leben unerträglich. Sie sollten völlig aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzt und ihrer Rechte beraubt werden. Auch ihr Wohnrecht wurde stark eingeschränkt, Juden hatten Wohnraum für Nichtjuden freizumachen und wurden bei anderen Juden zwangseingewiesen. Auch Gertrud konnte nicht in der Giesebrechtstraße bleiben, ihre letzte Adresse lautete: bei Bernstein, Bischofstraße 9, eine inzwischen verschwundene Straße östlich der Marienkirche in Mitte. Die Verfolgung der Juden gipfelte ab Oktober 1941 in Deportation und direkter Ermordung. Am 18. Oktober fand die erste euphemistisch „Aussiedlung“ genannte Aktion statt, die Verschleppung in das Ghetto Lodz. Gertrud musste erleben, wie ihre Eltern am 24. Oktober mit dem 2. Zug nach Lodz deportiert wurden. Die dortigen unbeschreiblich schlechten Lebensumstände machten ein Überleben höchst unwahrscheinlich. Isidor erlag ihnen am 19. Februar 1942, Flora überlebte ihn um wenige Monate, sie starb am 13. Mai dieses Jahres.

Gertrud war sicherlich, wie die meisten für arbeitsfähig erachteten Juden, zur Zwangsarbeit verpflichtet. Darauf deutet auch hin, dass sie offensichtlich ein Opfer der sogenannten „Fabrikaktion“ wurde, als 1943 die Nationalsozialisten beschlossen, Ende Februar alle noch im Reich verbliebene Juden ohne Vorwarnung am Arbeitsplatz zu verhaften und zu deportieren. In Berlin betraf das über 15 000 Juden. Am 27. Februar riegelte die Gestapo morgens über 100 Betriebe ab und verhaftete die Zwangsarbeiter. Einige konnten noch in letzter Minute flüchten, andere waren gewarnt worden und erschienen nicht zur Arbeit. Anschließend mussten sie versuchen, im Untergrund illegal zu überleben. Rund 8 000 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen wurden in Berlin verhaftet und in Sammellagern interniert. Sie wurden in den folgenden fünf „Transporten“ nach Auschwitz deportiert und dort weitgehend ermordet.

Das Schicksal von Gertrud Schoeler gibt jedoch Rätsel auf. Sie war für die Deportation am 6. März 1943 vorgesehen und ihr Name steht auch auf der Deportationsliste unter der Nr. 139. Dahinter aber befindet sich der Vermerk „fehlt siehe Zettel“. Leider ist der „Zettel“ nicht mehr vorhanden. Nach dem Krieg notierte das American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC): „Freitod oder illegal gelebt“. Überlebt hat sie jedenfalls nicht.

Gertruds Schwester Lucie, verheiratete Schmidt, überlebte laut Bundesarchiv-Residentenliste den Krieg. Das Schicksal ihrer Schwester Charlotte konnte nicht ermittelt werden.

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; www.statistik-des-holocaust.de

Stolperstein Felix Benjamin

HIER WOHNTE
FELIX BENJAMIN
JG. 1871
DEPORTIERT 17.3.1943
THERESIENSTADT
ERMORDET 3.4.1943

Felix Benjamin wurde am 26. Januar 1871 in Berlin geboren. Am 26. Februar 1901 heiratete er in Kattowitz Ida Grünfeld, die zur Familie der Gründer einer Erzhandelsfirma gehörte.
Im selben Jahr wurde Felix Benjamin Mitinhaber des Erzimporteurs Rawack&Grünfeld, 1914/15 verlegte das Unternehmen seinen Hauptsitz von Beuthen (Schlesien) nach Berlin.
Er war ein wohlhabender Industrieller. Zunächst wohnte er an der Winkler Straße 22 in einer Villa am Dianasee in Grunewald. 1915 tauchte er als Spender für die Lehranstalt der Wissenschaft des Judentums in Berlin auf. Dann lebte er eine Zeitlang mit seiner Frau in Schmargendorf am Hohenzollerndamm 123.
Felix Benjamin wurde Generaldirektor und Aufsichtsratsvorsitzender von Rawack&Grünfeld sowie Anteilseigner und Aufsichtsratsmitglied des Lübecker Hochofenwerks, das zu 90 Prozent im Besitz jüdischer Deutscher war. Der Flick-Konzern verleibte es sich nach 1937 mit Hilfe der Nationalsozialisten ein. Nach dieser Arisierung wurden Benjamin und die anderen jüdischen Eigentümer systematisch aus dem Unternehmen gedrängt. Im Berliner Adressbuch stand er später noch als „Generaldirektor i.R.“
Zur Zeit der Volkszählung am 17.5.1939 war er als Untermieter bei Flora Steinitz in der Sächsischen Straße 2 gemeldet. Als sie am 14. August 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde, muss der enteignete und verarmte Felix Benjamin erneut umziehen und wohnte wiederum zur Untermiete in der Giesebrechtstraße 12 in Charlottenburg, einer Seitenstraße des Kurfüstendamms.
Am 17. März 1943 wurde Felix Benjamin in einem Zug mit 1159 Menschen vom Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald nach Theresienstadt deportiert. Dort ist er ins Ghetto eingeliefert worden und am 3. April 1943 umgebracht worden.
Seine Frau Ida war krank und bei Verwandten in Schlesien untergekommen. Sie wurde aus einem Krankenhaus in Breslau ebenfalls nach Theresienstadt deportiert, sah allerdings ihren Mann nicht mehr wieder, erlitt einen Schlaganfall und starb am 11. Juli 1943.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zahlte Flick an die Familie Benjamin Entschädigungsleistungen und entging so einem gerichtlichen Restitutionsverfahren.

Stolperstein Ida Benjamin

HIER WOHNTE
IDA BENJAMIN
GEB. GRÜNFELD
JG. 1873
DEPORTIERT 9.6.1943
THERESIENSTADT
ERMORDET 11.7.1943

Ida Benjamin geb. Grünfeld wurde am 5. Oktober 1873 in Kattowitz (Katowice) in Schlesien geboren. Sie war die Schwester der Architekten Hugo und Max Grünfeld und gehörte zur Familie eines Erzimporteurs. Verheiratet war sie seit 1901 mit dem Industriellen Felix Benjamin und zog mit ihm nach Berlin um. Als ihr Beruf wurde „Haushalt“ angegeben.

Anfang der 1940er Jahre erkrankte sie und versuchte in Wölfelsgrund in Schlesien, vermutlich bei Verwandten, Unterschlupf zu finden, musste dann aber nach Breslau in ein Krankenhaus. Dort wurde sie von der Gestapo aufgetan, verhaftet und deportiert.
Etwas später als ihr Mann aus Berlin kam sie am 9. Juni 1943 von Breslau ins Ghetto Theresienstadt. Sie sah ihn allerdings nicht mehr, denn zu dieser Zeit war er schon tot. Drei Monate nach ihm und vier Wochen nach ihrer Ankunft ist sie in Theresienstadt am 11. Juli 1943 mit 69 Jahren ums Leben gekommen. Auf dem Totenschein www2.holocaust.cz/de/document/DOCUMENT.ITI.19060 wurde vermerkt, sie sei nach einem Schlaganfall in Schwermut („Melancholie“) verfallen, was vermutlich durch die Umstände der Verfolgung verursacht war.

Zusammenstellung: Helmut Lölhöffel, Stolpersteine-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf
Quellen: Bundesarchiv; Berliner Adressbücher; Standesamt Arolsen; Archiv der Stadtverwaltung Bytom (Beuthen); Norbert Frei u.a.: Der Konzern, die Familie, die Macht. München 2009; Entschädigungsamt Berlin