Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen zum Holocaust-Gedenktag am 27.1.2008 auf dem Breitscheidplatz

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

Zum Holocaust-Gedenktag am 27.1.2008 auf dem Breitscheidplatz

Sehr geehrte Damen und Herren!

Heute vor 63 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Vor 75 Jahren wurden in diesen Tagen vor dem 30 Januar 1933 mit dem Reichspräsidenten Hindenburg die letzten Absprachen getroffen zur Ernennung Hitlers als Reichskanzler. Es war aber keine Geheimverschwörung, die den Nationalsozialisten zur Macht verhalf. Sondern es war das Ergebnis von demokratischen Wahlen. Die NSDAP war mit 33,1 Prozent die weitaus stärkste Partei in Deutschland.
Hitlers Ernennung zum Reichskanzler entsprach dem Wahlergebnis, und sie war verfassungsgemäß.
Hindenburg versprach sich von Hitler die nationale Einigung gegen die von ihm verachteten Kommunisten, Sozialisten und Katholiken. Und leider war dieser Wunsch populär. Viele haben damals die Parteien überhaupt verachtet, sprachen von Parteiengezänk und wünschten sich eine Einigung über die Parteigrenzen hinweg. Die Nationalsozialisten hatten diese Vorstellungen geschickt aufgegriffen und sich selbst nicht als Partei, sondern als “Bewegung” dargestellt. Die Abschaffung der Demokratie war für sie Programm. “Ein Volk, ein Reich, ein Führer” – war die Parole, der leider all zu viele begeistert folgten.
Es ist für uns bis heute beschämend, dass die Nationalsozialisten auf demokratischem Wege an die Macht kommen konnten, dass die Weimarer Demokratie nicht stark genug war, um sich gegen ihre erklärten Feinde zu behaupten. Wir sollten daraus lernen, wie wichtig es ist, für die Demokratie einzustehen.
Die Weimarer Republik wurde nicht durch einen Putsch beendet, sondern durch das antidemokratische Votum der Bevölkerungsmehrheit.
Die 12 Jahre von 1933 bis 1945 wurden zur dunkelsten Zeit in unserer Geschichte. Der nationalsozialistische Terrorstaat war ein Einbruch in die Zivilisation mitten im 20. Jahrhundert. Der Nationalsozialismus mit seinen Gräueltaten, mit seiner rassistischen Menschenverachtung und mit seinen millionenfachen Morden erscheint uns heute wie ein Regime aus grauer Vorzeit, aus dem Mittelalter vielleicht, jedenfalls aus einer Epoche weit vor unseren demokratischen Errungenschaften.
Aber wir wissen: Es ist noch nicht einmal ein Menschenleben her. Erst vor 63 Jahren konnte das nationalsozialistische Terrorregime besiegt werden, konnten die Opfer aus den Konzentrationslagern und konnte unser Land von der Diktatur befreit werden.
Vielfach wird heute über die Opfer gesprochen, als ob sie nicht zu uns gehört hätten, als ob es keine Deutschen gewesen wären. Wenn wir über die verfolgten und ermordeten Juden sprechen, dann vergessen wir manchmal, dass sie Deutsche waren, Nachbarn, Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt und dieses Landes. Es ist den Nationalsozialisten gelungen, sie nahezu vollständig von den übrigen Menschen in diesem Land zu trennen, bevor sie dann mit ihrer systematischen Ermordung begannen.
Heute am Holocaust-Gedenktag steht das Schicksal der Juden im Mittelpunkt, denn der millionenfache Mord an den Juden, der Versuch, alle in Europa lebenden Juden zu ermorden ist und bleibt das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts.
Aber die Nationalsozialisten richteten sich in ihrem Rassereinheitswahn auch gegen andere Minderheiten im eigenen Land.
Eine dieser Minderheiten waren Behinderte und kranke Menschen, die Opfer von Euthanasie und Zwangssterilisation wurden. Sie sollen in diesem Jahr im Mittelpunkt des Gedenkens stehen.
Vor 63 Jahren konnten wir mit der Unterstützung der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges beginnen, die Demokratie aufzubauen, in der wir heute leben und die uns als so selbstverständlich erscheint, dass wir sie manchmal kaum noch zu würdigen wissen.
Es hat lange gedauert, diese Demokratie so zu entwickeln, dass die Menschenrechte für alle uneingeschränkt gelten. Viele nationalsozialistische geprägte Vorurteile haben noch Jahrzehnte nachgewirkt.
Unsere Geschichte lehrt uns, dass Demokratie eben nichts Selbstverständliches ist, sondern dass sie auf aktive Demokraten angewiesen ist, die für sie eintreten und sie ständig weiter entwickeln.
Auch heute gibt es in unserem Land Menschen, die im Nationalsozialismus ein erstrebenswertes Ziel und in Hitler ein Vorbild sehen. Aber sie sind wohl nicht die größte Gefahr für unsere Demokratie. Die liegt eher in der Bequemlichkeit und Gedankenlosigkeit, mit der wir ihre Vorteile genießen und uns ansonsten nicht aktiv um sie kümmern. Sie liegt auch in der gefühlsmäßigen Ablehnung der Parteien durch viele Menschen.
Deshalb ist eine Organisation wie das Bündnis Demokratie Jetzt! so wichtig. Sie bietet auch Menschen eine politische Perspektive an, die sich nicht in einer Partei engagieren wollen, aber die sich aktiv für unsere Demokratie einsetzen wollen.
Aber wir müssen auch erkennen: Ohne Parteien und ohne Meinungsstreit gibt es keine Demokratie.
Wer in Talkshows ein Ende des Parteienstreits fordert, der erntet oft viel Beifall. Und manchmal könnte ich mir auch eine etwas besser entwickelte Streitkultur vorstellen. Aber letztendlich brauchen wir den Streit, wir brauchen die politische Auseinandersetzung, und wir brauchen die Fähigkeit zum Kompromiss. Denn wir leben nicht in einer Einheitsgesellschaft, sondern in einer pluralistischen, multikulturellen Gesellschaft. Und natürlich gibt es in dieser Gesellschaft Interessenkonflikte.
Nicht nationale Einheit ist das Wesen der Demokratie, sondern Vielfalt: politische Vielfalt, kulturelle Vielfalt und Vielfalt der Menschen, ihrer Herkunft und ihrer Überzeugungen. Unser Grundgesetz garantiert diese Vielfalt, indem es allen die gleiche Menschenwürde und die Gleichheit vor dem Gesetz zuschreibt. Es lohnt sich, für diese Werte einzustehen, damit etwas Ähnliches wie vor 75 Jahren nie mehr geschieht.