Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen beim "Wirtschaftsdialog vor Ort" am Dienstag, 29.11.2005, 19.00 Uhr in den GSG-Höfen, Franklinstr.27

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

beim "Wirtschaftsdialog vor Ort"

am Dienstag, 29.11.2005, 19.00 Uhr in den GSG-Höfen, Franklinstr.27

Sehr geehrter Herr Staatssekretär Strauch!
Sehr geehrter Herr Dr. Herdmann!
Sehr geehrte Damen und Herren!

“Wirtschaftsdialog vor Ort” ist eine wunderbare Idee. Wir praktizieren ihn in unserem Bezirk seit Jahren erfolgreich, und die Erfolge sind für jeden sichtbar. Nur durch eine intensive Zusammenarbeit können sich die Einzelhändler in den traditionellen Geschäftsstraßen gegen die wachsende Konkurrenz der großen Einkaufszentren behaupten, und das tun sie bei uns, sowohl aus eigenem Engagement als auch mit Unterstützung des Bezirksamtes. Davon können unser Wirtschaftsstadtrat Bernhard Skrodzki, Frau Kiesling von der IG Reichsstraße und Herr Lehrke von der AG City sicherlich gleich selbst berichten.

Unsere Einkaufsstraßen funktionieren, und einige von ihnen sind dank der Anliegerinitiativen im Aufwind. Das gilt seit Monaten für die Wilmersdorfer Straße, die in diesem Jahr erstmals einen Weihnachtsmarkt veranstaltet. Es gilt aber auch für die Suarezstraße und Leonhardstraße, für die Westfälische, Uhland-, Güntzel- und Reichsstraße, Rüdesheimer Platz und für Tauentzien, Breitscheidplatz und Kurfürstendamm sowieso. In all diesen Einkaufszentren haben sich die Geschäftsleute zusammen geschlossen und mit pfiffigen Ideen das Image ihrer jeweiligen Straße aufgewertet.

An dieser Stelle bewährt sich die dezentrale Struktur unserer Stadt, sowohl was unsere Rolle als Bezirksamt betrifft als auch was die Verwurzelung der Geschäftsleute und der Einwohner in ihrem Kiez angeht.

Die City West mag unmittelbar nach der Wende ein wenig in den Hintergrund getreten sein, als die Begeisterung der Trabi-Paraden auf dem Kurfürstendamm vorbei war und die Aufmerksamkeit sich auf die alte Berliner Mitte, den Potsdamer Platz, Prenzlauer Berg und Friedrichshain richtete. Aber inzwischen hat sich viel getan in der westlichen City, und sie ist unbestritten die Nummer eins als Einkaufsparadies –für Touristen und Einheimische, sowohl was die Passantenzahlen betrifft als auch in Bezug auf die Umsätze.

Nicht zuletzt dank unseres Jubiläumsjahres “300 Jahre Charlottenburg” konnten wir erfolgreich vermitteln, dass diese City-West kein Relikt aus West-Berliner Zeiten ist, sondern dass sie eine viel ältere Tradition hat: Seit mehr als 100 Jahren macht gerade die Multizentralität Berlins den Reiz der Stadt aus. Schon im Kaiserreich entwickelte sich die neu entstandene City rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zur modernen City-Filiale. Berühmte Institutionen des alten Berlin wie Kempinski, Kranzler oder das Wäschehaus Grünfeld eröffneten Filialen am Kurfürstendamm, und diese Filialen liefen schnell ihren Stammhäusern den Rang ab was Modernität und Exklusivität anging.

Der neue Westen wurde zum wichtigsten Ziel für Berlin-Besucher, vor allem für Gäste aus dem Ausland, denn hier pulsierte das Leben, hier konnte man die neueste Unterhaltungstechnik erleben, die ersten Tonfilme, gläserne Aufzüge, und in den Cafés wurden die neuesten Modetänze getanzt. Die legendären Goldenen Zwanziger Jahre waren wohl vor allem im Berliner Westen golden.

An diese Rolle der City West für Berlin wollen wir heute anknüpfen. Allerdings gehört zur Attraktivität des Standorts nicht nur der Einzelhandel. Wichtig ist die Mischung zwischen attraktiven Konsumangeboten, Kultur und Gastronomie. Die Kinoschließungen der letzten Jahre waren ein Wehrmutstropfen. Dafür haben wir noch keinen adäquaten Ersatz.

Allerdings sollten wir die Krisenszenarien nicht übertreiben. Mit dem neuen Fotomuseum und der Helmut-Newton-Stiftung, mit den Theatern am Kurfürstendamm und Umgebung, mit den Universitäten TU und UdK und der neuen gemeinsamen großen Volkswagen-Universitätsbibliothek, mit The Story of Berlin, und mit einer höchst vielfältigen modernen Gastronomie und Hotellerie haben wir ein attraktives Angebot, das sich ständig an die veränderten Bedürfnisse anpasst.

Die einzige Konstante am Kurfürstendamm ist seit mehr als 100 Jahren der Wandel. Immer wieder wurde er niedergeschrieben, haben Nostalgiker den Verlust lieb gewonnener Institutionen beklagt. Aber immer wieder hat sich gezeigt, dass der Boulevard lebt, dass er sich anpasst und eigene neue Trends setzt.

Aber die Wirtschaft in unserem Bezirk besteht nicht nur aus Einzelhandel, und sie lebt nicht nur in der City West. Wir haben inzwischen eine Vielzahl von modernen Unternehmen, die zum Teil im Umkreis der Technischen Universität entstanden sind und mit dieser weiter kooperieren, gerade hier im Spreebogen zwischen Fraunhofer-Institut und der neu entstandenen Spreestadt mit dem KPM-Quartier an der Straße des 17. Juni und am Salzufer. Hier wird anwendungsorientiert geforscht und Zukunftstechnologie entwickelt. Das ist in der Öffentlichkeit nicht so präsent wie etwa Adlershof, aber es ist nicht weniger effizient und erfolgreich. Ich würde es begrüßen, wenn uns der Senat dabei helfen würde, auch auf diesem Gebiet die Mulitzentralität Berlins ins öffentliche Bewusstsein zu bringen.

Einen besonderen Schwerpunkt legen wir seit Jahren auf die spezielle Frauenförderung im Bereich der Wirtschaft. Unser Unternehmerinnen-Stammtisch erfreut sich großer Beliebtheit. Immer mehr Unternehmerinnen in Charlottenburg-Wilmersdorf wissen dieses Angebot zur Vernetzung und zur Kooperation zu schätzen.

Neu eröffnet haben wir in diesem Jahr in den früheren Räumen unseres Gesundheitsamtes ein Unternehmerinnen- und Gründerinnen-Zentrum. Es ist ein Projekt des bezirklichen Bündnisses für Wirtschaft und Arbeit, und es ist ebenfalls ein Angebot zur Vernetzung und zur Zusammenarbeit.

Die völlig überraschende und für uns alle unverständliche Entscheidung der Deutschen Bahn, den Bahnhof Zoo vom Fernbahnnetz abzukoppeln, ist für die City West und für unseren gesamten Bezirk leider sehr problematisch, und ich bin überzeugt, diese Entscheidung ist auch für ganz Berlin und für die Deutsche Bahn nachteilig. Sie führt zu mehr Autoverkehr, sie entzieht nicht nur den Geschäftsleuten im Bahnhof Zoo Kaufkraft, sondern vor allem auch den Hotels, Geschäften und Betrieben im Umkreis des Bahnhofs, und belastet viele Berlinreisende mit längeren und umständlicheren Wegen zu ihren Zielen in Berlin. Ich verstehe nicht, warum die Deutsche Bahn nach der Eröffnung des Hauptbahnhofs nicht in einer Probephase ihre Kundinnen und Kunden entscheiden lässt, sondern sie in den neuen Bahnhof zwingt. Es wäre nicht das erste Mal dass die Deutsche Bahn eine Fehlentscheidung korrigieren muss, nachdem sie ein Desaster erlebt hat.

Ein Gutes aber hat diese Fehlentscheidung doch: Sie hat in unserem Bezirk und insbesondere in der City West zu einer großen Solidarität von Bezirksamt, Bevölkerung und Geschäftsleuten geführt. Die von Dr. Helga Frisch angeführte Bürgerinitiative, die wir nach Kräften unterstützen, hat bald 100.000 Unterschriften gesammelt, und uns erreichen inzwischen Appelle aus dem gesamten Bundesgebiet, den Bahnhof Zoo als Fernbahnhof nicht aufzugeben.

Für den Bahnhof Zoo gilt, was für den gesamten Berliner Westen gilt: Es geht hier nicht um eine nostalgische Erinnerung an West-Berlin, als der Bahnhof Zoo noch unangefochtener Hauptbahnhof der Mauerstadt war und die Heinrich-Heine-Bahnhofsbuchhandlung geheimer Treffpunkt der Schriftsteller aus Ost und West. Im Gegenteil: Nachdem wir die Episode der eingemauerten Stadt glücklich hinter uns gelassen haben, müssen wir wieder an die große Tradition Berlins anknüpfen, als im Kaiserreich und in den 20er Jahren das Faszinierende an Berlin seine Vielfalt war, eine Vielfalt, die sich daraus ergeben hatte, dass 1920 8 selbständige Großstädte und mehr als 50 Landgemeinden zu einer einzigen großen Stadt zusammengefasst wurden. Der Bahnhof Zoo wurde 1882 eröffnet und wurde bereits 2 Jahre später, 1884 zum Fernbahnhof. Seither wurde er immer wieder modernisiert und an die neuen Erfordernisse angepasst. Er ist der größte Knotenpunkt des öffentlichen Personenfern- und nahverkehrs in Berlin. Neben Fern-, S- und U-Bahnhöfen befindet sich auf dem Hardenbergplatz der größte Busbahnhof der BVG, als ein idealer Verteiler gerade auch für ankommende Fernreisende.

Die Angst von Herrn Mehdorn, den neuen Hauptbahnhof nicht auslasten zu können, erscheint mir kleinmütig und völlig unberlinisch. Das neue faszinierende Bahnzentrum von Nord-Süd- und Ost-West-Verbindungen wird seine optimale Wirkung doch gerade im Zusammenspiel mit den anderen bedeutenden Bahnhöfen der Stadt entfalten. Und das gilt doch für Berlin insgesamt: Die Konkurrenz der Zentren ist eine produktive Konkurrenz, und erst ihre Vielfalt macht den Reiz aus. Ich bin sicher, auch Herr Mehdorn wird das noch lernen. Wir werden jedenfalls den Kampf um den Fernbahnhof Zoo nicht aufgeben, auch wenn die neuen Kursbücher bereits gedruckt sind.

Wie Sie sicherlich bemerkt haben, habe ich mich über Herrn Mehdorn geärgert. Auf unsere Argumente ist er nicht eingegangen, und in seinen Antworten auf unsere Briefe hat er keinen einzigen überzeugenden Grund für seine Entscheidung genannt. Er hat sogar versucht, unseren Kampf für den Erhalt des Fernbahnhofs Zoo zu diffamieren und uns hinter unserem Rücken Verschwendung von Steuergeldern bei diesem Kampf vorgeworfen. Diesen Vorwurf musste sogar die BZ kleinlaut wieder zurücknehmen.

Es gibt nämlich inzwischen weitsichtige Unternehmerinnen und Unternehmer, die sich für öffentliche Interessen engagieren und uns beispielsweise bei der Öffentlichkeitsarbeit unterstützen. Und damit komme ich wieder zu einem erfreulichen Thema: Die Knappheit der öffentlichen Kassen hat nämlich die durchaus erfreuliche Konsequenz, dass wir immer mehr Unterstützung von engagierten Bürgerinnen und Bürgern und Geschäftsleuten erhalten. Wir haben dies bei der Vorbereitung unseres Jubiläumsjahres “300 Jahre Charlottenburg” erfahren: Es war zwar schwierig, finanzielle Unterstützung zu erhalten, aber der Aufruf, sich zu beteiligen, hatte große Resonanz, und so konnten wir ein volles Programm über das ganze Jahr präsentieren, ohne dafür Steuergelder ausgeben zu müssen und zu können.

Viele wichtige Maßnahmen im öffentlichen Raum sind nur noch mit privater Unterstützung möglich. Ich nenne nur die spektakulärsten Beispiele: die Restaurierung des Charlottenburger Tores, die Weihnachtsbeleuchtung am Tauentzien und Kurfürstendamm, Umbaumaßnahmen in der Wilmersdorfer Straße und vieles mehr wird inzwischen privat finanziert und in Kooperation mit dem Bezirksamt durchgeführt.

Auch damit knüpfen wir an eine große Tradition bürgerlichen Engagements in Charlottenburg und in Berlin an. Ich hoffe sehr, dass diese Beispiele Schule machen und dass noch mehr Bürgerinnen und Bürger sich verantwortlich fühlen für ihren Bezirk, für ihre Stadt.

Ich danke Ihnen.

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