Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen am 2.4.2002

Zur Enthüllung einer Gedenktafel für Siegfried Jacobsohn, Dernburgstr. 57

Sehr geehrte Damen und Herrn!

Ich freue mich, Sie hier zur Enthüllung einer neuen Gedenktafel begrüßen zu dürfen. Die “Weltbühne” ist sicher bis heute die bekannteste Wochenzeitung der Weimarer Republik. Ihren Gründer und Herausgeber Siegfried Jacobsohn kennen nur noch Insider, obwohl er zweifellos einer der bedeutendsten deutschen Publizisten war. Deshalb bin ich froh, dass wir jetzt an seinem langjährigen Wohn- und Arbeitsort an ihn erinnern können.

Ich freue mich ganz besonders, dass der Stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Herr Moishe Waks, unserer Einladung gefolgt ist und heute an dieser kleinen Veranstaltung teilnimmt. Herzlich willkommen und vielen Dank, Herr Waks.

Viele haben daran mitgewirkt, dass wir heute diese Gedenktafel enthüllen können.

Ich danke dem Journalisten Friedhelm Greis. Er hat vor anderthalb Jahren angeregt, eine solche Gedenktafel herzustellen, hat einen Sponsor gefunden, an der Formulierung des Textes mitgewirkt und sich auch sonst hartnäckig darum gekümmert, dass seine Idee verwirklicht werden kann. Er wird uns gleich gemeinsam mit Frau Oswalt Siegfried Jacobsohn in seinen eigenen Texten vorstellen. Vielen Dank dafür.

Der Sponsor, den Herr Greis für die Tafel gefunden hat, ist heute extra aus Hamburg hierher gekommen. Ich freue mich sehr darüber und bedanke mich herzlich bei Herrn Peter Hess dafür, dass er die Kosten für diese Tafel übernommen hat.

Stefanie Oswalt ist Mitglied der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft und hat eine Biografie über Siegfried Jacobsohn geschrieben, bislang wohl die erste und einzige Biografie, soweit ich sehe. Sie hat ebenfalls an der Formulierung des Textes mitgewirkt, und sie hat uns davor bewahrt, die Gedenktafel am falschen Haus anzubringen.

Siegfried Jacobsohn lebte und arbeitete nämlich von 1910 bis 1921 in dem Haus Dernburgstraße 25, und wir hatten bereits die Erlaubnis der Eigentümer des heutigen Neubaukomplexes Dernburgstraße 25 bis 25c erhalten, dort die Gedenktafel anzubringen. Vor wenigen Wochen hat nun Frau Oswalt angeregt, noch einmal zu überprüfen, ob es sich wirklich um das richtige Grundstück handelt. Wir sind ihrem Rat gefolgt, und unser Vermessungsamt hat herausgefunden, dass die Dernburgstraße 1936 von den Nationalsozialisten in Gustloffstraße umbenannt worden war. Diese Umbenennung wurde zwar nach dem Krieg 1947 wieder rückgängig gemacht, aber dabei wurde die Numerierung komplett geändert. Bei einem Vergleich der Pläne konnten wir zweifelsfrei feststellen, dass die frühere Dernburgstraße 25 die heutige Dernburgstraße 57 ist. Das hat den Vorteil, dass wir heute nicht vor einem Neubau stehen, sondern vor dem Originalhaus, in dem Siegfried Jacobsohn gelebt hat.

Da wir dies erst sehr spät erfahren haben, waren wir sehr froh, dass uns der Verwalter dieses Hauses, Herr Pöschel sehr schnell die Erlaubnis dafür gab, die Tafel an seinem Haus anzubringen. Leider ist das Einverständnis der Hausbesitzer mit einer solchen Tafel nicht selbstverständlich. Um so mehr bin ich Herrn Pöschel dankbar für seine schnelle Bereitschaft und Kooperation.

Entworfen und angefertigt wurde die Tafel in bewährter Weise von Herrn Reinhard Jacob. Er hat nun mit seinen Edelstahltafeln bereits eine Tradition in unserem Bezirk begründet, und seine nüchtern und doch ästhetisch ansprechend gestalteten Tafeln haben bislang immer viel Anerkennung gefunden. Herzlichen Dank auch Herrn Jacob für die zuverlässige und pünktliche Herstellung und Anbringung der Tafel.

Wir haben uns für den heutigen Tag zur Enthüllung der Gedenktafel entschieden, weil zwei Daten im April mit Siegfried Jacobsohn, diesem Haus und der Weltbühne verbunden sind: Siegfried Jacobsohn gründete 1905 die Zeitschrift “Die Schaubühne”. Am 1.April 1910 zog er mit ihrer Redaktion in das Haus Dernburgstr. 57, damals wie gesagt Nummer 25. Später begann er, sich auch politisch zu engagieren und machte aus seiner “Schaubühne” die “Weltbühne”. Die erste Ausgabe der Weltbühne ist am 4. April 1918 erschienen. Bis 1921 blieb die Redaktion in dem Haus an der Dernburgstraße.

In den 20er Jahren gab es in Berlin 45 Morgenzeitungen, 14 Abendzeitungen, 2 Mittagszeitungen und weit mehr als 100 politische Zeitungen. Die Weltbühne gehörte damals gewiss nicht zu den Massenblättern. Aber sie wurde zum wohl berühmtesten publizistischen Forum für Demokratie, gegen Militarismus und Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik. Mit der Aufklärung der Fememorde wurde hier eindringlich die Gefährdung der Demokratie durch Rechtsradikale angeprangert.

Die Weltbühne wurde nach Jacobsohns Tod 1926 weitergeführt von Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky. Und seine beiden Nachfolger, der berühmte Schriftsteller Tucholsky und der Friedensnobelpreisträger Ossietzky wurden bekannter als ihr Vorläufer und Förderer.

Die Weltbühne ist wohl die einzige Zeitung der Weimarer Republik, deren Ausgaben nicht nur für Historiker und Publizisten von Interesse sind, sondern die sogar 1978 in einem kompletten Nachdruck einem großen interessierten Lesepublikum zugänglich gemacht wurde. Natürlich liegt das an der hohen Qualität der Beiträge von Autorinnen und Autoren, die uns bis heute etwas zu sagen haben: Martin Buber, Axel Eggebrecht, Hugo von Hofmannsthal, Carl von Ossietzky, Alfred Polgar, Else Lasker-Schüler, Kurt Tucholsky und viele andere.

Wahrscheinlich war dies die wichtigste Begabung von Siegfried Jacobsohn: Die Qualität von Autorinnen und Autoren zu erkennen, sie zu motivieren und zu fördern.

Jacobsohn war ein leidenschaftlicher Theaterkritiker und Journalist. Seine journalistische Unabhängigkeit ging ihm über alles. Deshalb gründete er 1905, im Alter von 24 Jahren seine eigene Zeitschrift.

Bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1926, also mehr als 20 Jahre lang, gab er sie Woche für Woche, ohne Unterbrechung heraus. Dabei machte er fast alles selbst, von den Verhandlungen mit den Autoren, Anregungen für ihre Beiträge, Mahnungen zur termingerechten Fertigstellung über das Korrekturlesen, die Anzeigenwerbung bis zur Organisation des Verkaufs. Daneben verfolgte er aufmerksam die Theaterproduktionen und die Theaterkritik, schrieb eigene Beiträge und mehrere Bücher – eine ungeheure Lebensleistung. Seine Haltung charakterisierte er selbst als “wütende Sachlichkeit”.

Mit seiner “Schaubühne” wollte er für hohe Qualitätsmaßstäbe im Theater sorgen. Er teilte Friedrich Schillers Auffassung vom “Theater als moralische Anstalt”. Mit ihm war er davon überzeugt, dass die Schaubühne “tiefer und dauernder wirkt als Moral und Gesetze”.

Wir können uns heute kaum noch vorstellen, welche Bedeutung Theateraufführungen damals hatten, als noch die kaiserliche Zensur darauf achtete, was die Zuschauer zu sehen bekamen.

Siegfried Jacobsohn führte leidenschaftliche Debatten über Stücke und ihre Darstellung auf der Bühne. Aber er musste mehr und mehr erkennen, dass das Theater als Erziehungsanstalt versagte. Spätestens mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde ihm klar, dass Dichtkunst und Barbarei sich nicht ausschließen. Die Umbenennung der Schaubühne in die Weltbühne ist die letzte Konsequenz dieser Desillusionierung.

Siegfried Jacobsohn teilte nicht die verbreitete Kriegsbegeisterung im Ersten Weltkrieg. Er ging frühzeitig auf Distanz zum Blutvergießen und entwickelte mehr und mehr eine pazifistische Haltung.

Nach dem Krieg sah er seine Hauptaufgabe in der Auseinandersetzung mit dem Militarismus. Er war davon überzeugt, dass ein Eingeständnis der Kriegsschuld und der Niederlage für Deutschland am Ende nützlicher wäre als starrsinniges Leugnen. Als Voraussetzung für eine gelingende Demokratie sah er die ehrliche und schonungslose Aufklärung der Fehler in den letzten Jahren des Kaiserreichs.

Dass es dabei keineswegs nur um Vergangenheit, sondern häufig genug um blutige Gegenwart ging, zeigten die Fememorde der Weimarer Republik. Matthias Erzberger und Walther Rathenau waren nur die prominentesten Opfer rechtsradikalen, antisemitischen Terrors in der Weimarer Republik. Die Aufklärung der Fememorde war wohl der wichtigste Beitrag der Weltbühne zur politischen Wahrheitsfindung. Er begann am 18. August 1925 mit einem 20seitigen Bericht von Carl Mertens über “Die Vaterländischen Verbände”.

In diesem Bericht und seinen Fortsetzungen beschrieb er die rivalisierenden rechtsradikalen Gruppen, warnte vor ihrer republikfeindlichen Gesinnung, benannte ihre Geldgeber und ihre Verbindungen zur Reichswehr.

Siegfried Jacobsohn war die Brisanz der Veröffentlichung klar. Gemeinsam mit dem Autor trug er die Verantwortung. Die Reaktionen waren enorm. Nicht nur sämtliche Medien, sondern auch Polizei, Staatsanwaltschaft und die Politik mussten sich nun mit diesen für die junge Demokratie so gefährlichen Terrorgruppen beschäftigen.

Voraussetzung für die Aufklärungsarbeit der Weltbühne war Jacobsohns absolute Unabhängigkeit. Er war keiner politischen Partei verpflichtet, nur seinem eigenen unbeirrbaren Glauben an die Macht der Aufklärung im Kampf für eine bessere Zukunft.

Siegfried Jacobsohn hat sein Judentum nie verleugnet. Er hat eine übertriebene Anpassung ebenso abgelehnt wie eine an jüdischen Antisemitismus grenzende innerjüdische Kritik. Konservative, deutschnationale jüdische Organisationen warfen ihm vor, er schade Deutschland und bringe die deutschen Juden damit in Misskredit.

Er selbst verstand sich als deutscher Patriot und sah es als seine patriotische Pflicht an, für das Gelingen der Weimarer Demokratie zu kämpfen. Durch seinen frühen Tod 1926 blieb es Siegfried Jacobsohn erspart, den Sieg des grausamsten antisemitischen Regimes der Geschichte in Deutschland zu erleben. Seine Nachfolger Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky gehören den Opfern.

Aber auch Siegfried Jacobsohn wurde von den Nationalsozialisten die Zugehörigkeit zum deutschen Volk abgesprochen. Ich glaube, dass es uns bis heute nicht gelungen ist, ihn und die vielen anderen von den Nazis Ausgebürgerten wieder in unser Gedächtnis einzubürgern. Ich hoffe, dass wir mit dieser Gedenktafel einen kleinen Betrag dazu leisten können.

Ich freue mich, dass wir jetzt mit einer Gedenktafel an den großen deutschen Journalisten und Demokraten erinnern können. Und ich danke noch einmal allen, die daran mitgewirkt haben.

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