Vortrag zum Thema "Gedenkkultur in Charlottenburg-Wilmersdorf" am 27.9.2012

Bezirksbürgermeister Reinhard Naumann im Ev. Gemeindezentrum Plötzensee

1. Gedenkkultur

“Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.” (William Faulkner, 1897-1962, bedeutendster amerikanischer Romancier des 20. Jahrhunderts, erhielt 1950 den Nobelpreis für Literatur)
“Wir sind, was wir geworden sind.”
“Jeder Mensch ist das Produkt seiner Vorfahren.”
“Unsere Geschichte ist in unserer Gegenwart enthalten.”
“Wer bewusst leben will, der muss seine Geschichte kennen.”
Diese Sätze sind Allgemeingut, und sie betreffen unsere gesamte Geschichte mit all ihren Errungenschaften und Fehlschlägen. Wir sind geprägt durch unsere unmittelbare Vergangenheit, in der Computer, Handy und Internet erfunden wurden, durch frühere Jahrhunderte, in denen unsere persönlichen Freiheitsrechte, Demokratie und Rechtsstaat erkämpft wurden, durch die Zeit vor 2000 Jahren, als das Christentum entstand, und durch vieles mehr.
Wenn wir von Gedenkkultur sprechen, dann meinen wir aber nicht die gesamte Geschichte, die uns geprägt hat, sondern wir meinen die 12 Jahre des Nationalsozialismus, die in dem Menschheitsverbrechen der Deutschen endeten, das mit Begriffen wie Auschwitz, Holocaust und Shoa bezeichnet wird, das uns aber bis heute letztlich unbegreiflich ist.
Manche kritisieren, dass wir uns so intensiv mit diesen 12 Jahren unserer Geschichte beschäftigen und andere, positive Epochen vernachlässigen. Das sehe ich nicht so. Wir haben im letzten Jahr 125 Jahre Kurfürstendamm gefeiert, in diesem Jahr 775 Jahre Berlin, wir haben Preußenjahre, Bach- und Mozartjahre erlebt und die Angebote zur Beschäftigung mit allen Epochen und Themen der Geschichte sind riesig.
Auch im öffentlichen Raum erinnern wir an wichtige Begebenheiten und Anlässe wie beispielsweise mit einem Gedenkstein auf dem Adenauerplatz an den 1991 nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung verstorbenen Mete Eksi, mit einer Gedenktafel in der Prager Straße an das Mykonos-Attentat am 17.9.1992 oder mit einem Denkmal für im Verkehr verunglückte Kinder an der Bismarckstraße Ecke Kaiser-Friedrich-Straße an den 2004 verunglückten und ums Leben gekommenen Dersu Scheffler.
Aber nach Jahren des Verdrängens haben wir uns in den letzten Jahren sehr intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandergesetzt und dabei eine Gedenkkultur entwickelt, die meist sehr konkret an den authentischen Orten des Geschehens Zeichen des Erinnerns setzt. Damit ist die Vergangenheit im öffentlichen Raum präsent, und wir wenden uns ausdrücklich gegen das Vergessen. Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig, sondern vor allem auch uns selbst. Denn aus der Vergangenheit lernen können wir nur, wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen.
Diese Auseinandersetzung wird nicht zu beenden sein. Sie ist prozesshaft, denn auch unser Geschichtsbild ist dem historischen Wandel unterworfen. Die Erkenntnis der Geschichte ist nicht irgendwann abgeschlossen, sondern sie wird mit immer wieder neuen Fragestellungen immer wieder neu erzählt. Das gilt für die Zeit des Nationalsozialismus in besonderem Maße. Diese Zeit erscheint uns so fern wie das finsterste Mittelalter, aber sie ist uns so nahe, dass wir uns noch mit Zeitzeugen unterhalten können, die sie erlebt haben.
“Nie wieder Auschwitz!” ist vor allem für viele politisch aktive Menschen zum Maßstab ihres Handelns geworden. Der Satz bezeichnet einen Grundkonsens aller Demokraten in unserer Gesellschaft. Es ist einer der wenigen Sätze, dem nicht zu widersprechen ist. Er ist absolut. Mit unserer Gedenkkultur bekräftigen wir diesen Satz immer wieder neu. Die Gedenkkultur wird inzwischen von vielen Bürgerinnen und Bürgern aktiv gepflegt.
Die intensive Gedenkkultur gerade in Charlottenburg-Wilmersdorf ist kein Zufall, denn Charlottenburg und Wilmersdorf waren den 1920er Jahren die beiden Bezirke mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung.
1933 haben in Charlottenburg und Wilmersdorf jeweils rund 27.000 Juden gelebt, das waren in Charlottenburg knapp 8 Prozent der Bevölkerung, in dem kleineren Bezirk Wilmersdorf rund 14 Prozent der Bevölkerung. In ganz Berlin lebten damals 173.000 Juden. 55.000 wurden Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen. Nur 9.000 überlebten in Berlin. Heute leben wieder etwa 12.000 Juden in Berlin.
Im möchte im Folgenden einige Stationen der Gedenkkultur in Charlottenburg-Wilmersdorf nachzeichnen und diese in den Zusammenhang der deutschen Geschichte nach 1945 stellen.
Die Geschichte der Gedenkkultur verlief nicht geradlinig, sondern mit heftigen Brüchen.

2. Nachkriegszeit, 1950er Jahre

Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Neigung nicht sehr groß, sich mit der soeben zu Ende gegangenen Epoche der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Wer nicht wie Inge Deutschkron, Hans Rosenthal und andere Überlebende das Ende herbeigesehnt hatte, erlebte es als Zusammenbruch, ja als Niederlage. Es galt, das eigene Überleben zu sichern und den Wiederaufbau zu schaffen. Die Nürnberger Prozesse wurden als Strafgericht der Alliierten wahrgenommen. Mit dem Tod der obersten Repräsentanten des Systems schien die Sache abgetan.
Das wahre Ausmaß der Verbrechen und die hohe Zahl der beteiligten Täterinnen und Täter wurden verdrängt.
In dieser frühen Phase der Erinnerung beschäftigte sich die westdeutsche Gesellschaft fast ausschließlich mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
1947 bereits wurde in der Charlottenburger Altstadt die damalige Kauffmannstraße nach dem Widerstandskämpfer Theodor Haubach(1896-1945) benannt. Er war SPD-Mitglied, aktiv bei den religiösen Sozialisten und nach der Beseitigung Hitlers als Informationsminister vorgesehen. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und Anfang 1945 in Plötzensee ermordet.
1950 kamen Gierkeplatz und Gierkezeile nach Anna von Gierke und der Klausenerplatz nach Erich Klausener hinzu. Anna von Gierke (1874-1943) wurde 1933 wegen ihrer jüdischen Abstammung als Leiterin des Charlottenburger Jugendheims Finkenkrug entlassen. Sie arbeitete in der Bekennenden Kirche mit und starb 1943 in Berlin. Der Jurist und Politiker Erich Klausener (1885-1934) war Mitglied der Zentrumspartei und in der katholischen Kirche aktiv. In einer Rede auf dem märkischen Katholikentag am 24.6.1934 in Hoppegarten griff er die rassistisch-antisemitische Politik der Nationalsozialisten an. Sechs Tage später wurde er in seinem Dienstzimmer im Reichsverkehrsministerium in der Wilhelmstraße ermordet.
1950 wurde auch die zum Gefängnis Plötzensee führende Straße als Hüttigpfad nach dem Widerstandskämpfer und Kommunisten Richard Hüttig (1908-1934) benannt. Hüttig war KPD-Mitglied und Leiter der Häuserschutzstaffel seines Charlottenburger Wohngebiets. Er wurde beschuldigt, am 19.2.1933 bei einem Zusammenstoß mit SA und SS einen SS-Scharführer erschossen zu haben. Trotz fehlender Beweise wurde er zum Tode verurteilt und am 14.6.1934 in Plötzensee mit dem Handbeil hingerichtet.
1952 wurde vom Land Berlin in Charlottenburg-Nord die Gedenkstätte Plötzensee eröffnet. Hier wurde und wird an 2.891 Menschen erinnert, die zwischen 1933 und 1945 im Gefängnis Plötzensee hingerichtet wurden, unter anderem Mitglieder der Roten Kapelle, Teilnehmer des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 und Mitglieder des Kreisauer Kreises. Darunter waren auch über 300 Frauen, die zur Hinrichtung aus dem Friedrichshainer Frauengefängnis Barnimstraße nach Plötzensee überführt wurden.
1953 wurde der Goerdelerdamm nach Carl Friedrich Goerdeler benannt. Goerdeler (1884-1945) wurde 1930 Oberbürgermeister von Leipzig, trat 1937 als Gegner der nationalsozialistischen Rassen- und Kirchenpolitik zurück und wurde zum führenden Kopf des Widerstands. Er war nach der Beseitigung Hitlers als neuer Reichskanzler vorgesehen. Am 12. August 1944 wurde er verhaftet und am 2.2.1945 in Plötzensee enthauptet.
1953 stellte der Bund der Verfolgten des Naziregimes auf dem Steinplatz an der Hardenbergstraße den Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus auf – in symmetrischer Anordnung zu dem bereits 1951 aufgestellten Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus. Man beachte die zeitliche Abfolge.
Im Frühjahr 1957 stritten der Berliner Senat und der Bezirk Charlottenburg über die Benennung der neuen Straßen in Charlottenburg-Nord. Der Senat plädierte für Architekten und Ingenieure wie im anschließenden Siemensstadt, der Bezirk plädierte für Widerstandskämpfer. Zwischenzeitlich drohten sogar Bewohnerinnen und Bewohner der namenlosen Straßen: “Wir taufen sie selbst!” Schließlich setzte sich der Bezirk durch, und neun Straßen wurden nach Widerstandskämpfern benannt, von denen fast alle in Plötzensee hingerichtet worden waren:
Die Dahrendorfzeile wurde nach Dietrich Dahrendorf (1901-1954) benannt. Der SPD-Politiker wurde nach 1933 mehrmals inhaftiert, knüpfte Kontakte zum Kreisauer Kreis und wurde am 27.4.1945 aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden befreit.
Die Habermannzeile wurde nach Hans Habermann (1885-1944) benannt. Der Buchhändler und Gewerkschafter hielt Kontakt zum Kreisauer Kreis. Am 30.10.1944 nahm er sich im Gefängnis in Gifhorn das Leben.
Die Haeftenzeile wurde nach den Brüdern Hans-Bernd (1905-1944) und Werner (1908-1944) von Haeften benannt. Hans-Bernd von Haeften war Mitglied der Bekennenden Kirche und hatte enge Verbindungen zum Kreisauer Kreis. Er wurde am 15.8.1944 in Plötzensee hingerichtet. Werner von Haeften war Adjutant Stauffenbergs und beteiligte sich unmittelbar am Attentat auf Hitler. Er wurde in der Nacht vom 20. zum 21.Juli 1944 auf dem Hof des damaligen Allgemeinen Heeresamtes an der Bendlerstraße gemeinsam mit Stauffenberg, von Quirnheim und Olbricht standrechtlich erschossen.
Der Halemweg wurde nach Nikolaus Christoph von Halem (1905-1944) benannt. Der Jurist wurde am 9.10.1944 wegen Verbindungen zur Widerstandsgruppe um Beppo Römer im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet.
Der Heilmannring wurde nach Ernst Heilmann (1881-1940) benannt. Er war Sohn eines jüdischen Kaufmanns, SPD-Mitglied, 1919 bis 1933 Redakteur des “Vorwärts”, 1928-1933 Reichstagsabgeordneter, im Juni 1933 verhaftet, am 3.4.1940 im KZ Buchenwald ermordet.
Die Hofackerzeile wurde nach Cäsar von Hofacker (1896-1944) benannt. Der Jurist war ein Vetter von Stauffenberg, dessen Attentatspläne er unterstützte. Er wurde am 25.7.1944 in Paris verhaftet und am 20.12.1944 in Plötzensee hingerichtet.
Der Letterhausweg wurde nach Bernhard Letterhaus (1894-1944) benannt. Er war katholischer Gewerkschaftsfunktionär und Zentrumspolitiker, wurde nach 1933 mehrmals inhaftiert, unterstützte auch als Soldat den Widerstand und wurde am 14.11.1944 in Plötzensee hingerichtet.
Der Popitzweg wurde nach Eduard Popitz (1884-1945) benannt. Der Jurist und Politiker war Mitglied der NSDAP und Träger des Goldenen Parteiabzeichens, fand aber schließlich zum Widerstand und versuchte sogar Heinrich Himmlers Unterstützung für einen Staatsstreich zu erhalten. Er wurde am 2.2.1945 in Plötzensee hingerichtet.
Der Schneppenhorstweg wurde nach Ernst Schneppenhorst (1881-1945) benannt. Der SPD-Politiker wurde 1938 zu ersten Mal als Widerstandskämpfer verhaftet. Am 24.4.1945 wurde er im Gefängnis Lehrter Straße ermordet.
Erinnerungen an Widerstandskämpfer waren aber eher die Ausnahme im öffentlichen Raum. Mit dem Wiederaufbau war oft auch die Tilgung von Spuren der Vergangenheit verbunden. Der Abriss der Turmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche war schon geplant. Er konnte Mitte der 1950er Jahre durch Bürgerproteste verhindert werden, so dass schließlich von 1959 bis 1961 die Ergänzungsbauten von Egon Eiermann um die Ruine herum gebaut wurden, die derzeit restauriert wird und bis heute ein Wahrzeichen Berlins und eines der populärsten Mahnmale gegen den Krieg ist.
Dagegen wurden die Ruinen von großen, bedeutenden Synagogen in den 1950er Jahren abgerissen.
1957 ließ die Jüdische Gemeinde die Synagoge Charlottenburg an der Fasanenstraße 79-80 abreißen und baute an ihrer Stelle das Jüdische Gemeindehaus. Der Saalbau erinnert mit drei Oberlichtkuppeln an die zerstörte Synagoge. Vor dem Eingang über einer breiten Freitreppe erinnern Reste des alten Portals an die Synagoge. Im Innenhof trägt eine Gedenkwand die Namen von 22 Ghettos, Internierungs-, Konzentrations- und Vernichtungslagern, davor brennt eine Ewige Flamme. Hier finden die zentralen Gedenkveranstaltungen statt und das Kaddisch, das jüdische Trauergebet, gesprochen.
1959 wurden die Synagoge “Friedenstempel” Halensee an der Markgraf-Albrecht-Straße 11-12, die Synagoge Wilmersdorf an der Prinzregentenstraße 69-70 und die Synagoge Grunewald an der Franzensbader Straße 7-8 abgerissen und durch Mietshäuser ersetzt.

3. 1960er und 70er Jahre

In Charlottenburg-Nord wurde die Erinnerung an Widerstandskämpfer zu Beginn der 1960er Jahre fortgesetzt.
1961 wurde der frühere Siemensplatz in Jakob-Kaiser-Platz umbenannt. Jakob Kaiser (1888-1961) war Buchbinder, Mitglied der Zentrumspartei und seit 1912 in der Leitung der christlichen Gewerkschaften tätig. 1933 stimmte er im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz, hatte Kontakt zur Widerstandsgruppe um Goerdeler, überlebte aber bis Kriegsende im Untergrund. 1945 war er Mitbegründer der CDU in der sowjetischen Besatzungszone, gehörte von 1949 bis 1957 dem Bundestag an und wurde Minister für Gesamtdeutsche Fragen, stellvertretender CDU-Vorsitzender und Mitbegründer des Kuratoriums “Unteilbares Deutschland”, seit 1958 Ehrenbürger Berlins.
1962 wurden die meisten Straßen der neu entstehenden Paul-Hertz-Siedlung nach Widerstandskämpfern benannt, von denen viele in Plötzensee hingerichtet worden waren. Im Unterschied zum westlichen Teil von Charlottenburg-Nord, wo es fünf Jahre zuvor Streit zwischen Senat und Bezirk gegeben hatte, einigte man sich dieses Mal rechtzeitig, so dass die Straßen pünktlich zur Fertigstellung der Siedlung benannt werden konnten.
Die Benennung geht auf einen Antrag der CDU in der Charlottenburger BVV zurück, dem sich die SPD anschloss. Der SPD-Bezirksverordnete Rogall begründete das in der BVV-Sitzung am 13.7.1962 so:
“Mit diesem gemeinsamen Antrag ehrt die BVV die Widerstandskämpfer, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben gelassen haben. Sie nahmen in der geistigen Auseinandersetzung die verschiedensten politischen Standorte ein, denn ihr Geschichtsbild, das sie gehabt haben, war abhängig von ihrer unterschiedlichen sozialen Herkunft und Bildung, ihren Erlebnissen und der gewonnenen Lebenserfahrung. Aber eines war ihnen gemeinsam, die Bereitschaft, ein neues und ein besseres Deutschland zu erkämpfen. Dieses Verbindende war um so stärker, je größer der Terror war. Der Pazifist und der Offizier, der konservative Pädgoge oder der sozialistische Student fanden mehr Gemeinsames in ihrem Wollen als Trennendes in ihrer Geisteshaltung.”
Bernhard-Lichtenberg-Straße nach Bernhard Lichtenberg (1875-1943, katholischer Theologe, seit 1913 Pfarrer in Charlottenburg, seit 1920 Zentrumsabgeordneter in der Stadtverordnetenversammlung, seit 1932 Dompfarrer an der St.-Hedwigs-Kathedrale, seit 1938 Dompropst in Berlin, protestierte gegen Antisemitismus und Euthanasie, wurde 1943 verhaftet, starb auf dem Transport ins KZ Dachau)
Delpzeile nach Alfred Friedrich Delp (1907-1945, katholischer Theologe, Jesuit, Kontakte zum Kreisauer Kreis und zu Stauffenberg, am 27.7.1944 verhaftet, am 2.2.1945 im Plötzensee hingerichtet)
Gloedenpfad nach Elisabeth Charlotte Gloeden (1903-1944, Gerichtsreferendarin, versteckte den Widerstandskämpfer Fritz Lindemann in ihrer Charlottenburger Wohnung, wurde am 30.11.1944 in Plötzensee ermordet)
Kirchnerpfad nach Johanna Kirchner (1889-1944, Journalistin, seit ihrem 14. Lebensjahr in der Sozialistischen Arbeiterjugend, floh 1935 nach Frankreich, wurde 1942 an Deutschland ausgeliefert, am 9.6.1944 in Plötzensee hingerichtet)
Klausingring nach Friedrich Karl Klausing (1920-1944, kam als Soldat zur Widerstandsbewegung und wurde Adjutant von Stauffenberg, wurde am 8.8.1944 hingerichtet)
Leuningerpfad nach Franz Leuninger (1898-1945, Gewerkschaftsfunktionär, am 1.3.1945 in Plötzensee hingerichtet)
Reichweindamm nach Adolf Reichwein (1898-1944, SPD-Mitglied, Kontakte zum Kreisauer Kreis und zu kommunistischen Widerstandsgruppen, wurde am 20.10.1944 in Plötzensee hingerichtet)
Schwambzeile nach Ludwig Schwamb (1890-1945, Jurist, SPD-Mitglied, stellte seine Wohnung für illegale Zusammenkünfte zur Verfügung, am 23.1.1945 in Plötzensee hingerichtet)
Strünckweg nach Theodor Strünck (1898-1945, Jurist, aktiv in der Widerstandsgruppe um Goerdeler und Oster, am 9.4.1945 im KZ Flossenbürg erschossen)
Teichgräberzeile nach Richard Teichgräber (1884-1945, Schlosser, SPD-Mitglied und Gewerkschafter, 1937 verhaftet, ermordet am 25.2.1945 im KZ Mauthausen)
Terwielsteig nach Maria Terwiel (1910-1943, jüdische Herkunft, hatte Kontakt zur Schulze-Boysen-Gruppe, beschaffte Pässe für Juden, am 5.8.1943 in Plötzensee hingerichtet)
Wiersichweg nach Oswald Wiersich (1882-1945, Maschinenbauer, Gewerkschafter, Verbindung zum Widerstand, am 1.3.1945 in Plötzensee hingerichtet)
Wirmerzeile nach Joseph Wirmer (1901-1944, Jurist, verteidigte als Anwalt seit 1933 rassistisch Verfolgte, hatte Kontakte zu Bonhoeffer, Goerdeler und anderen, war für die Zeit nach dem Attentat auf Hitler als Justizminister vorgesehen, am 8.9.1944 in Plötzensee hingerichtet)
Am 7. April 1963 schrieb der “Telegraph”:
“Immerhin ist dieses Straßenmahnmal ein Verdienst des Bezirks Charlottenburg. Einige der Briefe, die von Hinterbliebenen der Widerstandskämpfer an den Senat geschrieben wurden, entbehren einer gewissen Zurückhaltung nicht. Ein leicht bitterer Unterton – warum erst jetzt? – klingt an.
Das Schreiben allerdings, das von der Mutter Friedrich Karl Klausings, des jungen Adjutanten Graf Stauffenbergs, an den Senat geschickt wurde, soll besonders hervorgehoben werden. Einem herzlichen Dankbrief legte die Absenderin 50 DM für eine kinderreiche Familie bei. In einer Karte an diese kommt die Hoffnung der Spenderin zum Ausdruck, dass jene Kinder und alle anderen, die in der Siedlung aufwachsen, zu politisch verantwortungsbewussten, aber auch heiteren Menschen heranwachsen mögen.”
Mit drei Kirchenbauten wurden in Charlottenburg-Nord bedeutende Zeichen und Institutionen des Gedenkens gesetzt:
1963 wurde die katholische Gedenkkirche Maria Regina Martyrum eingeweiht. Der von einer hohen Mauer umgebene große kahle Hof weckt die Assoziation eines Gefängnishofes oder Appellplatzes. Im Gedenkraum der “Märtyrer für Glaubens- und Gewissensfreiheit” befinden sich vier Bodenplatten mit Inschriften zum Gedenken an Opfer der NS-Gewaltherrschaft. Hier befindet auch das Grab von Erich Klausener und eine Gedenkstätte für den Dompropst Lichtenberg.
1964 wurde die Sühne-Christi-Kirche mit einem Mahnmal zum Gedenken an Schreckensorte der menschlichen Geschichte von Florian Breuer eingeweiht. Vor eine zwanzig Meter lange Ziegelsteinmauer, die aus der Kirche herauswächst, schieben sich Betonblöcke mit den Aufschriften “Plötzensee”, “Auschwitz”, “Hiroshima”, “Mauern” und im Kircheninnern “Golgatha”. Ein vor der Mauer liegender Block trägt die Inschrift: “Horch das Blut / deines Bruders / schreit zu mir / von der Erde.”
1970 wurde das Evangelische Gemeindezentrum Plötzensee eingeweiht. Es thematisiert die Nähe zur Gedenkstätte Plötzensee mit dem “Plötzenseer Totentanz”, einem Zyklus von sechzehn großformatigen Zeichnungen von Alfred Hrdlicka aus den Jahren 1968-1972. Hinrichtungsdarstellungen werden verbunden mit biblischen und gegenwartsbezogenen Themen.
Auch in den 1960er Jahren war aber von historischer Spurensuche nicht die Rede. Im Gegenteil: Viele Spuren der Vergangenheit wurden weiterhin getilgt. Der Name “Auschwitz” wurde zwar zum Synonym für den millionenfachen Mord an den Juden. Aber man dachte dabei weniger an das konkrete Geschehen im Vernichtungslager, sondern eher abstrakt an das Vernichtungsprogramm insgesamt.
Die aufkommende Studentenbewegung verstand sich zwar als “antifaschistisch”. Aber in ihren Faschismustheorien interessierte sie sich zumeist nicht für historische Einzelheiten. Man sprach nicht konkret vom Nationalsozialismus, sondern pauschal und abstrakt vom Faschismus, der als besonders brutale Ausprägung des Monopolkapitalismus galt. Einzelschicksale und historische Details interessierten nicht. Der Einzelne galt als willenloses Werkzeug der Monopole. Das Individuum, persönliche Verantwortung oder auch persönliche Schuld hatten in diesen Erklärungsmodellen keinen Platz.
Öffentliche Zeichen der konkreten Erinnerung gab es nur in Ausnahmefällen. So ließ der Bund der Verfolgten des Naziregimes an dem Stellwärterhäuschen am Güterbahnhof Grunewald eine kleine Gedenktafel anbringen, die an die Deportationen jüdischer Berlinerinnen und Berliner erinnerte.
1966 wurde an dem Haus an der Düsseldorfer Straße 47 eine kleine Gedenktafel angebracht, die an Leon Jessel, den jüdischen Komponisten der Operette “Schwarzwaldmädel”, erinnert, der am 4. Januar 1942 an den Folgen nationalsozialistischer Haft starb. Solche Gedenktafeln gingen in dieser Zeit meist auf die Initiative von persönlich betroffenen Nachkommen zurück.
1973 erschien die Hitler-Biografie von Joachim Fest. Bei der Berlinale 1977 wurde der darauf aufbauende dokumentarische Kinofilm “Hitler – Eine Karriere” uraufgeführt. Die Nürnberger Rassegesetze kommen in dem Buch nicht vor, die Novemberpogrome werden nur kurz gestreift, und der massenhafte Mord an den Juden wird auf drei von insgesamt 1280 Seiten abgehandelt.
Ganz anders die 1978 erschienen “Anmerkungen zu Hitler” von Sebastian Haffner. Er thematisiert Hitlers Erfolge und Hitlers Verbrechen in jeweils eigenen Kapiteln.
1979 wirkte die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie “Holocaust” im deutschen Fernsehen wie ein Schock. “Die Geschichte der Familie Weiß” konfrontierte die Erlebnisgeneration des Dritten Reiches und die Nachkriegsgeneration zum ersten Mal mit einem konkreten Beispiel für das tödliche Schicksal deutscher Juden im Nationalsozialismus. Zum ersten Mal rückte der Alltag von betroffenen Menschen und die schreckliche Normalität der Täter in den Blickpunkt.
Der Eindruck dieser Filme war so stark, dass sich seither der Begriff “Holocaust” zur Bezeichnung der nationalsozialistischen Vernichtung der Juden durchgesetzt hat. Das aus dem Griechischen stammende Wort bedeutet ursprünglich “Brandopfer” und ist deshalb problematisch. 1985 hat Claude Lanzmann seinen bedrückenden Film mit Zeitzeugen der Vernichtung “Shoah” genannt. Seither wird dieses hebräische Wort (auch “Shoa” geschrieben) oft synonym mit “Holocaust” verwendet. Es bedeutet “Unheil” oder “große Katastrophe” und ist deshalb zutreffender als der Begriff “Holocaust”.

4. Streit um das Geschichtsverständnis in den 1980er Jahren

Um die Konsequenzen aus dem Holocaust-Schock wurde in den 1980er Jahren zum Teil leidenschaftlich gerungen.
1981 wurde in Berlin die Geschichtswerkstatt gegründet. Junge, alternative Historiker, die der Hausbesetzerbewegung nahestanden, propagierten die schwedische Tradition des “Grabe, wo du stehst”. Die Lokalgeschichte bekam eine große Bedeutung, und die historische Dimension wurde mit dem gegenwärtigen Alltag verbunden. Eine wichtige Methode der historischen Forschung wurde die Befragung von Zeitzeugen.
1983 gab der “VVN Westberlin – Verband der Antifaschisten” gemeinsam mit der Friedensinitiative Wilmersdorf eine 60seitige Broschüre heraus mit dem Titel “Wilmersdorf. Alltag und Widerstand im Faschismus”. Diese Broschüre markiert als eine der ersten den Übergang von der Faschismustheorie zum konkreten historischen Interesse an der Alltagsgeschichte.
1983 begann die Gedenkstätte Deutscher Widerstand mit der Herausgabe einer Buchreihe über den Widerstand in den Berliner Bezirken mit dem Band 1 über Wedding. Band 5 über Charlottenburg erschien 1991, Band 7 über Wilmersdorf 1993.
Am 8. Mai 1985 hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes und bezeichnete darin den 8. Mai als einen “Tag der Befreiung”. Damit erntete er aber damals nicht nur Zustimmung, sondern formulierte eine Position, die sich erst in den Auseinandersetzungen der folgenden Jahre als Konsens durchsetzte.
In Wilmersdorf verhinderte damals beispielsweise eine konservative Mehrheit in der BVV, dass eine historisch-kritische Ausstellung zu dem von NS-Bauten geprägten Fehrbelliner Platz im Rathaus Wilmersdorf gezeigt werden konnte.
In einem 1985 vom Bezirksamt Wilmersdorf herausgegebenen Buch über “Wilmersdorf im Spiegel literarischer Texte” wurde ausführlich aus Büchern von Lion Feuchtwanger, Erich Kästner und vielen anderen über die Zeit des Nationalsozialismus und über die Emigration zitiert. Das wurde damals von manchen Bezirkspolitikern noch heftig kritisiert.
Jahrelang wurde in der BVV über die Rückbenennung oder Umbenennung von Straßen gestritten, deren Namen aus der NS-Zeit nach dem Krieg nicht geändert worden waren.
In dem von Ernst Nolte und Jürgen Habermas 1986 ausgelösten Historikerstreit ging es um die Frage, ob der Nationalsozialismus einzigartig oder mit anderen historischen Verbrechen vergleichbar sei. Im Ergebnis wurde die Einzigartigkeit festgestellt und die Notwendigkeit der Erinnerung in Deutschland postuliert. Oft zitiert wurde seither die jüdische Weisheit “Nur in der Erinnerung liegt die Erlösung.”

5. Aktive Erinnerungskultur seit dem Ende der 1980er Jahre

Die 750-Jahr-Feier Berlin 1987 nahm den sich verändernden Blickwinkel auf und beteiligte die damals 12 West-Berliner Bezirke aktiv an den Feierlichkeiten. Die Berliner Sparkasse stiftete ein Gedenktafelprogramm, das in den Bezirken realisiert werden sollte. Viele der rund 200 in Charlottenburg und Wilmersdorf seither enthüllten Porzellantafeln der KPM erinnern an bedeutende Persönlichkeiten, die nach 1933 aus Deutschland fliehen mussten oder die verfolgt und ermordet wurden. Auch außerhalb des Berliner Gedenktafelprogramms entstanden entsprechende Gedenktafeln. Seither wird an ihren früheren Wohnhäusern erinnert an Walter Benjamin, Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger, George Grosz, Alfred Kerr, Heinrich Mann, Erich Mendelsohn, Franz von Mendelssohn, Carl von Ossietzky, Else Ury, Armin T. Wegner und viele andere. Einige Gedenktafeln erinnern auch an frühere jüdische Organisationen wie den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, den Philo-Verlag oder das Haus der zionistischen Organisationen.
1987 gab das Kunstamt Wilmersdorf das Buch “Berlin Wilmesdorf. Die Juden. Leben und Leiden” heraus. Darin wurde neben Einzelschicksalen auch ein Wilmersdorfer Auszug aus der Liste der “Osttransporte” veröffentlich, das heißt eine nach Straßennamen sortierte Liste der Namen der deportierten Jüdinnen und Juden aus Wilmersdorf. Ein vergleichbares Buch für Charlottenburg erschien erst 2009 unter dem Titel “Juden in Charlottenburg. Ein Gedenkbuch”.
Eine besondere Bedeutung als Gedenkstätte hat der Bahnhof Grunewald, denn hier fuhr am 18. Oktober 1941 der erste Deportationszug aus Berlin ab. Zunächst erinnerte wie bereits erwähnt nur eine kleine Gedenktafel des BVN am Stellwärterhaus des früheren Güterbahnhofs daran.
Dann errichtete 1987 eine Bürgerinitiative auf dem Vorplatz eine kleine Gedenkstätte aus Bahnschwellen. 1991 wurde an der Zugangsstraße das Mahnmal des Berliner Senats enthüllt, und 1998 eröffnete die Deutsche Bahn auf dem ehemaligen Bahnteig das begehbare Mahnmal “Gleis 17”. Hier haben schon viele Staatsgäste aus Israel Kränze niedergelegt, und seit 1988 organisieren jedes Jahr am 9. November Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit der Landespolizeischule und dem Bezirksamt das Gedenken vor Ort, das am Rathenau-Gedenkstein an der Koenigsallee Ecke Erdener Straße beginnt und am Bahnhof Grunewald endet. Für viele Juden ist dies die wichtigste Gedenkstätte in Berlin, denn es ist ein authentischer Ort. Hier wurden die jüdischen Männer, Frauen und Kinder aus Berlin in die Deportationszüge verladen. Von hier aus wurden sie in die Vernichtungslager transportiert und dort ermordet.
1988 wurden zum 50. Jahrestag der Pogromnacht des 9. November 1938 an den Standorten der früheren Synagogen große Gedenktafeln mit Reliefs und informativen Texten angebracht. Seither werden dort vom Bezirksamt jedes Jahr am 9. November Kränze niedergelegt.
1992 gab das Bezirksamt Wilmersdorf das Buch “Kommunalverwaltung unterm Hakenkreuz” heraus und zeigte im Rathaus eine entsprechende Ausstellung. Das Buch wurde von Historikern und Politologen unter der Leitung von Karl-Heinz Metzger erarbeitet. Darin wird zum ersten Mal exemplarisch untersucht, wie eine Kommunalverwaltung unter dem Nationalsozialismus funktionierte. Dabei wurde erschreckend deutlich, dass es keines Drucks von oben bedurfte. Im Gegenteil: Es setzte geradezu ein Wettbewerb ein, wer zuerst und am effektivsten den neuen rassistischen und antisemitischen Ungeist in konkretes Verwaltungshandeln umsetzte. Entsprechende Ideen zur Sonderbehandlung der jüdischen Bevölkerung wurden in nahezu allen Ämtern und Einrichtungen schnell und kreativ entwickelt. Beispiele für Widerstand in der Verwaltung waren kaum zu finden.
Der Film “Schindlers Liste” von Steven Spielberg wurde 1993 zum populären Ausdruck der inzwischen allgemein geteilten Überzeugung von der Notwendigkeit historischer Erinnerung. Nach dem Vorbild der bereits 1963 in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem begonnenen “Allee der Gerechten unter den Völkern” löste Spielbergs Film eine Erinnerung an die stillen Helden aus. Menschen, die verfolgten Juden geholfen haben, sie versteckt haben, werden jetzt auch als Widerstandskämpfer anerkannt. In Charlottenburg-Wilmersdorf erinnern inzwischen einige Gedenktafeln an solche stillen Helden. Eine Reihe von ihnen hat Inge Deutschkron schon 1978 in ihrem Buch “Ich trug den gelben Stern” erwähnt. Jetzt wurden sie mit Gedenktafeln geehrt, darunter Margarethe Sommer und Otto Ostrowski an der Westfälischen Straße 64, Emma und Franz Gumz in der Knesebeckstraße 17 und Klara Grüger in der Droysenstraße 10.
1996 gab das Kunstamt Wilmersdorf ein Buch heraus mit dem Titel “Berlin-Wilmersdorf. Verfolgung und Widerstand 1933-1945”, das auch von Inge Deutschkron inspiriert wurde.
1996 löste das Buch “Hitlers willige Vollstrecker” von Daniel Goldhagen noch einmal eine große Geschichtsdebatte in Deutschland aus. Am Ende wurde Goldhagens Grundthese bestätigt. Sie besagt, dass der Nationalsozialismus nicht das Werk einiger weniger Tyrannen war, sondern dass viele daran mitwirkten, und zwar nicht widerwillig unter Zwang, sondern aus freien Stücken und häufig aus innerer Überzeugung. Rassistische Grundhaltungen und antisemitische Vorurteile waren weit verbreitet und machten aus vielen Deutschen “willige Vollstrecker”. Das Buch von Daniel Goldhagen bestätigte den Eindruck, den die Autorinnen und Autoren des Buches “Kommunalverwaltung unterm Hakenkreuz” gewonnen hatten.
In der Folge wurde die Erinnerung an die Täter wichtiger. Ganze Berufsgruppen wie die Mediziner oder die Juristen, die deutsche Bahn, große Konzerne, Sportverbände und Vereine und staatliche Institutionen ließen ihre Geschichte in der NS-Zeit erforschen.
Die öffentliche Erinnerung an die Täter ist nicht einfach. Schließlich will man ihnen kein Denkmal setzen und nicht womöglich neonazistischen Beifall provozieren.
2002 wurde das von der Berliner Künstlerin Patricia Pisani geschaffene Mahnmal “Denkzeichen zur Erinnerung an die Ermordeten der NS-Militärjustiz am Murellenberg” in Charlottenburg eingeweiht. 106 Verkehrsspiegel wurden entlang des Waldweges von der Glockenturmstraße am Olympiastadion bis in die Nähe des Erschießungsortes hinter der Waldbühne aufgestellt, wo rund 230 Deserteure, Wehrdienstverweigerer und Befehlsverweigerer nach Urteilen des Reichskriegsgerichts erschossen wurden. Auf 16 Spiegeln informieren eingravierte Texte über das Geschehen in der Murellenschlucht. Die übrigen 90 Spiegel sind ohne Text. Die Konfrontation mit der Geschichte soll die Betrachter auch mit sich selbst konfrontieren.
Vor dem ehemaligen Reichskriegsgericht an der Witzlebenstraße erinnert seit 1989 eine Informationstafel an die dort gefällten Urteile.
2004 wurde der Platz am Kurfürstendamm Ecke Joachim-Friedrich-Straße und Johann-Georg-Straße nach Agathe Lasch benannt, der ersten Germanistikprofessorin Deutschlands, die als jüdische Wissenschaftlerin 1942 deportiert und bei Riga ermordet wurde.
Am 9. Mai 2008 haben wir auf dem Agathe-Lasch-Platz eine Infostele enthüllt, die an die Täter und Opfer des “Generalplans Ost” erinnert. Der Text lautet:
“ Am Kurfürstendamm 140-143 befand sich ab 1939 das “Reichskommissariat für die Festigung des deutschen Volkstums”, eines von zwölf SS-Hauptämtern. Hier wurde 1941-1942 der “Generalplan Ost” entwickelt. Der Plan sah vor, fünf Millionen Deutsche im annektierten Polen und im Westen der Sowjetunion anzusiedeln. Die slawische und jüdische Bevölkerung dieser Gebiete sollte unterworfen, vertrieben oder ermordet werden. Damit waren bis zu 50 Millionen Menschen von Vernichtung durch unmenschlich harte Arbeitsbedingungen, durch Verhungern, sowie durch Deportation und Mord bedroht.
Der “Generalplan Ost” wurde im Distrikt Lublin in Polen am weitesten realisiert. Bei der angeordneten “Eindeutschung” der Kreise Zamosc und Lublin wurden ab November 1942 über 100.000 Menschen, darunter 10.000 Kinder von SS-, Polizei- und Wehrmachtseinheiten aus 300 polnischen Dörfern vertrieben und viele von ihnen in Konzentrationslagern ermordet. Der “Generalplan Ost” steht für den verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Politik und die Skrupellosigkeit der Täter. Allein der Verlauf des Krieges hat dem Plan ein Ende gesetzt.”
Dieser ausführliche Text markiert eine gewisse Grenze für das, was im öffentlichen Raum möglich ist. Denn natürlich kann eine Gedenktafel oder eine Infostele nicht die Lektüre eines Buches ersetzen.
Inzwischen hat die BVV Charlottenburg-Wilmersdorf eine Gedenktafelkommission eingesetzt, in der entsprechende Vorschläge beraten werden. Zur Realisierung von Gedenktafeln werden in der Regel Sponsoren gesucht, weil das Bezirksamt nicht über finanzielle Mittel zur Herstellung und Anbringung von Gedenktafeln verfügt.
Zu einer unglaublichen Erfolgsgeschichte wurden die Stolpersteine, die der in Berlin geborene Kölner Künstler Gunter Demnig gestaltet hat. Es sind Gedenksteine, die für Opfer des Nazi-Terrors vor deren früheren Wohnhäusern verlegt werden. Es sind Betonwürfel, die in das Pflaster des Gehsteigs eingemauert werden, mit einer eingelassenen 10×10 cm großen Messingplatte. Darauf sind Name, das Geburtsjahr und Stichwörter zum weiteren Schicksal des Opfers eingraviert. Inzwischen liegen Stolpersteine in mehr als 500 Orten Deutschlands und in etlichen Städten Europas. In Berlin wurden seit 1996 bis jetzt mehr als 4500 Stolpersteine verlegt, davon in Charlottenburg-Wilmersdorf rund 1.800.
Im Gegensatz zu Gedenktafeln erinnern die Stolpersteine nicht an prominente, bedeutende Persönlichkeiten, sondern an Menschen wie Du und Ich, die Opfer wurden, egal welcher Schicht sie angehörten, was sie beruflich taten, ob es Männer, Frauen oder Kinder waren.
Eine Stolpersteine-Initiative kümmert sich in Charlottenburg-Wilmersdorf um dieses Gedenkprojekt, das vom Bezirksamt und vom Senat aktiv unterstützt wird. Für 120 Euro kann jeder Mensch eine Patenschaft für die Herstellung und Verlegung eines Stolpersteins übernehmen. Inzwischen ist aus den Stolpersteinen eine Bürgerbewegung geworden. Sie haben die Erforschung der Geschichte des eigenen Hauses und des Wohnumfeldes angeregt.
Es ist mit ein besonderes Anliegen, dieses zivilgesellschaftliche Engagement hier und heute zu würdigen.
Inzwischen gibt es auch Schul- und andere Patenschaften für Stolpersteine. Die Paten kümmern sich regelmäßig um die Steine, säubern die Messingplatten, beschäftigen sich mit der Geschichte der Opfer und halten nicht selten auch den Kontakt zu ihren Nachkommen aufrecht.
Seit dem 8.5.2011 ist die Giesebrechtstraße die erste Straße in Berlin, in der alle früheren jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden, mit Stolpersteinen geehrt werden. Aus den 22 Häusern der 355 Meter langen Straße wurden von 1941 bis 1943 insgesamt 116 jüdische Männer, Frauen und Kinder in Konzentrationslager verschleppt. Für 84 von ihnen wurden am 8.5.2011, also am Tag der Befreiung, 66 Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur, Stolpersteine gesetzt. 32 Stolpersteine waren bereits früher im Gehweg eingelassen worden.
In der Paul-Hertz-Siedlung liegen keine Stolpersteine. Das ist auch gar nicht anders möglich, denn diese Siedlung entstand erst nach dem Krieg. Hier gab es zur Zeit des Nationalsozialismus noch keine Wohnungen. Das gilt für den größten Teil von Charlottenburg-Nord insgesamt.
Eine Ausnahme sind die in den 1920er Jahren entstandenen Wohnblocks im Charlottenburger Teil der Siemensstadt. Hier liegt ein Stolperstein vor dem Hauseingang Goebelstraße 99. Er erinnert an Charlotte Eisenblätter, die 1907 in Berlin geboren wurde. Sie war Mitglied der Widerstandsgruppe Uhrig, und sie wurde am 25. August 1944 in Plötzensee hingerichtet. Der Stolperstein wurde 2008 im Gehweg eingesetzt.
All dies wird ausführlich auf der bezirklichen Website unter www.charlottenburg-wilmersdorf.de dokumentiert, wo nicht nur alle Stolpersteine mit Bild und Text, sondern vielfach auch erschütternde Lebensgeschichten zu finden sind.
Zur Gedenkkultur im Bezirk gehören inzwischen auch viele Anlässe und Veranstaltungen, bei denen das Nachdenken über die Geschichte ganz selbstverständlich dazu gehört. Etwa bei den seit 2002 regelmäßig einmal im Monat stattfindenden Kiezspaziergängen geht es neben vielen anderen Themen, die am Weg liegen, fast immer auch um die Geschichte des Nationalsozialismus, denn sie ist in Charlottenburg-Wilmersdorf fast überall präsent.
Im Rahmen der 300-Jahr-Feier Charlottenburgs 2005 wurde selbstverständlich die Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus in Veranstaltungen und Publikationen mit einbezogen.
Bei vielen Anlässen, zu denen der Bezirksbürgermeister mit einer Rede gefragt ist, wird die Geschichte des Nationalsozialismus nicht etwa dezent übergangen, sondern im Gegenteil immer dort thematisiert, wo es notwendig und sinnvoll ist.
Und selbstverständlich werden an den entsprechenden Gedenktagen in jedem Jahr an die Geschichte erinnert, sei es mit stillen Kranzniederlegungen oder mit öffentlichen Veranstaltungen und entsprechenden Ansprachen. Das ist natürlich am Holocaust-Gedenktag am 27. Januar der Fall, am Tag des gescheiterten Attentats am 20. Juli, am Tag der Pogromnacht am 9. November und auch in diesem Jahr wieder am 18 Oktober um 12.00 Uhr. 1941 fuhr an diesem Tag der erste Deportationszug vom Bahnhof Grunewald ab.

6. Ausblick

Wie geht es weiter?
Inzwischen leben wieder viele Menschen jüdischen Glaubens in Charlottenburg-Wilmersdorf und bereichern mit ihren Synagogen, ihren Bildungs- und Kultureinrichtungen und mit vielen öffentlichen Veranstaltungen das Leben im Bezirk. Die intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat ermöglicht, dass jüdisches Leben hier wieder eine Zukunft hat. Nicht das Vergessen, sondern erst die gemeinsame Verständigung über die Geschichte macht das Zusammenleben möglich.
Wir sind es den Opfern schuldig, uns zu erinnern, wir brauchen die Erinnerung aber vor allem für uns selbst. Im rassistischen Wahn einer ethnischen Säuberung hat er das Deutschsein beschnitten und reduziert. Er hat große Teile der deutschen Kultur ausgestoßen, indem er den jüdischen Deutschen ihr Deutschsein abgesprochen hat. Diese Trennung haben wir bis heute nicht überwunden. Das gilt für beide Seiten, für die nichtjüdischen Deutschen und für die jüdischen Deutschen. Wenn Charlotte Knobloch im Zusammenhang mit der Beschneidungsdebatte fragt “Wollt Ihr uns noch haben?”, dann spricht sie mit diesem “Ihr” und “uns” genau diese Trennung an, die wir überwinden müssen. Denn natürlich gehören Mendelssohn, Heine und Einstein zur deutschen Kultur und natürlich gehören die heute bei uns lebenden jüdischen Deutschen zu unserer Gemeinschaft, und wir wären ohne sie um vieles ärmer. Sie sind Teil unserer Identität. Um zu verstehen, was das bedeutet, müssen wir unsere Geschichte kennen.
Die Gedenkkultur in Charlottenburg-Wilmersdorf ist nicht beendet. Sie wird sich auch künftig weiter entwickeln. Wir wissen heute nicht, wie sie sich in Zukunft entwickeln wird. Möglicherweise werden neue Formen der Erinnerung gefunden. Möglicherweise werden auch neue Fragestellungen zu einer wiederum gewandelten Einstellung zur Geschichte führen. Aber darin werden unsere bisherigen Erfahrungen aufgehoben sein, und ich bin sicher: Die Erinnerung wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.
Wünschenswert fände ich, einmal darüber nachzudenken, wie wir die Orte des Gedenkens in Charlottenburg-Nord besser als bisher öffentlich sichtbar aufeinander beziehen können.
Schließen möchte ich mit einem kurzen Ausblick auf das nächste Jahr. 80 Jahre nach dem Tag der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 und 75 Jahre nach dem Pogrom des 9. November 1938 soll das Jahr 2013 in Berlin ein Jahr des Gedenkens, der Mahnung, Erinnerung und der aktiven Auseinandersetzung werden. Der Senat bereitet ein Themenjahr unter dem Titel “Zerstörte Vielfalt – Berlin in der Zeit des Nationalsozialismus” vor, und natürlich wird sich auch Charlottenburg-Wilmersdorf daran beteiligen mit entsprechenden Kiezspaziergängen, mit Ausstellungen, mit vielen weiteren Stolpersteinen und mit Gedenkveranstaltungen.
Ich hoffe auf und wünsche mir auch in diesem Rahmen das Engagement des Ökumenischen Gedenkzentrums Plötzensee, Ihr ganz persönliches Mitwirken.
Ich bedanke mich für die die Einladung. Mögen diese Plötzenseer Gespräche zu einer gemeinsamen, vertieften Zusammenarbeit und Kooperation von Gedenkzentrum und Rathaus führen. Ich bin dazu gerne bereit.