Kritischer Journalismus ist glaubwürdiger, wenn man nicht auf einem Auge blind ist

Jürgen Engert in den 1980er Jahren als KONTRASTE-Moderator. Aus "Kontrastreiche Zeiten", gesendet am 24.1.2008 im rbb

Jürgen Engert in den 1980er Jahren als KONTRASTE-Moderator. Aus "Kontrastreiche Zeiten", gesendet am 24.1.2008 im rbb

Nachruf auf Jürgen Engert

Er war ein ausgewiesener Kenner der DDR, ein kritischer Beobachter der Ost-West-Politik und er prägte die politische Berichterstattung im Fernsehen: Der Journalist Jürgen Engert ist am 22. August 2021 im Alter von 85 Jahren gestorben. Seine Beiträge rund um die Friedliche Revolution in der DDR, um Mauerfall und Wiedervereinigung, bleiben unvergessen.

Ein Gastbeitrag von Peter Wensierski

Als ich ihn 1986 kennenlernte, war Jürgen Engert das Gesicht der ARD-Sendung KONTRASTE. Er moderierte aber nicht nur die Sendung und gab ihr das Gesicht, er war zugleich jene journalistische Instanz, die dafür sorgte, dass KONTRASTE ein ganz besonderes politisches Magazin der ARD wurde. Denn seine Sendung nahm ganz Deutschland in den Blick, kritisch Richtung West und Ost.

Die DDR kannte der gebürtige Dresdner immerhin aus eigener Erfahrung: Weil er nicht studieren durfte, hatte er sie noch vor dem Mauerbau gen Westen verlassen – aber anders als viele andere seine „Landsleute“, wie er sie nannte, nicht vergessen.

Denn die Entwicklungen in der DDR lagen ihm am Herzen, und er wusste, dass es damals noch Millionen Fernsehzuschauer in Ost und West gab: Eine große Chance, aber auch eine große Verantwortung. Einfach antikommunistisch auf die DDR draufzuhauen war nicht seins, genau so wenig wie im Zuge der Entspannungspolitik über die wahren Verhältnisse dort hinwegzusehen.

Engert fragte vielmehr nach den Auswirkungen des Systems und der Politik auf die Menschen in der DDR. Wie es ihnen dadurch erging, das war sein Thema. Schließlich konnte er seine Eltern in Dresden lange Zeit privat besuchen und wusste so um die Lage vor Ort Bescheid. Er moderierte manchmal witzig, manchmal scharf, immer pointiert und volksnah.

Jürgen Engert moderierte die ARD-Sendung KONTRASTE

Jürgen Engert moderiert die ARD-Sendung KONTRASTE

Meine erste Begegnung mit ihm ist mir unvergesslich. Kaum hatte man die Tür zu seinem Büro geöffnet, unterstand man seiner eigenwilligen, ja, preußischen Autorität, dazu brauchte es nicht die Preußenfahne, die in einer Ecke stand. Klare Ansage, würde man heute sagen, war sein Stil. „Warum wollen Sie denn zu KONTRASTE“, wollte er ohne Umschweife wissen. Und er erwartete keine geschwurbelte Antwort.

Er konnte auf der Stelle das Gefühl einer Prüfung vermitteln – auch später immer wieder, bei der Abnahme unserer Filmbeiträge. Er war schließlich auch Chefredakteur und sah sich unsere Werke vor der Sendung konzentriert bis zu Ende an. Ging sein Daumen rauf oder runter? Während der Vorführung konnte man nicht einmal an der Art, wie er an seiner Pfeife zog, erkennen, was er am Ende wohl sagen würde. Er ließ warten, klopfte die Pfeife erst einmal gründlich aus und hob dann erst an. Meist traf er mit seinen Anmerkungen und Fragen ins Schwarze. Darum schätzte ich ihn, wenn auch immer klar war, dass er zu einer anderen Generation gehörte.

„Kritischer Journalismus ist glaubwürdiger, wenn man nicht auf einem Auge blind ist“

Unsere Schnittmenge war nicht seine Live-Reportage über die Umbettung des Preußenkönigs. Unsere Schnittmenge war die kritische Berichterstattung über die DDR bei gleichzeitig kritischer Berichterstattung über die Bundesrepublik: ob Neonazis in beiden deutschen Staaten, ob Luftverschmutzung oder Waldsterben. „Kritischer Journalismus ist glaubwürdiger, wenn man nicht auf einem Auge blind ist“, hat er mir mal gesagt.

Die Umweltbibliothek in Ost-Berlin

Die Umweltbibliothek in Ost-Berlin

Da die DDR uns von KONTRASTE nicht ins Land ließ, machten vor allem junge Aktivisten aus dem Ost-Berliner Oppositionszentrum „Umweltbibliothek“ nahe der Zionskirche ab 1987 heimliche Videos über die Dinge, die die DDR verheimlichen wollte: die strahlenden Urangruben und Abraumhalden im Süden des Landes, die verseuchte Mondlandschaft um Bitterfeld oder die zu Ruinen verfallenden Straßenzüge vieler Innenstädte.

Rückendeckung für heimliche Filmaufnahmen

Die Filme gaben der Opposition ein Gesicht durch ungenehmigte Interviews, etwa mit Aufrufen, die Wahlen zu kontrollieren. In der DDR aufgewachsene Neonazis sprachen über ihre Gesinnung. Niemand sonst im deutschen Fernsehen traute sich, derartiges Material aus der DDR zu senden. Jürgen Engert verteidigte unsere Praxis vor ängstlicheren Gemütern, selbst, als die DDR beim ARD-Vorsitzenden und der Bundesregierung dagegen protestierte, ein Ende verlangte und damit drohte, das ARD-Büro in Ost-Berlin zu schließen.

Druckmaschine der Umwelt-Bibliothek

Druckmaschine der Umwelt-Bibliothek

So konnten am 9. Oktober 1989 die vielleicht wichtigsten Aufnahmen in Leipzig entstehen : Mit den Bildern der Demonstration von über 100.000 Menschen, die der Friedlichen Revolution den Durchbruch in der DDR verschafften. Heimlich und mutig von Siegbert Schefke und Aram Radomski von einem Kirchturm herab gefilmt, gelangte die Kassette über den SPIEGEL-Mann Ulrich Schwarz zu uns in den Sender und die beeindruckenden Bilder der Leipziger Demonstranten konnten so weltweit verbreitet werden. Es waren viele daran beteiligt, aber ohne Jürgen Engert, der mir und anderen in der Redaktion den nötigen Freiraum bei der Arbeit ließ, hätte all das nicht stattfinden können.

Manchmal musste man auch mit ihm kämpfen, das kennen wohl alle Journalisten von ihren Chefredakteuren. Engert war wenig taktierend, mit Kritik geradeheraus. Damit macht man sich nicht nur Freunde. Man wusste aber, woran man mit ihm war. Und er war professionell genug, auch wenn es Stress gab: Selbst wenn die Sendung bereits angefangen hatte und ein aktueller Beitrag noch gar nicht fertig, sondern noch im Schnitt, passte er die Moderation einfach souverän an. Die schrieb er übrigens noch ganz old-school-mäßig: Auf einem Steno-Block mit der Hand oder er diktierte sie auf Kassette.

Großer Respekt für DDR-Oppositionelle

Nach dem Fall der Mauer wurde er Gründungsdirektor des ARD-Hauptstadtstudios. Engert wollte stets aufklären und Demokratie fördern, sein Herz schlug für KONTRASTE, vielleicht auch noch für aktuelle Brennpunkte und Sondersendungen.

Uns verband sein großer Respekt vor den Oppositionellen in der DDR, seine Achtung auch der Ausreiseantragsteller. Selbst eine inoffizielle Mitarbeiterin, die ihre Freundinnen, darunter Bärbel Bohley und Ulrike Poppe, verraten hatte, imponierte ihm mit ihrem Geständnis und dem Versuch, ihr Handeln zu erklären.

Jürgen Engert im TV-Sender Phoenix

Jürgen Engert am 5.2.18 im TV-Sender Phoenix

Für einen neuen Film über diese Frau, Monika Haeger, hatte ich Engert vor einiger Zeit getroffen. Er kommentierte mir gegenüber wieder einmal analytisch und treffend die Wichtigkeit von Aufarbeitung: „Verrat im 20. Jahrhundert – das ist die Lektion. Und dieser Verrat, Leute zu benutzen zum Zwecke der Machtsicherung, ist ein dauerndes Problem, mit dem wir es in jeder Gesellschaft zu tun haben – auch in demokratischen.“

Über den Autor:

Peter Wensierski ist Autor, Journalist und Dokumentarfilmer. Er arbeitete unter anderem für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel und das ARD-Politmagazin KONTRASTE. Für den evangelischen Pressedienst war er als jüngster westlicher Reisekorrespondent in der DDR tätig. Die DDR-Regierung belegte ihn 1985 mit einem Arbeits- und Einreiseverbot.

Während seiner Korrespondententätigkeit in der DDR veröffentlichte Wensierski zahlreiche Reportagen, Bücher und Dokumentarfilme u. a. über die Oppositionsbewegung in den Kirchen, bei der Jugend und in Künstler- und Intellektuellenkreisen.

Wensierski publizierte zahlreiche Bücher zu Aspekten der DDR-Gesellschaft und der Friedlichen Revolution. 2018 erschien „Berlin – Stadt der Revolte“ (mit Michael Sontheimer).