Gegenwart sammeln

aktuell im Interview mit dem Redaktionsteam von „Berlin jetzt!“

Wie hat sich der Alltag der Berlinerinnen und Berliner im Zuge der Corona-Pandemie verändert? Welche Gegenstände haben eine neue Bedeutung gewonnen? Und was sind die Bilder, die in Erinnerung bleiben? Mit dem Projekt „Berlin Jetzt!“ hat das Stadtmuseum die Berlinerinnen und Berliner dazu aufgerufen, die Gegenwart zu sammeln.

Selbst gebaute Türklinken aus antimikrobiell wirkendem Kupfer zum Schutz vor Corona-Infektionen

Selbst gebaute Türklinken aus antimikrobiell wirkendem Kupfer zum Schutz vor Corona-Infektionen

1. Wie hat Corona Berlin verändert?

Wie Corona Berlin mittel- und langfristig verändert, das können wir heute noch nicht sagen. Als Stadtmuseum Berlin ist es unsere Aufgabe, Zeugnisse und Dokumente dieser Zeit zu sammeln, die wir später auswerten und mit deren Hilfe wir erzählen können, wie sich die Stadt verändert hat – oder auch nicht.

2. Was ist „Berlin jetzt!“?

„Berlin jetzt!“ ist die Online-Sammlung des Stadtmuseums Berlin, in der wir Fotografien und Geschichten von Berlinerinnen und Berlinern zur Gegenwart in der Stadt sammeln. Die wachsende Sammlung ist unter https://sammlung-online.stadtmuseum.de für alle sichtbar. Wir wollten herausfinden, was Berlinerinnen und Berliner aktuell bewegt, und während der Schließzeit unserer Museen weiterhin im Kontakt bleiben mit unserem Publikum – zumindest digital.

Brandenburger Tor und menschenleerer Pariser Platz – „Auf einer unserer Corona-Radtouren durch die Stadt waren wir fasziniert vom touristenfreien Brandenburger Tor.“

3. Was schicken die Berlinerinnen und Berliner ein?

Wir haben sie gefragt, wie sich ihr Alltag durch Corona verändert hat. Welche Erfahrungen haben sie in dieser Krise gemacht? Welche Gegenstände haben für sie eine neue Bedeutung erhalten? Wie erfahren unterschiedliche Gruppen in der Stadt die Situation? Wir haben sie gebeten, uns mit den Fotografien auch die dazugehörigen persönlichen Geschichten zu schicken.

Die Geschichten und Bilder zeigen uns, wie die Menschen die Isolation überwinden und Wege finden, miteinander zu kommunizieren – zum Beispiel mit Hof-Konzerten oder einem selbst gebastelten Balkon-Lift für die kontaktlose Überbringung von kleinen Geschenken zwischen Freunden.

Viele Einsenderinnen und Einsender waren von der großen Leere in der Stadt beeindruckt und haben diesen so noch nie erlebten Anblick fotografisch festgehalten. (Foto von Claudia aus Schöneberg: Das Brandenburger Tor und der menschenleere Pariser Platz – „Auf einer unserer Corona-Radtouren durch die Stadt waren wir fasziniert vom touristenfreien Brandenburger Tor.“) Ebenso viele Beiträge gibt es zu den Hygieneregeln im öffentlichen Raum. Aber es wurden uns auch sehr private Blicke in das Wohnen der Berlinerinnen und Berliner gewährt. Eine der ersten Einsenderinnen hat ihre Freunde und Bekannten motiviert, ihre Corona-Lieblingsplätze zu fotografieren, also jene Orte, an denen sie nachdenken, lesen, schreiben, telefonieren oder kreativ sein können, um die Zeit der Isolation und Einsamkeit zu überstehen.

Eine Berliner Lasercutter-Firma stellt den optischen Gewinner der Krise her. Nachdem dem Inhaber Martin Bauer von einem auf den anderen Tag alle Aufträge wegbrachen, entwickelte der studierte Designer mit seinem Netzwerk ein Faceshield aus PET-Folie. Großer Vorteil dieser Maske ist, dass der Mund sichtbar bleibt und so auch Menschen mit Hörschädigung ermöglicht wird Lippen zu lesen. Nach drei Monaten wurde die Produktion eingestellt, da Faceshields wieder billiger aus China zu bekommen waren.

Viele Berlinerinnen und Berliner haben sich kreativ mit der Situation auseinandergesetzt und Lösungsvorschläge entwickelt: Ein Designer entwickelte während des Lockdowns die „Berliner Schnauze“, einen Gesichtsschutz aus durchsichtiger PET-Folie, der es Menschen mit Hörschädigung ermöglicht, Lippen zu lesen. Ein Tüftler hat aus Kupferrohren eine Türklinke gebaut, die mit der antiviralen Wirkung dieses Metalls helfen könnte, die Ausbreitung von Corona besonders in Krankenhäusern einzudämmen.

Etliche Berliner Künstlerinnen und Künstler haben ihre Eindrücke und Gedanken in Grafiken, literarischen Texten, Comics, Künstlerbüchern und Filmen verarbeitet. So auch das Maskenkleid einer Berliner Modedesignerin, die aufgrund des hohen Bedarfs an Gesichtsmasken ihre Produktion zeitweise darauf umgestellt hatte. Als Ausgleich zu der eintönigen Masken-Produktion hat sie ein Haute-Couture-Kleid aus Masken entworfen. (Foto: Nachdem Martin Bauer von einem auf den anderen Tag alle Aufträge wegbrachen, entwickelte der studierte Designer mit seinem Netzwerk ein Faceshield aus PET-Folie. Großer Vorteil dieser Maske ist, dass der Mund sichtbar bleibt und so auch Menschen mit Hörschädigung ermöglicht wird Lippen zu lesen. Nach drei Monaten wurde die Produktion eingestellt, da Faceshields wieder billiger aus China zu bekommen waren.)

4. Je nach Lebenssituation hat Corona für die Menschen sehr unterschiedliche Auswirkungen, teilweise kuriose, teilweise dramatische. Wie bildet sich das ab?

Wir haben auch Zeugnisse von dramatischen Situationen erhalten, zum Beispiel die Erlebnisse eines Hamburgers, der in Berlin ohne Unterkunft strandete und uns seine Erlebnisse und Gefühle während einer angstvollen Nacht im Berliner Tiergarten schilderte. Eine Einsenderin hat uns ein Foto eines lang gewünschten Kuscheltiers geschickt, das sie sich von ihrem letzten richtigen Gehalt vor der Corona-bedingten Kündigung gekauft hat und das ihr Trost spendet.

Eine kuriose Erfahrung fängt die Fotografie des Schaufensters einer Berliner Buchhandlung im Mai dieses Jahres ein: Kurz vor der Urlaubszeit zeigt es Reiseführer für Neuseeland und den Spreewald – ersterer mit dem Zettel „Traum“, letzterer mit „Wirklichkeit“ – typisch Berliner Humor.

Natürlich zeigt die „Berlin jetzt!“-Plattform nur einen kleinen Ausschnitt der Herausforderungen und Lösungsansätze, mit denen die Berlinerinnen und Berliner in einer noch nie erlebten Situation umgehen.

Ein Künstlerkommentar zu Hamsterkäufen von Toilettenpapier

Ein Künstlerkommentar zu Hamsterkäufen von Toilettenpapier

5. Merken Sie Veränderungen im Zeitverlauf? Leere Klopapier-Regale waren ja nur ein vorübergehendes Phänomen …

Ja, Sie haben natürlich recht, wir sehen Veränderungen im Zeitverlauf. Im Mai hatten wir noch viele „Klopapier“-Einsendungen. Da waren auch sehr lustige Beiträge dabei. Dann wurden die verschiedenen Schließungen, etwa von Kitas, Spielplätzen, Kaufhäusern thematisiert. Etliche Beiträge betreffen die Sorge der Menschen um ihre wirtschaftliche Existenz, aber auch Beispiele für die große Welle der Solidarisierung, beispielsweise mit dem Hinweis auf Hilfsdienste für Risikogruppen und Geflüchtete sowie spontane Unterstützung für Wohnungslose durch „Gabenzäune“. Inzwischen werden uns viele Fotos zu Plakatierungen der Stadt zugesendet. Maskenbilder ziehen sich durch den gesamten Verlauf von April bis heute (August 2020).

6. Wie entscheiden Sie, was es wert ist, aufbewahrt zu werden?

Wir wollten in der ersten Zeit der Isolation und Ungewissheit eine Plattform für die Berlinerinnen und Berliner sein, auf der sie ihre Gedanken teilen können. Wir haben uns bewusst entschieden, zunächst ausschließlich digital zu sammeln und die Beiträge in der Online-Sammlung des Stadtmuseums zu veröffentlichen. Welche Gegenstände wir tatsächlich in die Sammlung aufnehmen, entscheiden wir zu einem späteren Zeitpunkt. Es werden einige wenige Objekte sein, die exemplarisch für diese Zeit stehen, eine besondere Geschichte erzählen und eine bestimmte Aussage über die Zeit erlauben.

„Drei, vier Jahre lang habe ich mir Wilpur gewünscht, aber da er sehr teuer ist, habe ich den Kauf immer wieder verschoben. Als mein Chef mir Ende April wegen Corona die Kündigung in die Hand drückte, wusste ich: Jetzt gönne ich mir von meinem letzten richtigen Gehalt etwas Besonderes. Er hat eine beruhigende Wirkung auf mich und hilft mir über die schwere Zeit hinweg.“

7. Berlin hat in seiner Geschichte etliche Krisen erlebt. Gab es das schon einmal – Aufrufe, die Gegenwart zu sammeln?

Das Märkische Provinzialmuseum, die Vorgängerinstitution des Stadtmuseums Berlin, war 1874 als Museum für die Bürgerinnen und Bürger angetreten. Es war das erste vom Königshaus unabhängige Museum Berlins. Es gab sehr früh einen Förderverein, und viele Sammlungsstücke kamen als Schenkung von Berlinerinnen und Berlinern an „ihr Museum“. Sammelaufrufe wurden schon in der Vergangenheit gestartet; ein besonders großer Aufruf zur Gegenwart war tatsächlich 1989/90, als sich die Lebensumstände für die Berlinerinnen und Berliner besonders stark veränderten.

In der Ausstellung BİZİM BERLİN 89/90 sind wir der Geschichte der Westberliner Türkinnen und Türken nachgegangen und haben während der Laufzeit dazu aufgerufen, Objekte einzusenden, die sofort in der Ausstellung präsentiert wurden. Der heutige Sammelaufruf für „Berlin jetzt!“ ist der erste digitale Aufruf, mit dem wir uns der Gegenwart zuwenden. (Foto von Maren Hager: „Drei, vier Jahre lang habe ich mir Wilpur gewünscht, aber da er sehr teuer ist, habe ich den Kauf immer wieder verschoben. Als mein Chef mir Ende April wegen Corona die Kündigung in die Hand drückte, wusste ich: Jetzt gönne ich mir von meinem letzten richtigen Gehalt etwas Besonderes. Er hat eine beruhigende Wirkung auf mich und hilft mir über die schwere Zeit hinweg.“)

8. Das Projekt soll auch nach Ende der Corona-Pandemie weitergeführt werden. Was versprechen Sie sich davon?

Wir wollen den Prozess der Öffnung unseres Museums in die Stadtgesellschaft weiterführen und in den Dialog zum Sammeln der Gegenwart treten. Wir streben an, dass künftig diverse Communities am Prozess des Sammelns teilhaben und an der Verständigung darüber, was im Stadtmuseum für die Zukunft aufbewahrt und welche Geschichten erzählt werden. Dabei geht es uns insbesondere um die Einbeziehung von Menschen und Gruppen, die bisher kaum in den Sammlungen repräsentiert sind. Dafür ist der Start von „Berlin jetzt!“ in der Corona-Zeit ein schöner Beginn, ein Experiment, das uns nicht nur lebendige Schilderungen dieser besonderen Zeit, sondern auch Impulse für diesen Wandel gibt. Wir danken allen Einsenderinnen und Einsendern, dass sie uns dabei helfen!

Weitere Informationen: www.stadtmuseum.de/berlin-jetzt