"Das Unmögliche wurde möglich"

Am 1. November 2017 übernahm das Land Berlin turnusgemäß für ein Jahr den Vorsitz des Bundesrates. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller über die deutsche Einheit, Zukunft und die Chancen der Zuwanderung.

das Interview führte Friedemann Walther

Michael Müller, Regierender Bürgermeister von Berlin

Michael Müller, Regierender Bürgermeister von Berlin

Herr Müller, was war das größte Glück in ihrem politischen leben?
Für mich als Berliner gibt es darauf nur eine Antwort: die friedliche Revolution und der Fall der Mauer am 9. November 1989. Das war das prägende Erlebnis meiner Generation – diese Begeisterung, der Aufbruch, das überwältigende Gefühl der Freiheit. 28 Jahre lang teilten Mauer und Stacheldraht unsere Stadt. Kaum jemand glaubte damals daran, selbst einmal die Einheit zu erleben. Mit einem Mal wurde das Unmögliche möglich. Diese Erinnerung bleibt. Und sie beflügelt uns bis heute.
Ist es nicht pure Nostalgie, auch heute – knapp drei Jahrzehnte nach diesem historischen Umbruch – immer noch die Einheit zu feiern?
Wenn es nur eine rückwärtsgewandte Feier wäre, würde ich Ihnen recht geben. Aber das ist es nicht.
Was setzen sie denn dagegen?
Wir erinnern daran, dass es die deutsche Einheit nur gab, weil viele Menschen in Mittel- und Osteuropa den Mut hatten, sich gemeinsam gegen ihre Regime aufzulehnen und sich für die Freiheit zu engagieren. So gelang es, eine Diktatur nach der anderen zu überwinden, von Ungarn über Polen und die Tschechoslowakei bis hin zur DDR. Und: Wir verdanken die Einheit maßgeblich auch der Unterstützung unserer internationalen Partner. In beiden Aspekten steckt eine sehr aktuelle und wichtige Botschaft …
… und die lautet?
Freiheit und Demokratie werden einem nicht geschenkt. Man muss sich engagieren, gemeinsam dafür kämpfen. Und wenn ich da an Europa denke – Fortschritte erreicht man nicht im nationalen Alleingang. Zusammenarbeit zahlt sich aus. Diese Botschaft ist mir gerade in diesen Zeiten sehr wichtig, in denen nationalistische Bewegungen versuchen, Europa zu spalten.

bq. Ich glaube fest daran, dass wir eine gute Zukunft erreichen, wenn wir sie gemeinsam gestalten.

Staffelstabübergabe von Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz

Staffelstabübergabe von Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz

Ist es das, was Sie auch mit dem Motto des Tags der Deutschen Einheit 2018 in Berlin meinen – „Nur mit Euch”?
Ich glaube, dass wir Zuversicht vermitteln können und müssen. Wenn wir als innovatives Land zusammenhalten, alle gesellschaftlichen Kräfte bündeln und international kooperieren, können wir nach der Überwindung der Ost-West-Spaltung auch die Spaltungen unserer Zeit und die Herausforderungen der Zukunft meistern. Es ist an der Zeit, dass wir all denen, die unsere Gesellschaft auseinandertreiben wollen, ein neues Wir entgegensetzen – ein Wir, das alle umfasst: diejenigen, die schon lange hier leben, und diejenigen, die erst vor Kurzem zugewandert sind.
Sie sprechen von „Spaltungen unserer Zeit“. Woran denken sie dabei?
Sehen Sie, Deutschlands Wirtschaft wächst, sie ist innovativ und exportstark. Digitalisierung bringt vielen Menschen Erleichterungen im Alltag – zum Beispiel mit schneller Kommunikation, Lieferdiensten, Leihautos oder Gesundheits-Apps. Gleichzeitig machen sich auch hoch qualifizierte Facharbeiterinnen und Facharbeiter große Sorgen. Viele befürchten, dass ihre Arbeitsplätze im internationalen Wettbewerb verloren gehen oder durch Maschinen immer mehr ersetzt werden. „Nur mit Euch“ heißt deshalb auch: Wir wollen nicht hinnehmen, dass Menschen überflüssig werden. Wir müssen nach Wegen suchen, um die Globalisierung und den digitalen Wandel gerecht und human zu gestalten.
Was macht Sie zuversichtlich, dass das gelingen wird?
Unsere Gesellschaft steckt voller Know-how. Entscheidend wird aber sein, dass wir unsere Kräfte bündeln und auf diese große Aufgabe ausrichten.
Und was kann Berlin dazu beitragen?
Mit unserer einzigartigen Wissenschafts- und Forschungslandschaft als „Brain City“ und einer breiten Expertise im Bereich der Digitalisierung will ich dieses wichtige Thema in den Mittelpunkt meiner Bundesratspräsidentschaft stellen.
Was heißt denn dann „Nur mit Euch“?
Damit sind die vielen Start-ups und unsere Hochschulen sowie Institute im Wissenschafts- und Forschungsbereich gemeint. Damit sind unsere innovativen Industrieunternehmen gemeint, die sich mitten im digitalen Wandel befinden. Damit sind die Gewerkschaften und Betriebsräte gemeint, die eine Menge Erfahrung in der Gestaltung des Wandels der Arbeitswelt haben. Damit sind Kirchen, Sozialverbände und die Aktiven der Zivilgesellschaft mit ihrem Engagement gemeint. „Nur mit Euch“ meint: Sie alle werden gebraucht, um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen und sie sozial gerecht zu gestalten.
Plenarsitzung im Bundesrat

Plenarsitzung im Bundesrat

Was haben Sie vor im Jahr der Berliner Bundesratspräsidentschaft?
Ich möchte einen gesamtgesellschaftlichen Dialog anstoßen, in den sich alle einbringen, denen die Zukunft unseres Landes als erfolgreiches Industrieland am Herzen liegt. Und denen dabei bewusst ist: Der Erfolg bemisst sich nicht allein an der kurzfristigen Kapitalrendite, sondern daran, ob wir auch in Zukunft ein Land sind, das es versteht, Wissen und Know-how in neue Arbeit umzumünzen. Ob wir weltoffen und attraktiv für kreative und kluge Köpfe aus aller Welt sind. Und ob wir auch in Zukunft ein sozial gerechtes Land sind, in dem es gute Arbeit gibt und in dem wir verantwortungsvoll mit Klima und Umwelt umgehen. „Nur mit Euch“ heißt: Wir brauchen alle, die ihren Beitrag zu einer Gesellschaft leisten können, die Lebensqualität und sozialen Zusammenhalt verspricht – einschließlich der vielen Engagierten aus der Zivilgesellschaft mit ihren Ideen und ihrer Tatkraft.
Was kann Berlin von anderen lernen?
Sehr viel! Gerade auch in den ländlichen Regionen zwischen Ostsee und Schwarzwald gibt es viele Menschen, die mit tollen Ideen und einer Menge Tatkraft den Herausforderungen begegnen. Alle 16 Bundesländer haben ihre Stärken, über die wir uns mehr als bisher austauschen sollten. Die Vielfalt Europas ist eine enorme Chance. Bei allen großen Themen, die unsere Gesellschaften herausfordern – von der Digitalisierung bis zur Zuwanderung – sollten wir mehr voneinander lernen.
Welche Impulse kann nur Berlin setzen?
Berlin bringt die besondere Erfahrung einer Metropole mit, die nach ihrer jahrzehntelangen Teilung ihre innere Spaltung überwunden und eine neue wirtschaftliche Stärke entwickelt hat. Berlin ist die Hauptstadt der Start-ups und Kompetenzzentrum für das Thema Digitalisierung. Vor Kurzem wurde das Digitale Leistungszentrum der Fraunhofer-Gesellschaft in Berlin eröffnet. Wir haben gerade das Einstein-Zentrum „Digitale Zukunft“ gegründet. Über 60 neue, zusätzliche IT-Professuren werden in Berlin eingerichtet. Das Deutsche Internet-Institut wird in Berlin aufgebaut. Diese geballte Kompetenz wollen wir in die gesellschaftliche Debatte über die Zukunft der Industrie und der Arbeitswelt im 21. Jahrhundert einbringen – in Deutschland, Europa und darüber hinaus auch im Dialog mit den Metropolen der Welt. Und vergessen wir nicht: Berlin gilt weltweit als die Stadt der Weltoffenheit und Freiheit. In einem Klima der Toleranz und des gegenseitigen Respekts entstehen neue Ideen. Das ist in unserer globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts von unschätzbarem Wert.
Nicht jeder fühlt sich in dieser globalisierten Welt noch zu Hause.
Ja, auch darauf müssen wir Antworten finden und berechtigte Sorgen ernst nehmen, wenn wir nicht den Populistinnen und Populisten das Feld überlassen wollen. Früher war nicht alles besser, aber viele Menschen, die hart arbeiten und ehrlich Steuern zahlen, haben das Gefühl, dass sie abgehängt und nicht mehr gehört werden oder dass nur noch die Interessen von internationalen Konzernen zählen. Das rührt am Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen.
Michael Müller in seinem Amtszimmer im Roten Rathaus

Michael Müller in seinem Amtszimmer im Roten Rathaus

Geht es nicht auch um ein Unbehagen an der Zuwanderung?
Ja, das treibt viele Menschen um. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Aber ich bin dagegen, denen nach dem Mund zu reden, die besorgt tun, aber in Wirklichkeit nur die Gesellschaft spalten wollen. Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft. Generationen von Zuwanderinnen und Zuwanderern prägen und bereichern unser Land. Und in unserer Welt des 21. Jahrhunderts wird das auch künftig so sein. Die Frage ist doch: Wie organisieren wir Integration so, dass uns als Gesellschaft ein gutes Zusammenleben gelingt? Natürlich sind mit der Zuwanderung auch Herausforderungen verbunden, etwa beim Thema Integration. Als Einwanderungsmetropole haben wir aber über Jahrzehnte Erfahrungen und Know-how gesammelt. Darauf können wir aufbauen. Und ich möchte in diesem Jahr der Berliner Bundesratspräsidentschaft herzlich dazu einladen, miteinander ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen und voneinander zu lernen, um Integration erfolgreich zu gestalten und ein respektvolles Zusammenleben zu ermöglichen.
Das sehen nicht alle so. Wie begegnet Berlin dem wachsenden Nationalismus?
Zuallererst durch das ehrliche Erinnern: Ich glaube, wer mit offenen Augen durch Berlin geht, dem wird bei all den sichtbaren Spuren der Geschichte sehr schnell bewusst, dass Nationalismus in die Irre geführt und schreckliche Katastrophen verursacht hat.
Aber genügt gut 70 Jahre nach Kriegsende noch der Verweis auf die Verbrechen der Nazis?
Keineswegs! Es stimmt ja, viele Menschen fremdeln mit der Globalisierung. Aber trotzdem: Nationalismus bietet keine Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. Der Klimawandel, der Wandel der Arbeitswelt – sie machen nicht Halt an nationalen Grenzen. Globale Herausforderungen verlangen nach globalen Antworten. Dazu wollen wir Anstöße geben.
Also noch mehr Globalisierung?
Wir brauchen beides, globale Lösungen und – wie gesagt – eine Stärkung der Städte und Gemeinden. Wenn wir uns in der Welt umsehen, erkennen wir: Kommunen mit einer intakten Infrastruktur, mit guten, verlässlichen und für alle zugänglichen öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung sind attraktive und lebenswerte Orte. Unsere Kommunen haben über viele Jahre hinweg ihre Verwaltungen abgebaut oder auf Verschleiß gefahren. Da mischte sich notwendiges Sparen in Zeiten knapper Kassen mit einer Ideologie des Staatsabbaus.
Was setzen Sie dagegen?
Ich werbe dafür, dass wir unsere Städte und Gemeinden im ganzen Land wieder als lebenswerte Heimat und als Orte einer lebendigen Kultur und Demokratie entdecken. Gerade jetzt ist es an der Zeit, wieder mehr zu investieren – in Schulen und Kitas, aber auch in bezahlbare Wohnungen, einen leistungsfähigen öffentlichen Nahverkehr und in eine gute Verwaltung. Wir müssen unsere Städte lebenswert gestalten, den sozialen Zusammenhalt fördern und die Demokratie beleben, indem wir neue Möglichkeiten der Beteiligung, unabhängig von Wahlen und Volksentscheiden, schaffen. „Nur mit Euch“ ist daher auch ein Appell an die Bürgerinnen und Bürger, sich aktiv einzubringen. Ich glaube fest daran, dass wir eine gute Zukunft erreichen, wenn wir sie gemeinsam gestalten.