Unvergessene Retter

Die Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem zeichnete in Berlin Hans Feyerabend, Ida Jauch und Maria Schönebeck als „Gerechte unter den Völkern“ aus.

von Dr. Frank Ebbinghaus, Senatskanzlei

Der Regierende Bürgermeister von Berlin Michael Müller, Ursula Ahlström und der israelische Botschafter Yakov Hadas-Handelsman bei der Ehrung im Berliner Rathaus

Zum idyllisch an der Bernsteinküste gelegenen Ort Palmnicken gelangt man von Berlin aus in nordöstlicher Richtung quer durch Polen. Danzig wird südlich umfahren, Kaliningrad passiert, um dann in einem nordwestlichen Bogen zur Ostsee zu schwenken, direkt nach Jantarny, wie das in der russischen Enklave Oblast Kaliningrad gelegene Palmnicken heute heißt. Hier herrschte im Mittelalter der Deutsche Orden, dann mit einigen Unterbrechungen die Preußen, bis der Flecken nach 1945 an die Sowjetunion fiel. Aus westlicher Sicht ein vergessener Ort, wie so viele andere in den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten im Osten, im Gedächtnis geblieben allenfalls durch die Flüchtlingstrecks, die im letzten Kriegswinter vor der heranrollenden Roten Armee durch diese Landschaft flohen.

Lange vergessen schienen auch die dramatischen Ereignisse, die sich in den Wirren der letzten Kriegswochen in Palmnicken zutrugen und die 70 Jahre später, am 25. November 2015, zu einer bewegenden Feierstunde im Berliner Rathaus führten. Die Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem (Jerusalem) ehrte in Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller, und des israelischen Botschafters, Yakov Hadas-Handelsman, den damaligen Güterdirektor von Palmnicken, Hans Feyerabend, als „Gerechten unter den Völkern“. Die Yad-Vashem-Medaille nahm Feyerabends Enkelin, Ursula Ahlström, entgegen. Hans Feyerabend selbst hatte seine Rettungsinitiative nicht überlebt. Was war damals geschehen?

Im Januar 1945 hatte die SS Außenlager des KZs Stutthof aufgelöst und die jüdischen Häftlinge, zumeist Frauen, auf einen Todesmarsch nach Palmnicken gezwungen. Dort sollten sie in den Bernstein-Bergwerken ermordet werden. Als der Zug an seinem Bestimmungsort ankam, waren bereits rund 2.000 der 5.000 Opfer gestorben – erfroren, vor Entkräftung liegen geblieben und von der Wachmannschaft ermordet. In Palmnicken taten sich für die Mörder Hindernisse auf. Bergwerksdirektor Landmann gab mit Blick auf die Gefahren für die Wasserversorgung keinen Stollen frei. Dann traf Güterdirektor Hans Feyerabend ein. Ihm musste die SS das Kommando abtreten. Und Feyerabend kannte nur ein Ziel: Die Opfer retten. Solange er lebe, würden die Juden zu essen bekommen und keiner werde umgebracht – dieses Bekenntnis Feyerabends ist vielfach belegt. Er ließ Nahrungsmittel herbeischaffen und wies die Werkskantine an, für die Häftlinge zu kochen. Für die SS war Feyerabend ein schier unüberwindliches Hindernis, um ihren Mordplan umzusetzen. Doch mit einem fingierten Einsatzbefehl für den von ihm befehligten Palmnicker Volkssturm wurde Feyerabend zu einer nahe gelegenen Wehrmachtseinheit kommandiert. Als er den Betrug durchschaute, sah er für sich offenbar keinen Ausweg mehr und erschoss sich vermutlich selbst. Ob es wirklich Selbstmord war, wurde freilich nie untersucht.

Laudatio auf Hans Feyerabend bei seiner Ehrung als Gerechter unter den Völkern

Laudatio auf Hans Feyerabend bei seiner Ehrung als Gerechter unter den Völkern

Kaum hatte Feyerabend Palmnicken verlassen, ging die SS umgehend an die Ermordung ihrer Opfer. In der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1945 trieb sie die Frauen eilig an den Strand und auf die vereiste Ostsee. Dann eröffneten die SSMänner das Feuer. In der Dunkelheit wurden viele Frauen zunächst nur angeschossen. Sie starben nach langen Qualen am Strand oder versanken zwischen den Eisschollen. Nur wenige Frauen überlebten. Unter ihnen war Maria Blitz, die 2010 über ihre Erlebnisse in Berlin berichtete. Ihre Erinnerungen bewahrt und publizierte die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. So schließt sich ein Kreis zwischen Berlin und Palmnicken. Und ein weitgehend in Vergessenheit geratenes Massaker fand öffentliche Anteilnahme, die bereits 2006 einsetzte, als Martin Bergau, der als 16-Jähriger Augenzeuge des Massakers wurde, in seinem Buch „Todesmarsch zur Bernsteinküste: Das Massaker an Juden im ostpreußischen Palmnicken 1945“ gesammelte Zeitzeugenberichte veröffentlichte.

Großen Anteil am Erinnern und Bewahren hat die Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem. Im Rahmen des Projekts „Gerechte unter den Völkern“ prüft sie in jahrelanger, akribischer Arbeit Rettungsinitiativen von Nicht-Juden, die in der Nazizeit Juden unter eigener Lebensgefahr und ohne Gegenleistung zu retten versuchten. Ob die Initiative erfolgreich war, ist dabei zweitrangig. Insgesamt 26.119 Menschen aus 51 Ländern (Stand: Januar 2016) hat Yad Vashem bisher als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet, davon 587 aus Deutschland, die meisten aus Berlin.

Unter ihnen war Theodor Görner, der zusammen mit seiner Tochter Hanni Nörper mehr als hundert Verfolgte schützte. Oder Robert Havemann, der als Mitglied der Widerstandsgruppe „Europäische Union“ half, Juden zu verstecken. Und nicht zu vergessen Otto Weidt, der in seiner Blindenwerkstatt, die heute Museum ist, seine größtenteils jüdischen Mitarbeiter vor der Deportation bewahrte und auch anderen Juden das Leben rettete.

Bereits 1966 hatte Yad Vashem zwei andere Retter aus Palmnicken als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Das Ehepaar Loni und Albert Harder versteckte drei dem Todesmarsch entkommene jüdische Frauen bis zum Kriegsende bei sich.

Die Ehrung für Ida Jauch im Funkhaus des Deutschlandradios

Die Ehrung für Ida Jauch im Funkhaus des Deutschlandradios

All diese Beispiele zeigen, dass der Mord an den europäischen Juden keineswegs gleichgültig und teilnahmslos hingenommen werden musste. So wird das Handeln der wenigen „Gerechten“ zur ethischen Norm, an der sich eine Mehrheitsgesellschaft messen lassen muss, in der die schweigende oder in stillem Einvernehmen erfolgte Hinnahme von Verfolgung und Deportation an der Tagesordnung war.

So wie Mord nicht verjährt, weil sich dieser Passus unseres Strafgesetzbuchs direkt den Erfahrungen des nationalsozialistischen Völkermords verdankt, so darf auch nicht das Gedenken der Opfer des Holocausts verjähren sowie jener, die sich dem Morden entgegenstellten und Menschen unter Einsatz ihres eigenen Lebens vor der Vernichtung beschützten. Dieser Appell, den Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller während der Gedenkveranstaltung für Hans Feyerabend einstreute, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Motive der Jerusalemer Gedenk- und Forschungsstätte. Ihr Projekt „Gerechte unter den Völkern“ endet nie, weil immer noch Hinweise auf Rettungsinitiativen eingehen. Aber es hängt am seidenen Faden einer höchst prekären Erinnerung, die voraussetzt, dass Menschen das Morden überlebt haben und Rettungsinitiativen glaubhaft bezeugen können.

So wie die Rettung von Hans Rosenthal durch Ida Jauch und Maria Schönebeck. Der große Berliner Fernsehmoderator konnte in seiner Jugend der Deportation und Ermordung entgehen, weil ihn Ida Jauch, eine Bekannte von Rosenthals verstorbener Mutter, in ihrer Gartenlaube versteckte und ihre bescheidenen Lebensmittelrationen mit ihm teilte. Als Ida Jauch 1944 erkrankte und starb, vertraute sich Hans Rosenthal ihrer Nachbarin und Freundin Maria Schönebeck an. Auch sie versteckte ihn und sicherte ihm das Überleben.

Bei der Ehrung für Ida Jauch als „Gerechte unter den Völkern“ im Oktober 2015 im Funkhaus des Deutschlandradios wurde einmal mehr deutlich, wie zart das Band ist, an dem eine solche Ehrung hängt. Alle drei Protagonisten sind lange tot. Von Ida Jauch fand sich erst ein Verwandter, nachdem ein Zeitungsartikel über sie berichtet hatte. Von Maria Schönebeck ließen sich hingegen keine Angehörigen mehr ausmachen. Deshalb war die Feierstunde für Ida Jauch auch ihr gewidmet. Auf der Urkunde der „Gerechten“ steht geschrieben: „Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam eine ganze Welt gerettet.“ Ein starker Satz und ein bewegendes Motiv, das die Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem antreibt, nicht aufzugeben bei der Suche nach „Gerechten unter den Völkern“.