„Akzeptiert, dass Menschen anders sind“

Margot Friedländer im Interview mit Saskia Rutner

Frau Friedländer, mit 95 Jahren geben Sie noch immer regelmäßig Lesungen Ihres Buches „Versuche, dein Leben zu machen“, mit bis zu vier Lesungen pro Woche ein starkes Pensum.

Ich habe bis zu vier Lesungen pro Woche gemacht, aber jetzt – Sie wissen, wie alt ich bin – das darf und kann ich auch nicht mehr. Aber ich versuche, noch immer eine Lesung in der Woche zu machen. Ich bin sehr viel gereist – habe auch Lesungen in der Schweiz und in Österreich gegeben – aber mittlerweile lese ich außerhalb von Berlin nur noch mit einer Entfernung von bis zu eineinhalb
Stunden.

Ich lese vor allem an Schulen, für Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren. Ich habe dieses Lesebuch, aus dem ich sehr gezielt die Passagen lese, in denen Notizzettelchen sind. Das Notizbuch, das in der Handtasche meiner Mutter war, und ihre Bernsteinkette, habe ich immer bei mir. Das sind – neben der Nachricht „Versuche, dein Leben zu machen“ die beiden einzigen Dinge, die meine Mutter mir hinterlassen hat, als sie mit meinem Bruder von der Gestapo abgeholt wurde. Wenn ich diese Stellen lese, dann zeige ich das Notizbuch, die Kette und den Judenstern, den ich getragen habe.

Was treibt Sie an?

Meine Mission ist, den Schülern zu sagen: „Ihr müsst jetzt Zeitzeugen sein, die wir nicht mehr lange sein können. Es ist für euch, dass ich hier bin. Ihr sollt nie konfrontiert werden mit dem, was uns passiert ist.“ Deshalb lese ich für Schüler ab 15 Jahren – denn jüngeren Schülern kann ich das nicht sagen. Sie sind zu jung, um Zeitzeugen zu sein, das verstehen sie noch nicht. Wenn sie 15 sind, verstehen sie das vollkommen.

Ich sage ihnen, dass wir alle Menschen sind, dass das Blut in meinen Adlern dasselbe ist wie in ihren. Ganz egal, woher die Menschen kommen, welche Hautfarbe sie haben oder welche Sprache sie haben – sie sind Menschen, die respektiert werden müssen.

Erinnerungen auf Tonband gesprochen

Erinnerungen auf Tonband gesprochen

Wie sind die Reaktionen der Schüler?

Sie fragen mich nach der Lesung zum Beispiel, wie ich zu meiner Religion stehe oder wie ich denn meine Vergangenheit verarbeiten kann. Ich sage ihnen: „Dass ich mit euch sprechen kann, dass Ihr mir zuhört, hilft mir, es zu verarbeiten. Denn ich habe das Gefühl, ich tue etwas im Andenken daran, dass das nie wieder geschieht. Das ist das, was ich erhoffe. Was war, war. Das können wir nicht mehr ändern. Aber ich will, dass das nie wieder geschieht. Damit Ihr, und eure Kinder später, das Leben weiter habt, das Ihr jetzt habt. Ein Leben in Freiheit und Demokratie.“

Wenn ich zum Beispiel in Berlin lese, frage ich die Schüler: „Könnt Ihr euch vorstellen, was 6 Millionen sind? Das ist eine Zahl. 6 Millionen Juden sind umgekommen. Berlin hat allein 3,5 Millionen Einwohner. Wenn Ihr morgens aus dem Haus geht und keine Menschenseele in Berlin auf den Straßen ist, dann sind es nur 3,5 Millionen. Fast doppelt so viele Juden wurden umgebracht. Und das sind nur Juden gewesen. Man hat Millionen unschuldiger Menschen umgebracht – alles was ihnen politisch nicht gepasst hat, Homosexuelle, Kranke, Senile. Das haben Menschen gemacht. Könnt Ihr euch vorstellen, dass Ihr eure Hand zu so etwas geben würdet? Ich hoffe nicht.“ Wenn wir geboren werden, sind wir kleine individuelle Persönlichkeiten. Wenn wir schlecht werden, muss es doch aus irgendeinem Grund geschehen, durch schlechten Einfluss.

Warum meinen Sie, wird der Mensch dann schlecht?
Das möchte ich wissen, warum. Es gibt viele Sachen, die wir nicht erklären können. Auch Gefühle. Wenn die Schüler mich fragen, wie ich mich bei meiner Befreiung gefühlt habe. Wie habe ich mich gefühlt? Wie kann man alle Gefühle erklären? Das kann man nicht.

Ich sage ihnen auch, dass ich ganz genau weiß, dass sie sich nie vorstellen können, wie so etwas gewesen ist. Aber dass die Opfer des Nationalsozialismus Menschen waren, die unendlich gelitten haben. Und wir, die es überlebt haben, können es nicht abstreifen. Wir sind irgendwie zerbrochen.

Denn das, was wir erlebt haben, war zu tiefgehend. Was war das Gefühl meiner Mutter, als sie in Auschwitz ankam und eine Minute später vom Sohn getrennt wurde und ihn noch gesehen hat. Hat sie gewusst, dass sie ihn nie wiedersehen würde? Hat sie sich vorstellen können, dass sie in die Gaskammer geht? Hätten wir uns das menschlich vorstellen können?

Ich versuche, den Schülern meine Gefühle darzulegen. Es sind nicht immer die Worte. Es ist das Persönliche. Ich lese sehr Gezieltes, aber ich glaube, das, was ich danach mit ihnen bespreche, ist wesentlich und wertvoll. Das ist meine Stimme, mein Sprechen zu ihnen. Dennoch wühlt es immer wieder auf.

Glauben Sie, dass sich Ihre Hörer – vor allem die Schüler – in die Gefühle hineinversetzen können, die Sie durchlebt haben?

Man kann von Menschen, die das nicht erlebt haben, nicht erwarten, dass sie das fühlen, was wir gefühlt haben. Das geht nicht. Wer kann sich da hineinversetzen? Niemand. Und auch nur jemand, der es selber erlebt hat, kann erklären, wie wir uns gefühlt haben. Wie die Gesetze immer wieder verschärft wurden. Juden durften das nicht machen, Juden durften jenes nicht machen, Juden durften keine Tiere haben, Juden durften kein Radio haben, Juden durften keine Zeitung mehr haben, Juden durften kein Telefon haben. Ich frage dann die Schüler: „Wenn euch das passierte, wie würdet Ihr euch dann fühlen?“ Aber nur jemand, der das wirklich erlebt hat, kann dir sagen, wie es war.

Wie war es zum Beispiel, wenn meine Mutter nur zwischen vier und fünf Uhr einkaufen durfte? Da war doch nichts mehr da. Es war ja sowieso schon alles ausverkauft. Wie sie dann nach Hause gekommen ist, um ein Essen auf den Tisch zu bringen, damit ihre Kinder nicht hungrig sind. Wir haben es akzeptiert. Wir haben weitergelebt. Wir waren ruhig. Wir waren bescheiden. Ich sage den jungen Menschen auch: „Ich erwarte nicht von euch, ich kann es gar nicht erwarten, dass Ihr es im geringsten versteht. Aber sagt nie: Wir wissen schon alles, wir brauchen es nicht mehr. Tut das nicht. Denn es war so und wir sind Menschen, die noch hier sind und die das erlebt haben.“

Notizbuch, Bernsteinkette und der „Judenstern“ begleiten Margot Friedländer überall

Notizbuch, Bernsteinkette und der „Judenstern“ begleiten Margot Friedländer überall

Haben Sie hier in Deutschland Kontakt zu anderen Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben wie Sie?

Nein. Ich bin nach über 60 Jahren zurückgekommen und hatte niemanden hier, den ich kannte. Alle meine Freunde hier sind neue Freunde und fast alle nicht jüdisch. Ich habe hier einen riesigen Freundeskreis. André Schmitz, der ehemalige Staatssekretär, war einer der ersten, die ich hier in Berlin kennengelernt habe. Er war es, der mich nach Berlin zurückgeholt hat. Er ist mein innigster Freund. Durch ihn habe ich viele Menschen kennengelernt. Ich habe aber kaum Kontakt zu anderen Zeitzeugen.

Sie wohnen in einer Seniorenresidenz. Tauschen Sie sich mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern aus?

Ich habe mich sehr zurückgehalten in den ersten Jahren hier. Weil ich mit dieser Altersgruppe nicht unbedingt sehr viel Kontakt haben wollte. Weil ich mir nicht anhören wollte: „Wir haben nichts gewusst“ oder „Wir haben jüdische Freunde gehabt“ oder „Wir haben geholfen“ oder „Wir haben das …“, aber besonders „Wir haben nichts gewusst.“ Denn ich weiß: Woher kamen die vier Millionen, die gejubelt haben? Jeder, der heute in den Neunzigern ist, war irgendwie involviert – auch wenn er nur Mitläufer war. Denn wo kamen die Millionen Menschen her? Anders ist es mit jüngeren Menschen oder den Nachgeborenen. An sie möchte ich appellieren, dass so etwas nie mehr passiert.

Haben Sie schon mal einen Menschen in Ihrem Alter getroffen, von dem Sie dachten: „Der war ein Nazi“?

Das nicht, aber auf einer Lesung in Österreich saß der Veranstalter neben mir, hielt meine Hand und sagte mir hinterher: „Das bedeutet mir so viel, denn mein Vater war ein Nazi.“ Er fühlte sich im gewissen Sinne verantwortlich, schuldig für den Vater, der schon lange verstorben war. Wie viele Bücher sind geschrieben worden von Menschen, die erfahren haben, dass der Vater oder Großvater ein Nazi war. Sie haben es nicht gewusst, weil man ihnen etwas komplett anderes erzählt hat. Aber es lässt sich ja nicht ändern. Was wir wollen ist, dass es nie wieder geschieht. Dass wir den jungen Menschen verständlich machen: „Ihr müsst dafür sorgen. Es ist für euch!“

Was kann man dann ganz konkret, Ihrer Meinung nach, tun?

Offenherzig sein und sich nicht alles sagen lassen. Vorsichtig sein mit dem, was man sagt. Eure eigene Meinung, euer eigenes Herz, eure eigene Verantwortung zu fühlen als Mensch. Es heißt doch: Sei Mensch. Respektiere den anderen Menschen. Du kannst nicht jeden lieben, aber respektieren als Mensch. Ich meine, was passiert denn heute? Wir wollen uns doch nichts vormachen. Was ist denn in der Welt los? Was denken sich Menschen dabei, unschuldige Menschen umzubringen?

Was erhoffen Sie sich, wenn Sie den Menschen von Ihrer Geschichte erzählen?

Wenn ich Lesungen an Schulen gebe, sage ich danach den Schülerinnen und Schülern, dass ich weiß, dass ich nicht alle erreichen kann. Aber wenn ich zwei oder drei erreiche, dann habe ich etwas erreicht. Ich nehme auch immer Exemplare meines Buches mit, die ich signiere. Und so viele kommen dann nach vorne und sagen mir: „Sie haben viel mehr als nur zwei oder drei erreicht.“ Ich erreiche nicht alle, aber ich glaube, dass irgendetwas in den Köpfen dieser jungen Menschen doch bleibt. Ich glaube und ich erhoffe es. Mein größter Stolz sind die vielen Danksagungen und Artikel, die ich bekomme. Sehr oft höre und lese ich den Satz: „Man kann eine Stecknadel fallen hören in den Schulen.“

Nach all dem, was Sie erlebt haben – woher nehmen Sie Ihre Kraft?

Ich weiß es nicht, vielleicht weil ich alt bin. Ich sage mir, nichts ist so wichtig, wie etwas positiv zu leben. Eine gewisse Stärke muss in mir aber schon als junges Mädchen gewesen sein. Meine Mutter hinterließ mir die Worte: „Versuche, dein Leben zu machen“ und entschloss sich, mit meinem jüngeren Bruder zu gehen, als er von der Gestapo abgeholt wurde. Wahrscheinlich hat sie gedacht: Sie ist die Stärkere. Meine Mutter muss gewusst haben, wie ihre Kinder sind. Eine Mutter weiß das. Ich hätte natürlich nie gedacht, wie sich mein Leben entwickeln würde – und niemals hätte ich später gedacht, dass ich eines Tages nach Berlin zurückkehren würde.

Margot Friedländer in ihrem Zuhause in Berlin

Margot Friedländer in ihrem Zuhause in Berlin

Sie haben Ihren Mann 1997 verloren. Danach haben Sie den Creative Writing Kurs gemacht, der den Stein ins Rollen brachte…

Mein Mann hat 28 Jahre lang in der jüdischen Organisation „Y“ gearbeitet. Wir waren sehr verbunden mit der Organisation und ich bin nach seinem Tod deren Seniorenclub beigetreten. Irgendwann habe ich einen Memory-Writing-Kurs besucht, ohne aber anfangs etwas zu schreiben. Ich habe aber gehört, was die anderen Damen schrieben, denn man las seine Texte vor. Eines Nachts habe ich erstmal zwei Artikel über meine Großmütter geschrieben und dann den Artikel „The day I went into hiding“. Als ich den dann vorgelesen habe, habe ich festgestellt, wie wenig die Leute über Details wissen, was wirklich war. So habe ich dann eineinhalb Jahre lang immer wieder nachts geschrieben, auf Englisch. Dann sah mich der Filmemacher Thomas Halaczinsky in dem Kurs – er drehte etwas über die Kurslehrerin – und setzte sich mit mir in Verbindung. Wir haben uns unterhalten und er sagte mir, er möchte einen Dokumentarfilm machen, der aber zum Teil in Berlin gedreht werden müsste, weil hier alles geschehen ist. Das war 2003, als ich nach 57 Jahren zum ersten Mal nach Berlin zurückgekommen bin, mit Thomas Halaczinsky.

Musste er Sie sehr überreden?

Nein. Auch die Schüler fragen mich dies oft nach meinen Lesungen – nach all dem, was mir hier passiert ist und nachdem ich 64 Jahre in Amerika gelebt habe. Für mich ist Berlin immer etwas anderes gewesen. Denn ich hatte deutsche Helfer. Wenn es auch nur 16 Helfer waren – Deutsche haben mir geholfen. Deutsche haben etwas getan, was gegen die Regierung war. Sie haben ihren Kopf hingehalten. Wenn sie geschnappt worden wären, wäre es ihnen übel ergangen. Sie haben es trotzdem gemacht. Sie waren Menschen. Menschen, die sich gesagt haben: „Was geschieht, finden wir nicht richtig.“ Und so waren alle, die uns geholfen haben. Ich bin ja nicht die einzige, die versteckt war. Ich weiß von jemandem, der hatte 50 Helfer. Das sind Menschen gewesen, die sich nicht haben einschüchtern lassen.

Haben Sie nach dem Krieg versucht, Ihre Helfer ausfindig zu machen?

Die Familie Camplair, die mich zuletzt bei sich versteckt hatte, lebte nach dem Krieg nicht mehr unter der alten Adresse, Fasanenstraße 70. Deshalb hat sie mein Brief, den ich damals geschrieben hatte, nie erreicht. Erst viele Jahre später bekam ich einen Kontakt durch das deutsche Entschädigungsamt. Frau Camplair hatte Wiedergutmachung für ihre Hilfe beantragt und bekam bis zu ihrem Tod einen Ehrensold. Durch die neue Adresse war auch die
Verbindung zu ihrer Nichte Gretchen hergestellt, die ich zuletzt an dem Tag gesehen hatte, an dem ich – mit ihr den Weg vom Zoo-Bunker nehmend – in die Hände der Greifer gefallen war. Wir waren bis zu ihrem Tod in Kontakt. Die Namen und Adressen meiner anderen Helfer habe ich verdrängt und sie sind auch nicht mehr in meinem Gedächtnis zu finden. Ich muss auch sagen, dass wahrscheinlich vieles geschehen ist, das ein bisschen anders war, als es heute in meinem Kopf ist. Dafür ist die Zeit zu lang und man hat nach der Befreiung natürlich versucht, zu verdrängen. Zu verdrängen, aber nicht zu vergessen.

Sie sind 1946 mit Ihrem Mann in die USA, ein Ihnen völlig fremdes Land, gegangen. Hatten Sie Sorgen, wie Sie dort – auch finanziell – ein neues Leben starten könnten?

Die Schwester meines Mannes lebte in New York. Wir hatten nach der Befreiung im Juni 1945 in Theresienstadt geheiratet, einen Tag bevor der letzte Rabbiner das KZ verließ. EinenTag später kam über die Militärpost ein Telegramm nach Theresienstadt, man solle Herrn Friedländer finden. Seine Schwester hatte gelesen, dass er überlebt hat. Ich bin ein positiver Mensch. Ich dachte damals: Versuche, das Beste daraus zu machen. Ichkonnte etwas Englisch, mein Mann nicht. Er war aber sehr sprachbegabt und lernte es in kurzer Zeit. Wir sind mit nichts gekommen. Es hat zwei Jahre gedauert, bis wir uns ein Bett kaufen konnten.

Zuerst wurden wir in einem Hoteluntergebracht. Nach zwei Wochenhaben wir uns ein Zimmer gesucht und angefangen zu arbeiten. Icharbeitete in verschiedenen Schneidereien, später wurde ich Reiseagentin. Mein Mann arbeitete erst in einer Druckerei, dann in einem Hutgeschäft und bekam später die Anstellung bei der „Y“.

Haben Sie während all der Jahre mit Ihrem Mann über die Zeit in Theresienstadt gesprochen?

Nein, wir brauchten nicht darüber sprechen. Wir haben es beide erlebt, wir haben beide dieselben Schmerzen gehabt, wir haben beide die Familien verloren. Das Problem war jedoch, dass uns niemand gefragt hat nach irgendetwas. Neulich wurde mir gesagt, dass es vielleicht aus Angst war, nicht zu fragen.

Keiner Ihrer Freunde in New York hat Sie gefragt: Wie war das eigentlich?

Nein, es waren aber auch viele Freunde darunter, die Freunde meines Mannes von früher waren, die emigriert waren und auch ihre Familien verloren hatten. Wir haben nicht darüber gesprochen und uns hat niemand gefragt.

Worüber haben Sie dann miteinander gesprochen?

Über unser neues Leben, über Politisches, über den Alltag – aber nichtdarüber, was war.

Ich glaube, dass viele der Emigranteneine gewisse Sehnsucht hatten nach dem alten Leben und, ohne es sich einzugestehen, eine gewisse Sehnsucht hatten nach dem: „Was wäre gewesen, wenn?“ Was man ja nicht beantworten kann. Ich glaube, viele haben sich gesagt: „Wir haben es zwar geschafft, wir haben eine schöne Wohnung und ein Auto –aber wie wäre unser Leben gewesen, wenn wir in Deutschland hätten bleiben können?“ Aber warum sollte man an einem Abend unter Freunden darüber sprechen? Man hat lieber darüber gesprochen, was im Theater läuft oder was beruflich passiert.

Glauben Sie, dass Sie sich verändert haben, seit Sie über Ihre Vergangenheit öffentlich sprechen?

Ja, ich lebe bewusster heute. Aber das hat sicherlich auch mit dem Alter zu tun. Ich sehe die Schönheit. Ich erfreue mich an jeder Blume und an der Landschaft. Aber ich denke, das geht vielen so, dazu braucht man das nicht erlebt zu haben. Ich hatte auch viele schöne Jahre mit meinem Mann in den USA, wir sind wunderbargereist. Eine Verwandte meines Mannes sagte mir neulich: „Du bist anders geworden. Du warst in deiner Ehe ruhig und dein Mann war der, der stark war.“ Ich sagte, oftmals ist eine ruhige Frau „behind“ die Starke. Ich kann es nicht sagen, wahrscheinlich war ich anders in den 52 Jahren Ehe. Ich war sehr froh, dass ich lieben konnte, dass ich jemanden wie meinen Mann hatte. Was ich dann später hier in Berlinerlebt habe, hätte ich nie erwartet. Ich bin vom Bundespräsidenten eingeladen worden, habe viele wunderbare Menschen kennengelernt. In Amerika wäre das so nicht gewesen.

Ich bin dankbar für das, was ichmachen kann. Ich glaube, dass ich dadurch Menschen ein bisschen aufwecke, um ihnen etwas zu sagen, was wichtig ist im Leben. Junge Menschen leben oft in den Tag hinein. Ich sage ihnen: „Seid euch mehrbewusst, euch auch das Leben der anderen vorzustellen. Akzeptiert, dass Menschen anders sind. Wir sind nicht gleich und wir können nicht gleich sein. Jeder ist individuell und wertvoll.“

Sie sind in den 52 Jahren nur einmal mit Ihrem Mann nach Deutschland gereist – nach München…

Ja, nach Berlin wollte er nicht. Es hat ihn sehr geschmerzt, dass seine Mutter in Auschwitz umgekommen ist. Wir haben nie wirklich darüber gesprochen. Aber warum sollten wir darüber sprechen? Wir wussten es. Wir haben uns ohne Worte verstanden. Es war eine besondere Ehe von einer besonderen Wärme, Freundschaft, Tiefe, Verständnis. Mein Mann hat mich nach der Befreiung in Theresienstadt gefragt: „Kannst du dir vorstellen, mit mir ein neues Leben aufzubauen in Amerika?“ Ich war nicht in ihn verliebt. Ich war kalt und erschüttert. Ich fragte mich: Was mache ich jetzt? In diesen Stundender Befreiung dachte ich mir, dass ich nun erfahren würde, was aus meinen Eltern, meinem Bruder, meinen Angehörigen geworden ist. Und die Fragen: Wohin gehe ich? Wen habe ich? Und er war da.

Als wir uns im Lager getroffen haben, kannten wir uns vom Jüdischen Kulturbund in Berlin. Er – elf Jahre älter als ich – hatte damals keine Augen für mich gehabt, ich war noch ein kleines Mädelchen gewesen. Er war ein Mann, der eine sehr gute Position hatte beim Jüdischen Kulturbund. Als wir uns dann wiedersahen im Lager – dieses Treffen, dieses Wissen um die gemeinsame Vergangenheit, wo man gemeinsame Bekannte hatte, dieselbe Sprachesprach, und auch der Verlust der Eltern im KZ – da war soforteine Bindung, eine Wärme, die uns zusammengebracht hat. Etwas Gemeinsames. Nicht wie es normalerweise ist – dass man gemeinsam Essen oder ins Theater geht oder dass sich aus einer Freundschaft mehr entwickelt. Es war etwas, das uns miteinander verbunden hat. Die Befreiung zusammen zu erleben. Zuerst die letzten Monate im Lager. Das offene Tor. Dazustehen und zu wissen: Du darfst rausgehen, du wirst nicht erschossen.

Die Liebe kam später, aber vielleicht war sie immer auch ein bisschen anders. Es war eine unglaubliche, warme Bindung.

Mein Mann wurde in den letzten acht Monaten leider schwer krank. Kurz vor seinem Tod sagte er mir die Worte: „Happy life, happy days, happy life.“ Wir hatten eigentlich immer Deutsch miteinander gesprochen, deshalb fand ich es erstaunlich, dass er diese Worte auf Englisch sprach.

Sie sagen, Menschsein ist Ihnen wichtig. Kann man nach so vielen Schicksalsschlägen noch an ein Menschsein glauben?

Trotz allem, was mir passiert ist, bin ich dankbar für mein Leben. Ich habe viel Schlimmes in Deutschlanderlebt, ohne bitter zu sein. Ich bin nicht verbittert. Es ist mir wichtig, an die jungen Menschen weiterzugeben, offen zu sein für andere Kulturen. Und vorsichtig gegenüber dem zu sein, was man ihnen sagt. Es geht auch nicht darum, in den Taghinein zu leben. Die meisten Menschenmachen das. Das Leben ist vielmehr als Essen, Trinken und Arbeit. Es geht auch darum, etwas zurückzugeben. Auch wenn man nicht viel hat.

Margot Friedländer

  • (geboren am 5. November 1921 in Berlin) hat den Holocaust überlebt.

    Nachdem ihre Mutter und ihr Bruder 1943 am Tag der geplanten Flucht deportiert wurden, ging die junge Jüdin in den Untergrund und versteckte sich bei verschiedenen Helfern – bis sie nach 15 Monaten jüdischen „Greifern“ in die Falle ging und ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt wurde. Ihre Mutter und ihr Bruder wurden in Auschwitz ermordet. Margot Friedländer überlebte und emigrierte 1946 mit ihrem Mann, dem sie in Theresienstadt begegnet war, in die USA. Nach dessen Tod, mehr als 50 Jahre später, begann sie, ihre Erinnerungen aufzuschreiben und nahm im Jahr 2003 eine Einladung des Berliner Senats für „verfolgte und emigrierte Bürger“ an.

    2008 veröffentlichte sie ihre Autobiografie „Versuche, dein Leben zu machen. Als Jüdin versteckt in Berlin“ (Rowohlt Verlag). Seit 2010 lebt Margot Friedländer wieder in Berlin. 2011 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Ihre Autobiografie erschien im Jahr 2016 auch als Hörbuch im Verlag „speak low“, von Margot Friedländer über mehrere Wochen hinweg im Tonstudio eingesprochen. Bis heute liest sie aus ihrem Buch in Schulen und anderen Einrichtungen.

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