Eine Berliner Institution

Hermann Simon geht in Rente

von Christine Schmitt
aus Jüdische Allgemeine, 13. August 2015
mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Die Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße

Der Pfefferminztee dampft in der Tasse. „Die Blätter sind aus meinem Garten, aber nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht“, beteuert Hermann Simon lachend. „Ich bin kein Gärtner. Rasen mähen und gießen reicht.“ Seine Frau fordere ihn mitunter zwar auf, sich in den Garten zu setzen und ein Buch zu lesen. „Aber das fällt mir schwer“, sagt er. Denn in seinem Kopf rattere es dann, und er gehe im Geiste durch, welches historische jüdische Thema er recherchieren, welche Publikation er überarbeiten oder welches Buch er schreiben soll.

Zum Bücherschreiben wird er vermutlich bald reichlich Zeit haben. Denn nach fast drei Jahrzehnten als Direktor des Centrum Judaicum verlässt Hermann Simon sein Büro: Der langjährige Direktor, der die Berliner Institution seit ihrer Einweihung 1995 leitet, geht in Rente. Eigentlich wollte er schon im Frühjahr seinen Schreibtisch räumen. Doch zu diesem Zeitpunkt war noch kein Nachfolger gefunden. Also verlängerte der 66-Jährige bis Ende des Sommers.

Hermann Simon. Am 1. Oktober 2015 erhielt er den Verdienstorden des Landes Berlin

„Ich bin jeden Tag gern zur Arbeit gekommen“, sagt Simon. Fast 30 Jahre lang habe er das große Glück gehabt, die Stiftung Neue Synagoge als Centrum Judaicum aufzubauen und mit Leben zu füllen.

Meist begann sein Tag morgens gegen 7.30 Uhr und dauerte bis zum frühen Abend. Mitunter schaute er sogar sonntags kurz herein – allerdings heimlich, denn seine Frau sollte nicht erfahren, dass er schon wieder arbeitete.

Alle Briefe, in denen Menschen nach ihren Vorfahren fragten, beantwortete er zeitnah, denn das Centrum Judaicum verfügt über ein umfangreiches Archiv. Mehr als 60 Ausstellungen hat sein Team unter Simons Leitung entwickelt und umgesetzt. „Wir wollen die Geschichte der Juden in Berlin und Umgebung aufarbeiten, an die Leistungen der jüdischen Bevölkerung erinnern und das Gedenken an die jüdischen Opfer bewahren“, beschreibt Hermann Simon die Aufgabe der Stiftung.

Der Direktor erinnert sich auch an so manche schlaflose Nacht und an Momente, in denen etwas schiefging, wie etwa vor der Ausstellung „Erbe und Auftrag“: Kurz vor Eröffnung versagte die komplizierte Technik.

„Ich wollte immer hier sein, meine Tür war stets offen, ganz egal, ob gerade eine Berühmtheit da war oder jemand, der bei uns im Archiv nach seiner Familie suchte“, sagt Simon rückblickend. Die Kollegen sollten wissen, dass sie jederzeit hereinkommen konnten.

„Das Centrum Judaicum ist zu einer der ersten Adressen des Meinungsaustauschs zwischen Juden und Nichtjuden wie überhaupt zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen geworden. Das ist maßgeblich dem hohen Engagement von Herrn Dr. Simon zu verdanken“, würdigte der Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten, Tim Renner, Simons jahrzehntelangen Einsatz.

Er habe zudem durch seine reichhaltige publizistische Tätigkeit wesentlich „zur Versachlichung und zum Abbau von Emotionen in einem besonders schwierigen Thema unserer Gesellschaft beigetragen“, sagte Renner.

Tatsächlich ist Simons Publikationsliste so umfangreich, dass man lange braucht, um allein die Titel zu lesen. Seine erste Veröffentlichung schrieb er auf dem Gebiet der Numismatik, zum Thema „Die sassanidischen Münzen des Fundes von Babylon“, seine vierte über das Berliner Jüdische Museum in der Oranienburger Straße. Sein jüngstes Buch Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 bis 1945 handelt von seiner verstorbenen Mutter Marie Jalowicz-Simon, die die Schoa versteckt in Berlin überlebte.

Sich mit jüdischer Geschichte auseinanderzusetzen und sie anderen nahezubringen, hat sich Simon zur Lebensaufgabe gemacht. Auch nach seiner Amtszeit will er sich weiter dafür engagieren – ehrenamtlich und beratend.

„Dieses Bild werde ich mitnehmen“, sagt er und zeigt dabei auf ein Foto, das ihn 1957 als kleinen Jungen in der Ost-Berliner Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße bei einer Chanukkafeier neben Rabbiner Martin Riesenburger zeigt.

Dass er jüdisch war, habe seine Klassenlehrerin von Anfang an gewusst, erzählt Simon. Mit sechs Jahren ging er an den Hohen Feiertagen zum ersten Mal in die Synagoge Rykestraße. Seitdem schrieb ihm sein Vater für die Feiertage jedes Mal eine Entschuldigung – die Schule lehnte sie kein einziges Mal ab. Zu seiner Barmizwa-Feier legte die Lehrerin ihm sogar Blumen vor die Haustür.

Hermann Simon wuchs in Ost-Berlin auf. Seine Mutter war Professorin für Antike Literatur- und Kulturgeschichte, der Vater Professor für Hebräisch und arabische Philosophie. Die Jüdische Gemeinde war damals sehr klein. Doch bereits als Kind sei er an allem interessiert gewesen, erzählt Simon, auch an Besuchern aus anderen Ländern. „Bei uns waren Reisende eine Attraktion“, erinnert er sich. Schon damals bat er sie oft um Münzen aus ihren für ihn exotischen Ländern für seine Sammlung – seine große Leidenschaft.

Die Münzsammlung wuchs, aus dem Hobby wurde Simons Beruf. Er studierte Geschichte und Orientalistik an der Berliner Humboldt- Universität mit anschließendem Graduiertenstudium in Prag. Von 1975 bis 1988 arbeitete er am Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin. Bei der Katalogisierung von 400 Münzen aus der Zeit der persischen Dynastie des 6. Jahrhunderts entstand seine erste Publikation.

Die neue Direktorin, Anja Siegemund

Doch trockene Arbeit war nichts für den kommunikativen Historiker. „Ich hatte Angst, dort zu versauern. Mich hat immer auch die moderne Geschichte interessiert – vor allem die jüdische“, sagt er.

Vollkommen zufrieden geht Hermann Simon jedoch nicht in den Ruhestand, auch wenn der Regierende Bürgermeister ankündigte, den Jahresetat des Centrum Judaicum von 420.000 auf 520.000 Euro zu erhöhen. „Wir brauchen mehr Geld, um mehr Themen zu gestalten und die Dauerausstellung zu überarbeiten“, sagt Simon. Doch das liegt nicht mehr in seiner Hand.

Anja Siegemund hat den Chefsessel im Centrum Judaicum übernommen. Die 48-jährige Historikerin leitete bislang das Leo-Baeck-Institut in Jerusalem.

Hermann Simon versichert, er werde die neue Direktorin nach Kräften unterstützen. So behält er ein Büro im Haus mit der goldenen Kuppel – samt Schreibtisch, Pfefferminztee und Jugendfoto mit Rabbiner Riesenburger. „Natürlich kann man so ein Haus nicht lassen“, sagt Simon – so sehr er sich auch auf „ein bisschen mehr Privatleben und das Bücherschreiben“ freut.