Meine Großtante Pina – doppelt stigmatisiert

Als Kind erfuhr ich, dass mein Großvater Jude war und in Auschwitz ermordet wurde. Er hieß Martin Rechelmann, 1899 geboren, und lebte 1929 im Berliner Hansaviertel. Es gab kein Bild, keine Andenken, gar nichts.

Erst 2007 fand ich die erste Spur bei Yad Vashem. So erfuhr ich seinen Geburtsort, die Sterbenummer von Auschwitz und sogar die Namen meiner Urgroßeltern. Und ich fand durch Zufall eine Frau mit dem Namen Philippine Aronsohn, Mädchenname Rechelmann, die 1904 wie schon mein Großvater in Schwerin an der Warthe geboren worden war. Als ich meiner Mutter davon berichtete, konnte sie sich plötzlich erinnern, dass es in der Familie eine „Tante Pina“ gab. Mehr nicht.

Nun begann ich intensiv zu suchen und fand heraus, dass meine Großtante am 15. Juni 1942 aus Bendorf-Sayn deportiert worden war. Sie war Patientin der damals einzigen noch existierenden jüdischen Nervenheilanstalt Deutschlands (vormals sogenannte Jacoby’sche Anstalt Israelitische Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke). Ursprünglich sollte der Deportationszug Nr. DA 22 von Köln über Koblenz nach Izbica fahren, aber er wurde nach Sobibor geleitet. Die Fahrt muss furchtbar gewesen sein, die Anstaltsinsassen wurden in zusätzlich angehängte Viehwaggons gesperrt, es war Sommer und die Fahrt dauerte mindestens zwei Tage. In Sobibor wurden alle Insassen nach der Ankunft bestialisch ermordet.

In der Anstalt lebte auch ein junger Mann namens Oskar Aronsohn aus Halle, was zu einigen Irrtümern in der Anstaltsregistratur und bei meinen Nachforschungen führte. Lange vermutete ich, dass er der Ehemann von Pina war. Aber es fanden sich keine Beweise.

Anfang 2012 lernte ich bei der Suche nach meinem Großvater Tatjana Ruge kennen, die sich in Berlin-Mitte ehrenamtlich sehr für die Erinnerungsarbeit und auch für die Verlegung von Stolpersteinen engagiert. Sie gab mir den Tipp, in der Zeitschrift aktuell eine Suchanzeige zu schalten. Und ich sollte beim Bundesarchiv in der Volkszählungskartei suchen lassen. Dort fand sich sofort ein Hinweis: Pina wohnte 1939 mit ihrem Bruder in der Berliner Krausnickstraße 8!

Die Suchanzeige wurde dann im Laufe des Jahres 2012 – auch online – veröffentlicht, es kamen einige Hinweise auf Menschen mit dem Familiennamen Rechelmann, aber es war noch kein Durchbruch. Bis zum 19. September 2012, als ich eine Mail von Frau Dr. Annette Hinz-Wessels erhielt. Sie recherchierte zu dieser Zeit als Kuratorin für die Ausstellung „Doppelt stigmatisiert“ und fahndete in den Archiven nach ermordeten jüdischen Patienten aus Nervenheilanstalten.

Dabei war sie auf die Akte von Philippine Rechelmann gestoßen, die sie in den unregistrierten Unterlagen der Nervenheilanstalt Berlin-Buch im Landesarchiv Berlin gefunden hatte. Sie konnte es kaum glauben, als beim „Googeln“ dieser Name in einer Suchanzeige von aktuell auftauchte. Und ich war fassungslos ob dieses Fundes. Die ziemlich umfangreichen Akten, geführt von ca. 1929 bis 1939, spiegeln nicht nur das elende Leben von Pina wider sondern die gesamte Familiengeschichte!

So erfuhr ich über Pina, dass sie ein Leben in Angst und Depressionen gelebt hat. Ich las von ständigen Klinikaufenthalten, von schlechter Behandlung durch Vater und Bruder, von einer Mutter, die jahrelang in der Nervenklinik Meseritz-Obrawalde lebte und dort 1916 starb – da war Pina gerade 12 Jahre alt. Ich erfuhr von einem weiteren Bruder, der an Kriegsfolgen mit 19 Jahren starb, von einem Vater, der von Pina jahrelang bis in den Tod gepflegt wurde. Erst als der Vater 1927 gestorben war, machte sich Pina frei und ging um 1930 nach Berlin. Hier half ihr der Bruder, teilweise wohnten sie zusammen, wahrscheinlich gab er ihr Geld, denn auch hier war sie oft krank und arbeitsunfähig.

Und dann ein weiterer, ungewöhnlicher Zufall: auf www.statistik-des-holocaust.de wurden die Berliner Deportationslisten veröffentlicht. Da ich immer noch nach dem Deportationsdatum meines Großvaters suche, sah ich über 2.000 Seiten durch, aus Neugier auch viele, die nach seinem Todesdatum erstellt wurden. Meinen Großvater fand ich wieder nicht, aber einen Erwin Aronsohn, Krausnickstraße 8, deportiert am 15.08.1942 nach Riga. Laut Yad Vashem wurde er dort am 18.08.1942 ermordet.

Dann überschlugen sich die Ereignisse, Frau Dr. Hinz-Wessels machte Pinas und Erwins Eheurkunde vom 27. September 1939 beim Standesamt Berlin ausfindig und ich im Brandenburgischen Landesarchiv die Vermögenserklärung von Erwin. Und in der stand dann, dass seine Ehefrau bereits „nach Osten abgewandert“ sei. Beide besaßen zu diesem Zeitpunkt fast nichts mehr, die Verwertung des Vermögens wurde mit 46,41 Reichsmark angegeben.

Frau Dr. Hinz-Wessels schaffte es dann gerade noch, die neuen Informationen für die Ausstellung „DOPPELT STIGMATISIERT – Schicksale jüdischer Psychiatriepatienten in Berliner Heil- und Pflegeanstalten unter dem NSRegime“, die am 1. März 2013 eröffnet wurde, zu verwenden. Eine Tafel berichtet nun von der Anstalt in Bendorf-Sayn und unter anderem über das Leben meiner Großtante Pina. Diese Sonderausstellung wurde bis zum 29. November 2013 auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Wittenau im Rahmen der dortigen Dauerausstellung TOTGESCHWIEGEN gezeigt. Informationen auf: www.totgeschwiegen.org .

Für viele weitere Details reicht der Platz hier nicht aus. Aber diese Geschichte soll eigentlich nur jenen Mut machen, die glauben, man kann heute nichts Neues mehr finden. Am 20. September 2013 wurden in der Krausnickstraße 8 und in der Cuxhavener Straße 5 die Stolpersteine für Philippine und Erwin Aronsohn und für meinen Großvater Martin Rechelmann und seine zweite Ehefrau Herta, die auch in Auschwitz ermordet wurde, verlegt.


Judith Schewe
Chiffre 132101