Backsteine verbinden Generationen

_von Heike Kröger_

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Das Denkmal auf dem Schulhof

Zwischen ihnen liegen fast 80 Jahre: Zwischen den Sechstklässlern der Schöneberger Löcknitz-Grundschule und Peter Zander, der im Juli 2012 seinen 90. Geburtstag feiert. Und so kommt es, dass Zander den Schülerinnen und Schülern viel erzählen kann. Zum Beispiel, dass er 1928 in Berlin im Großen Schauspielhaus „Das weiße Rössl“ gesehen hat. Das Theater hat ihn sein ganzes Leben nicht mehr losgelassen und auch beruflich geprägt. Er hat sogar einmal Helene Weigel gefragt, ob er einigen Proben beiwohnen darf. Zwischen dem „Weißen Rössl“ und den besagten Proben im Berliner Ensemble liegt 1933, das Jahr von Zanders Emigration nach England.

Zander wohnte mit seinen Eltern in Berlin zuerst in Wilmersdorf, dann in Friedenau, schließlich wieder in Wilmersdorf. Die Löcknitz-Grundschule liegt ganz in der Nähe im Bayerischen Viertel, im heutigen Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Auf dem Schulgelände stand ursprünglich die Synagoge Münchener Straße 37. Diese wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt und 1956 abgerissen. Vor ein paar Jahren wurde der Grundriss der Synagoge von den Schülern der Schule im Rahmen einer Schulhofumgestaltung wieder dauerhaft sichtbar gemacht.

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1994 hatte die Rektorin der Löcknitz-Grundschule, Christa Niclasen, eine Idee: Sie wollte die Kinder der 6. Klassen darauf aufmerksam machen, dass hier im Bayerischen Viertel viele Menschen lebten, die von den Nationalsozialisten verfolgt, vertrieben oder umgebracht wurden. Um den 11 und 12 Jahre alten Kindern dieses bewusst zu machen, ist die Lehrerin zusammen mit den Schülern Listen des Heimatmuseums durchgegangen, in denen alle ehemaligen Mitbürger jüdischen Glaubens, die im Bezirk lebten, nach Straßen und Hausnummern aufgeführt sind. Die Schülerinnen und Schüler suchten sich spontan Namen aus den Listen heraus: Vielleicht lebte der Mensch in derselben Wohnung wie das Kind, vielleicht hatte er am selben Tag Geburtstag… So kundschafteten die Kinder aus, was in ihrem Kiez damals passiert ist. Jedes Kind beschriftete nun einen Stein mit einem Namen des Menschen, an den es erinnern wollte. Die beschrifteten Backsteine wurden schließlich präpariert, dass die Schrift der Kinder nicht verwischen konnte. Dann wurden die Steine der Sechstklässler im Rahmen einer Feier auf dem Schulhof zu einem kleinen Denkmal verarbeitet.

Das Projekt wird seitdem jedes Jahr, mit den jeweiligen sechsten Klassen durchgeführt, so dass das Denkmal inzwischen viele Meter lang ist. Die Schule nennt es „Denk-mal an jüdische Mitbürger“.

Und wie kam Peter Zander zu den Schülern der Löcknitz-Grundschule? Regelmäßig reist er von London nach Berlin. Und lernt fast jedes Mal neue interessante Menschen kennen. So auch einmal in der Kantine des Berliner Ensembles, das er bei jedem seiner Berlin Besuche so gerne aufsucht. Er erzählte von seinem Besuch des Weißen Rössls 1928 – und der nette Herr am Tisch, Hartmut Schulz, versprach, Zander das Original-Programmheft zu organisieren. Tatsächlich löste er sein Versprechen ein und im Londoner Briefkasten von Zander lag eines Tages das alte Programmheft. Dies wurde der Grundstein einer guten Freundschaft, über die Zander auch die Stadtführerin Gudrun Blankenburg kennen lernte. Sie traf sich mit den beiden zu einer Stadtführung. Diese führte auch zu Zanders Elternhaus in Friedenau, wo er durch den Briefkasten in die leere Wohnung gucken konnte und die Schlafzimmertür seiner Eltern sah. Auf der rechten Seite erblickte er sein Zimmer.

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Jeder Stein erinnert an einen Menschen

Aber die private Stadtführung sollte noch weitere emotionale Momente haben. Frau Blankenburg hatte die Schlüssel zu einem nahe gelegenen Schulhof im Bayerischen Viertel – die Kinder waren an diesem Tag schon zuhause. Es handelte sich um die Löcknitz-Grundschule. Auf dem Schulhof fiel sogleich der Blick auf die Mauer aus gelben Backsteinen – auf das „Denk-mal an jüdische Mitbürger“. Zander und Schulz waren benommen von dem Anblick. Sie gingen die Mauer entlang und lasen die Inschriften. Neben der Mauer lagen lose Steine, die darauf warteten, eingemauert zu werden. Peter Zander: „Was für ein fantastisches Projekt! Zur Vergangenheitsbewältigung allerseits. Auch meiner. Denn warum komme ich denn immer wieder nach Berlin! Und zur Verständigung der verschiedenen Völker, Rassen, Kulturen.“

So sehr von dem Projekt begeistert, war Zander sofort bereit, auf den Vorschlag von Frau Blankenburg einzugehen und mit ihr und zwei anderen Berlinern die Initiatorin des Projektes an der Löcknitz-Grundschule, Christa Niclasen, für den „Obermayer German Jewish History Award“ vorzuschlagen. Dieser Preis ehrt Menschen, die in Deutschland einen herausragenden Beitrag zur Bewahrung des Gedenkens an die jüdische Vergangenheit geleistet haben. Gestiftet wird der Preis von der Obermayer Foundation, die der Bostoner Unternehmer Dr. Arthur Obermayer gegründet hat. Und am 23. Januar 2012 schließlich war die feierliche Preisübergabe an Christa Niclasen im Berliner Abgeordnetenhaus. Ein wunderschöner Anlass für Peter Zander, wieder einmal nach Berlin zu kommen.

Wenn am 14. Juni 2012 der tausendste Stein dem „Denk-mal“ hinzugefügt wird, ist er ebenfalls wieder in Berlin dabei und wird den Schülerinnen und Schülern viel zu erzählen haben.