Der Friedhof Berlin Weißensee

_von Britta Wauer, Filmemacherin_

„Jedweder hat hier seine Welt:
ein Feld.
Und so ein Feld heißt irgendwie:
O oder I …
Sie kamen hierher aus den Betten,
aus Kellern, Wagen und Toiletten,
und manche aus der Charité
nach Weißensee,
nach Weißensee“

Als Kurt Tucholsky 1925 sein Gedicht über den Friedhof in Berlin Weißensee schrieb, war er noch überzeugt: „Da komm ich hin“. Aber der große Berliner Schriftsteller starb in Schweden. Nicht so freiwillig, wie der Begriff Freitod nahe legt. Tucholsky wurde am Schloss Gripsholm begraben. Nur sein Vater liegt in Weißensee. An die Mutter erinnert eine Inschrift: „gest. 7.5.1943 in Theresienstadt“. Es sind Spuren einer traurigen Familiengeschichte. In Weißensee sind sie nicht selten.

Weißensee ist der dritte Friedhof, der von der Jüdischen Gemeinde Berlins angelegt wurde. 130 Jahre ist er alt – und der größte jüdische Friedhof in Europa, auf dem noch bestattet wird. Etwa 86 Fußballfelder hätten dort Platz. Wenn man über den Friedhof geht, spaziert man wie durch ein Geschichtsbuch. Auf dem Friedhof sind Philosophen begraben, berühmte Juristen, Architekten, Ärzte, Religionslehrer und Verleger. Sie kamen aus Polen, Ungarn, Schlesien, Galizien. Zu ihren Lebzeiten entwickelte sich Berlin zur Weltstadt. Ihnen hat Berlin sein Ansehen zu verdanken.

Impressionen vom Friedhof Weißensee

Mehr als 115.000 Menschen sind in Weißensee beigesetzt. Einfache Steine stehen neben prächtigen Mausoleen aus der Zeit des Jugendstil oder Art-Deco. Einige Grabmale sind von den Bauhaus-Architekten Mies van der Rohe und Walter Gropius entworfen. Manche wirken verspielt, viele rühren mit ihren Inschriften, andere beeindrucken durch ihre Monumentalität. Doch so unterschiedlich das Budget einst gewesen sein muss, das für die Grabgestaltung zur Verfügung stand, so sehr gleichen sich die Gräber heute. Die meisten sind in einem traurigen Zustand: eingestürzt, zugewachsen vergessen. Kaum ein Lichtstrahl dringt im Sommer durch die riesigen Baumkronen auf die Gräber. Viele Wege sind so verwuchert, dass wohl seit Jahren kein Mensch mehr bis zu den Grabstellen vorgedrungen ist.

Angehörige, die die Gräber pflegen könnten, gibt es kaum. Der Holocaust hat nicht nur das Leben von Millionen Menschen vernichtet, sondern ihnen auch ihr Andenken geraubt. In Berlin lebten in den 30er Jahren rund 170.000 Juden. Nach Kriegsende waren es nur noch 1.500. Wer eine Chance hatte, floh. Verstreut in aller Welt leben vielleicht noch Enkel oder Cousinen der Menschen, die in Weißensee bestattet worden sind. Für uns stellt sich die Frage, was wissen die Überlebenden von ihren Vorfahren? Verbindet sie etwas mit dem Friedhof in Weißensee?

Impressionen vom Friedhof Weißensee

Die Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum unterstützt die Arbeit an einem Dokumentarfilm über den Friedhof in Berlin Weißensee, der im kommenden Jahr gedreht werden soll. Für dieses Projekt möchten wir Familien, Schicksalen und Lebenswegen in aller Welt nachspüren und ihre Geschichten erzählen. Wer sind die Menschen, die in Weißensee beigesetzt wurden? Wer waren jene Juden, für die ein Platz vorgesehen war, aber die dort nie beerdigt werden konnten? Für wen sind die vielen blanken Stellen, die auf den Grabsteinen leer geblieben sind? Leben deren Verwandte noch und wenn ja, wo?

Mit dem Film möchten wir zugleich ein Stück jüdische, Berliner und deutsche Geschichte erzählen, die unwiederbringlich verloren gegangen ist. Es geht uns aber nicht nur um traurige und tragische Geschichten. Wir wollen uns auf die Reise begeben zu Familien, die von ihrem heutigen Leben berichten und zeigen, welche Verbindungen sie nach Berlin-Weißensee haben. Nicht nur berühmte Persönlichkeiten interessieren uns. Auch von den Unbekannten möchten wir erzählen. Jüdische Menschen konnten sich in Grabanlagen vor den Nationalsozialisten verstecken. Andere gingen in Weißensee spazieren, weil es ihnen als Juden in öffentlichen Parks verboten war.

Der Dokumentarfilm möchte den Friedhof in Weißensee zum Ausgangspunkt nehmen, um persönlichen Schicksalen nachzuspüren. Wir wollen den Friedhof mit Leben füllen, und Menschen ein Andenken geben. Dafür brauchen wir Ihre Hilfe.

Der Friedhof hat zwar eine vollständige Registratur mit den Namen aller auf ihm bestatteter Menschen und manchmal mit Hinweisen zu Verwandten. Jedoch erzählen die Karteikarten nicht, was aus diesen Menschen geworden ist, wohin es Familien verschlagen hat, wer die

Menschen waren, deren Namen auf den Steinen stehen. Antworten darauf können uns nur die Angehörigen selbst geben.

Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie unser Vorhaben mit Ihren Erinnerungen, Hinweisen oder alten Aufnahmen unterstützen möchten. Wir sind dankbar für Geschichten Ihrer Familie oder von Freunden, die mit Weißensee verbunden sind. Unter der unten stehenden Anschrift können Sie mit uns in Kontakt treten.


Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum
Anna Fischer
Oranienburger Str. 28-30
10117 Berlin
Tel.: 49 30 88028472
E-Mail: afischer@cjudaicum.de