Besuch im Berliner Osten

Ich bin im Berliner Osten geboren und besuchte dort die Erste Städtische Studienanstalt in der Frankfurter Allee bis Ende Untertertia, dann noch ein Jahr die Lessler-Schule und eineinhalb Jahre die Goldschmidt-Schule am Roseneck; mit 16 Jahren bin ich alleine mit meiner Mutter nach Uruguay ausgewandert und muss gestehen, dass ich zwar eine gute Schülerin war, aber sonst noch sehr unreif. Die Emigration war für mich ein großes Abenteuer. Die Klugheit meiner Eltern und vielleicht auch Glück im Leben haben mir viel Leid erspart, in Uruguay konnte ich mich sehr schnell einleben, doch zuhause sprachen wir weiter Deutsch und meine Mutter führte mich behutsam in die kulturellen Werte ihrer Heimat ein. Eine abgeschlossene Schulausbildung erlangte ich nie, da ich sofort anfing zu arbeiten.
Mein Vater und Bruder kamen auch ein paar Jahre später nach Uruguay – ich könnte stundenlang erzählen, doch das wäre zu lang.
In Berlin war ich nur einmal wieder im Jahr 1957, um die Wiedergutmachung meiner Eltern ins Rollen zu bringen. Mein Aufenthalt dauerte weniger als 48 Stunden – mein Mann war damals in Düsseldorf und ich hatte ihm versprochen, nicht in den Osten zu fahren. Diese 48 Stunden waren voller Aufregungen, Erinnerungen und Staunen. Zuerst musste ich ein Telegramm in den Osten senden, um den Kontakt mit unserem früheren Geschäftsführer aufzunehmen. Ich stand wohl eine halbe Stunde in der Schlange und hörte mit größtem Vergnügen die Kommentare der wartenden Berliner an. Nur in Berlin gibt es solchen Mutterwitz, der ja auch einen Zille hervorbrachte!
Am nächsten Tag beim Rechtsanwalt kam ich zwei Stunden lang in ein Kreuzverhör, aber es ging alles gut aus. Am Abend ging ich in die Staatsoper und hörte „Idomeneo“ von Mozart. Ich war so verzaubert, dass ich nicht aufstehen wollte, als es zu Ende war! Am nächsten Tag sollte ich wieder nach Düsseldorf fliegen, hatte aber noch ein paar Sunden frei. Also stieg ich in ein Taxi und fuhr im Westen herum, um Erinnerungen aufzufrischen … bis der Chauffeur in lebhafter Unterhaltung feststellte, dass ich geborene Berlinerin war. Sofort bot er mir an, mich in die (frühere) Frankfurter Allee zu fahren, wo das Kaufhaus meiner Großeltern/Eltern einmal war (völlig ausgebombt). Ich erwähnte mein Versprechen, den Westen nicht zu verlassen, doch er versicherte mir, dass uns nichts passieren würde, und ich ließ mich überzeugen! Natürlich gab es Stunk mit den Volkspolizisten am Checkpoint Charlie; der wollte meine Papiere sehen, was kein Problem war, doch der Chauffeur war in seiner Ehre gekränkt und ich musste ihn beruhigen, was nicht leicht war. Ich zeigte meinen uruguayischen Pass, den sich der Volkspolizist ansah und uns dann durchließ.
Wir fuhren durch viele Straßen und Gegenden, die nicht wieder zu erkennen waren bis zum Friedhof „Weißensee“, wo ich das Grab meiner Großeltern fand. Dann wollte ich so schnell wie möglich nach Tempelhof. Wir fuhren an einen anderen Grenzübergang, doch man ließ uns nicht durch, weil ich keine Erlaubnis hatte, Ost-Berlin zu verlassen! Doch Ende gut, alles gut. Ich musste auf ein Ministerium fahren, dort einen Tarif bezahlen und bekam schließlich den erwünschten Stempel, und Tempelhof erreichten wir im allerletzten Moment! Zum Schluss noch zwei kurze Kommentare, die ich Leserbriefen entnahm: Wenn ich Deutschland besuchte, auch Berlin, fühlte ich mich als Uruguayerin, und hier bin ich nach 67 Jahren nach wie vor die Deutsche. Und nun noch ein Letztes: Auch für mich war es Heinrich Böll, der mich wieder mit Deutschland versöhnte!


Lisa Oppenheimer
Chiffre 106102